Frankfurter Allgemeine Zeitung - 07.11.2019

(Greg DeLong) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Staat und Recht DONNERSTAG, 7. NOVEMBER 2019·NR. 259·SEITE 7


A


lle Jahre wieder präsentiert
die europäische Flüchtlings-
politik ein Trauerspiel,
wenn in den Sommermona-
ten die Zugangszahlen stei-
gen. Dieses Jahr war die Situation beson-
ders vertrackt, denn es kamen deutlich we-
niger Menschen: Ungefähr neuntausend
Personen landeten bisher an der italieni-
schen Küste. Letztes Jahr waren es noch
dreimal so viele gewesen, in den Jahren zu-
vor deutlich mehr. Dennoch sind kaum
noch Mitgliedstaaten bereit, als Teil einer
„Koalition der Willigen“ freiwillig einige
Asylbewerber aufzunehmen, die von priva-
ten Schiffen gerettet wurden.
Ein Grund für dieses Politikversagen
war der italienische Innenminister Matteo
Salvini, der die Migration zur politischen
Mobilisierung nutzte. Mittels Hafenschlie-
ßungen und einer aufpeitschenden Spra-
che nährte er künstlich den Eindruck, es
herrsche eine Dauerkrise und es drohe ein
Kontrollverlust, obgleich tatsächlich nur
wenige Personen kommen. Doch auch die
deutsche Debatte blieb einseitig. Als zwi-
schenzeitlich eine deutsche Kapitänin in-
haftiert wurde, drangen plötzlich alle dar-
auf, die Häfen für private Rettungsschiffe
zu öffnen und die Asylbewerber solida-
risch in Europa zu verteilen. Das ist drin-
gend geboten, zur ehrlichen Analyse ge-
hört aber, dass ein alleiniger Fokus auf die
Seenotrettung zu kurz greift.
Während in Griechenland vor allem Sy-
rer und Afghanen ankommen, landen in
Italien und Spanien derzeit vor allem Per-
sonen ohne Schutzbedarf. Die wichtigsten
Herkunftsländer sind Tunesien, Marokko,
Mali, Guinea und die Elfenbeinküste. Die
Migrationsforschung spricht von „ge-
mischten Wanderungen“, welche die Poli-
tik vor einen Konflikt stellen. Sie will zum
einen verhindern, dass die Seenotrettung
zur faktischen Einwanderung von Men-
schen führt, deren Asylantrag abgelehnt
wird. Ausdrücklich fordern die europäi-
schen Verträge, dass die „illegale Einwan-
derung“ verhütet und „verstärkt be-
kämpft“ wird. Andererseits verlangen das
Völkerrecht und das europäische Asyl-
recht, dass Schiffbrüchige gerettet werden
und Flüchtlinge einen Asylstatus erhalten.
Matteo Salvini oder Viktor Orbán um-
gehen diesen Zielkonflikt, indem sie ein-
seitig die Häfen schließen, Grenzzäune er-
richten und die Menschenrechte nicht ein-
mal mehr pro forma hochhalten. Doch
auch Kapitänin Rackete machte es sich zu
einfach, als sie alle Schiffbrüchigen als
„Flüchtlinge“ bezeichnete, weil sie sich
vor Armut oder wegen des Klimawandels
auf den Weg nach Europa machten. Das
Recht sieht das anders. Die Anerken-
nungsquoten für die wichtigsten Her-
kunftsländer sind gering, und selbst der
UN-Migrationspakt trennt zwischen
Flüchtlingen und klimabedingter Migrati-
on, für die keine Aufnahmepflicht be-
steht. Die Politik ist daher gut beraten,
den Zielkonflikt ernst zu nehmen.
Ein Ausgleich wird nur gelingen, wenn
man weder die humanitäre Verantwor-
tung leugnet noch die Seenotrettung mora-
lisch verklärt. Ein beliebter Lösungsan-
satz besteht darin, das Problem auszula-
gern, indem man Lager in Nordafrika
baut, wo man sodann zwischen Personen
mit und ohne Schutzbedarf unterscheidet.
Rechtlich möglich wäre das durchaus, weil
ein „sicherer Ort“, an den man Schiffbrü-
chige nach dem Seevölkerrecht bringen
muss, nicht nur dort existiert, wo europäi-
sche Sozialstandards eingehalten werden.
Daher ist auch nicht abschließend geklärt,
ob die italienischen Hafenschließungen
rechtswidrig waren. Auch der Europäi-
sche Gerichtshof für Menschenrechte hat
entsprechende Eilanträge mehrfach zu-
rückgewiesen. Das Völkerrecht verpflich-
tet zur Seenotrettung, sagt aber nicht, wo-
hin die Menschen zu bringen sind.
Nun wären Asylzentren außerhalb Eu-
ropas an sich eine gute Idee, um das Pro-
blem gemischter Wanderungen zu bewäl-
tigen. Deshalb verständigten sich die

Staats- und Regierungschefs im Juni 2018
einmal darauf, südlich des Mittelmeers
„Ausschiffungsplattformen“ einzurich-
ten, um Flüchtlinge von dort mit dem
Flugzeug nach Europa zu fliegen und Per-
sonen ohne Schutzbedarf in die Heimat
zurückzuführen. Selbst das UN-Flücht-
lingshilfswerk (UNHCR) und die Interna-
tionale Organisation für Migration (IOM)
waren bereit, an der Initiative mitzuwir-
ken. Dennoch musste das Vorhaben schei-
tern, denn der Europäische Rat hatte die
Rechnung ohne den Wirt gemacht. Kein
Staat will den reichen Europäern aus der
Patsche zu helfen. In Nordafrika ist es
nicht anders als in der EU: Kein Land will
große Flüchtlingslager beherbergen. Das
Dilemma der Asylpolitik lässt sich nicht
auflösen, indem Brüssel, Berlin oder Pa-
ris den afrikanischen Ländern in neokolo-
nialer Manier vorschreiben, die Men-
schen aufzunehmen.
Eine nachhaltige Lösung muss daher
nicht nur den Zielkonflikt zwischen Kon-
trolle und Humanität auflösen, sondern
zugleich die vielfältigen Interessen der
Herkunfts-, Transit- und Zielstaaten be-
rücksichtigen. Es gibt Beispiele, die zei-
gen, dass ein solcher Ausgleich gelingen
kann – und zwar ausgerechnet in Libyen,
das in Deutschland derzeit nur als Quelle
immer neuer Schreckensnachrichten
wahrgenommen wird. Diese treffen durch-
aus zu. Dennoch blenden sie aus, dass

dort seit zwei Jahren verschiedene Projek-
te realisiert werden, die für eine Lösung
der Mittelmeer-Krise ebenso wichtig sind
wie die Seenotrettung, weil sie ebenso vie-
le Personen betreffen.

I


m Grundansatz verfolgen Hilfspro-
jekte in Libyen denselben Ansatz
wie die gescheiterten außereuro-
päischen Asylzentren: Einerseits
unterstützt die IOM zahlreiche
Personen ohne Schutzbedarf dabei, in die
Heimatländer zurückzukehren. In diesem
Jahr nahmen schon über 8000 Migranten
an der „Freiwilligen Humanitären Rück-
kehr“ teil, also beinahe so viele, wie nach
Italien übersetzen. Im Jahr zuvor waren
die Zahlen sogar höher. Andererseits be-
treibt das UNHCR ein Sammlungs- und
Ausreisezentrum für schutzbedürftige Per-
sonen. Beinahe 2000 Flüchtlinge wurden
von dort seit Januar in sichere Länder aus-
geflogen. Auch die Bundesrepublik hat in
diesem und im vergangenen Jahr 10 200
schutzbedürftigen Personen aus verschie-
denen Ländern ermöglicht, im Wege des
sogenannten „Resettlements“ legal mit
dem Flugzeug einzureisen. Es gibt für
Flüchtlinge und Migranten in Libyen also
durchaus Alternativen, anstatt in die Boo-
te der Schlepper zu steigen.
Auch abgesehen von der privaten See-
notrettung gibt es also Ansätze, die funk-
tionieren und die es auszuweiten gilt.

Wenn dann noch die Außen- und Verteidi-
gungspolitik es schaffte, den libyschen
Bürgerkrieg einzuhegen und in Syrien für
Sicherheit zu sorgen, wäre viel gewonnen.
Selbst wenn Seenotrettung allein nicht
die Lösung ist, kann eine europäische „Ko-
alition der Willigen“ politisch aber wichtig
sein. Sie würde nicht nur das Trauerspiel
beenden, das bei jedem Rettungsschiff
von neuem Aufnahmeländer gesucht wer-
den. Vor allem könnte ein freiwilliger Auf-
nahmemechanismus für Personen von pri-
vaten Rettungsschiffen eine positive Dyna-
mik entfalten. An sich sind derzeit näm-
lich die Küstenstaaten dafür zuständig, die
Asylanträge geretteter Personen zu bear-
beiten. Wenn nunmehr Deutschland oder
Frankreich vorübergehend den Selbstein-
tritt erklärten, würde das das Gefühl einer
Überforderung beseitigen und langsam
wieder Vertrauen aufbauen, um endlich
das Dublin-System zu reformieren. Eben-
das dürfte Innenminister Seehofer mit sei-
nem Vorschlag bezweckt haben. Dass die-
ser bislang keinen Erfolg hatte, zeigt, wie
schwer die Aufgabe ist.
Tatsächlich agieren Emmanuel Macron
und Horst Seehofer derzeit überaus ge-
schickt. Sie loben die privaten Rettungs-
schiffe, bieten großzügige Aufnahmekon-
tingente und sprechen mit Drittstaaten.
So viel Sanftmut zeigte der deutsche In-
nenminister zuvor nicht. Inhaltlich ach-
ten sie freilich sorgsam darauf, keine un-

kontrollierte Rettungsspirale in Gang zu
setzen. Von einer staatlichen Rettungsmis-
sion ist auf europäischer Ebene weiterhin
keine Rede, obgleich Nichtregierungsor-
ganisationen eine solche vehement for-
dern, weil private Schiffe immer nur punk-
tuell helfen können. Ursula von der Ley-
en beschwor vor dem Europäischen Parla-
ment zwar den moralischen Wert der See-
notrettung, versprach aber keinen EU-
Einsatz. Von der libyschen Küste waren
die Frontex-Boote schon vor zwei Jahren
abgezogen worden, nachdem sie dort frü-
her Zehntausende aufgenommen hatten.
Eine humanitäre Behelfsbrücke wünscht
die „Koalition der Willigen“ nicht zurück.
Stattdessen vereinbarte man erst kürz-
lich, die Projekte von UNHCR und IOM
in Libyen weiterhin zu unterstützen und
die libysche Küstenwache zu ertüchtigen,
die Seenotrettung selbst vorzunehmen.
Für die europäische Asylpolitik bietet
eine solche Kombination von Humanität
und Härte einen gangbaren Mittelweg –
solange man darauf achtet, dass die huma-
nitäre Hilfe weder ein Feigenblatt für eine
Abschottung darstellt noch umgekehrt
eine unkontrollierte Zuwanderung ermög-
licht. Dass selbst Parteifreunde Horst See-
hofer vehement kritisierten, liegt letztlich
daran, dass die öffentliche Diskussion ein-
seitig auf die Seenotrettung schaut. Dabei
gehört zum Gesamtansatz, dass man die
Situation in Libyen gemeinsam mit

UNHCR und IOM schrittweise verbessert
und von dort einen zügigen Rück- bezie-
hungsweise Weitertransport organisiert.
Die Politik sollte den Mut aufbringen, das
offener zu kommunizieren und notfalls
auch das Risiko einzugehen, den Men-
schen in libyschen Haftanstalten nicht
nur helfen – was sie schon heute tut –, son-
dern die Haftanstalten zu schließen und
die ungefähr 5000 dort lebenden Perso-
nen gemeinsam mit den Vereinten Natio-
nen nach internationalen Standards zu
versorgen. West- und nordafrikanische
Länder werden eher bereit sein zu koope-
rieren, wenn sie den Eindruck gewinnen,
dass es den Europäern um mehr geht, als
sich abzuschotten und die Verantwortung
auf andere abzuwälzen.
Doch es geht nicht nur um Signale.
Eine nachhaltige Lösung verlangt, aktiv
mit anderen Ländern zusammenzuarbei-
ten. Im Fall von Libyen funktioniert die
freiwillige Rückkehr von Personen ohne
Schutzbedarf deshalb reibungslos, weil
die Herkunftsländer ihre Landsleute vor
den libyschen Sklavenmärkten schützen
möchten. Andernorts muss die EU attrak-
tive Angebote unterbreiten, welche die In-
teressen der Partnerländer berücksichti-
gen, wenn sie auf deren Kooperation an-
gewiesen ist. Hierzu gehören Resettle-
mentplätze für Flüchtlinge ebenso wie le-
gale Einreisevisa für Azubis und Arbeits-
kräfte, damit die Heimatstaaten im Ge-
genzug abgelehnte Asylbewerber zurück-
nehmen. Ohne eine solche internationale
Einbettung würden auch die jüngsten
deutschen Vorschläge zur Dublin-Reform
scheitern, wonach abgelehnte Asylbewer-
ber von der europäischen Außengrenze
aus zurückgeführt werden sollen.
Man wünschte sich, dass die deutsche
und die europäische Politik auf Gesamtpa-
kete ebenso so viel Energie verwendeten
wie zuletzt auf die Seenotrettung. Ansons-
ten beginnt die Debatte von neuem, wenn
im nächsten Sommer die Zugangszahlen
wieder einmal steigen sollten.

Professor Dr. Daniel Thym ist Direktor des
Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht
an der Universität Konstanz.

Seit einigen Wochen kursiert der Entwurf
eines Verbandssanktionengesetzes (Ver-
SanG). Das Gesetz hatten die Regierungs-
parteien bereits im Koalitionsvertrag ange-
kündigt und den Inhalt ausgesprochen de-
tailliert beschrieben: Durch die Abkehr
vom Opportunitätsprinzip des bislang ein-
schlägigen Ordnungswidrigkeitenrechts
solle für eine einheitliche Rechtsanwen-
dung gesorgt werden und für Unterneh-
men mit mehr als 100 Millionen Euro Um-
satz eine umsatzbezogene Geldsanktion
greifen. Zudem sollten konkrete Sankti-
onszumessungskriterien, „weitere Sankti-
onsinstrumente“ sowie Regeln für interne
Untersuchungen geschaffen werden. Das
Bundesjustizministerium hat diese Vorga-
ben umgesetzt und näher ausbuchstabiert.
Dennoch ist die Kritik heftig, mitunter
polemisch. So wird dem Bundesjustizmi-
nisterium unterstellt, lediglich die Staats-
kasse füllen zu wollen, Unternehmen un-
ter „Generalverdacht“ zu stellen oder für
„Brutstätten von Kriminalität“ zu halten.
Dabei wird die große Mehrheit von Ver-
bänden nie auch nur in den Anwendungs-
bereich des Gesetzes gelangen. Denn Mit-
arbeiter begehen in aller Regel keine unter-
nehmensbezogenen Straftaten. Geschieht
dies doch, kann die Straftat dem Unterneh-
men nicht ohne weiteres zugerechnet wer-
den, sondern nur, wenn die Tat von einer
Leitungsperson begangen oder durch das
Fehlen von „Vorkehrungen zur Vermei-
dung von Straftaten“ erleichtert wurde. In

kleineren Einheiten sind diese Vorkehrun-
gen gleichbedeutend mit dem wachsamen
Blick des „Chefs“ oder der Anleitung
durch Vorarbeiter. Unternehmen mit ei-
ner Vielzahl von Mitarbeitern und komple-
xen Prozessen haben hingegen in den letz-
ten Jahren Compliance-Strukturen ge-
schaffen. Gleichwohl kommt es vor, dass
aus einem Unternehmen heraus Strafta-
ten begangen werden, die hätten verhin-
dert werden können. Auch ein solcher Fall
muss hingegen nicht zu einem Gerichts-
verfahren gegen das Unternehmen füh-
ren: Vielmehr sieht der Entwurf eine Viel-
zahl von Alternativen zur Sanktionierung
vor, etwa die Verwarnung des Verbandes
oder die Einstellung des Verfahrens, zum
Beispiel bei Bagatelltaten oder schweren
Folgen für den Verband.
Ebenso verfehlt wie eine Sanktionie-
rungspflicht wäre es jedoch, wenn das
Recht von vornherein auf die Möglichkeit
einer effektiven Sanktionierung verzichte-
te. Man muss Verbände nicht für „Brutstät-
ten von Kriminalität“ halten, um zu erken-
nen, dass die Unternehmenskultur und
der tone from the top Straftaten begünsti-
gen oder erschweren können. Jahrelange
Auslandsbestechungen in einigen großen
deutschen Unternehmen waren eben
nicht (nur) das Werk einzelner Mitarbei-
ter. Sie waren auch die Folge einer defizitä-
ren Aufsicht oder falscher Anreize, etwa
hoher Bonuszahlungen für die Erlangung
von Aufträgen in bekanntermaßen korrup-

tionsanfälligen Ländern. Damit Verbände
ein ernsthaftes Interesse daran haben,
Straftaten ihrer Mitarbeiter zu verhin-
dern, darf sich kriminelles Handeln wirt-
schaftlich nicht lohnen. Das gelingt nur,
wenn dem Verband in letzter Konsequenz
eine spürbare Sanktion droht.
Das geltende Ordnungswidrigkeiten-
recht ist dazu nicht in der Lage, da sein
Sanktionsrahmen – anders als die Men-
schen treffende Geldstrafe – nicht an die
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gekop-
pelt, sondern auf maximal 10 Millionen
Euro gedeckelt ist. Die hohen Zahlungen,
die etwa Siemens oder VW leisten muss-
ten, waren überwiegend keine Sanktionen,
sondern vor allem eine Rückzahlung erziel-
ter Gewinne. Zudem hängt die Frage, ob
ein Verband überhaupt sanktioniert wird,
nicht zuletzt davon ab, welche Staatsanwalt-
schaft für ihn zuständig ist. Denn nach dem
Ordnungswidrigkeitenrecht liegt es im Er-
messen der Staatsanwaltschaft, ob sie ge-
gen das Unternehmen vorgeht. Während ei-
nige Behörden (wie etwa München oder
Stuttgart) konsequent auch Verbände in
den Blick nehmen, verzichten andere auf
Verbandssanktionen. In einer von uns
durchgeführten Studie gaben 18 von 49 auf
Wirtschaftsstraftaten spezialisierte Staats-
anwaltschaften an, in den vergangenen
fünf Jahren kein einziges Ordnungswidrig-
keitsverfahren gegen Unternehmen ge-
führt zu haben. Das Ergebnis deckt sich mit
anderen Studien, die in den letzten Jahren

durchgeführt worden sind. Internationale
Institutionen wie die OECD-Arbeitsgrup-
pe für Auslandsbestechung haben Deutsch-
land denn auch wiederholt gemahnt, Ver-
bände effektiver zu sanktionieren.
Eine Neuregelung ist aber auch deshalb
überfällig, weil das geltende Recht auf eine
Vielzahl drängender Fragen keine Ant-
wort gibt. Dies betrifft nicht nur die Aus-
wirkungen von Compliance auf das Ob
und Wie der Sanktionierung. Auch den Ge-
samtkomplex „interne Untersuchungen“,
einschließlich der Frage nach der strafpro-
zessualen Verwertbarkeit der Ergebnisse,
regelt das geltende Recht nicht. Ursprüng-
lich sah dieses die Sanktionierung juristi-
scher Personen ohnehin nur als eine Ne-
benfolge der Verfolgung natürlicher Perso-
nen vor. Dementsprechend klein sind die
prozessuale Stellung und die Verteidi-
gungsrechte der juristischen Person gera-
ten. Wo das Gesetz schweigt, sucht sich die
Praxis eigene Wege, die oft individuell aus-
gehandelt werden. Häufig nützt dies je-
doch vor allem dem Beteiligten, der über
die größte Verhandlungsmacht beziehungs-
weise Durchsetzungsstärke verfügt.
Eine Neuregelung zu begrüßen heißt
nicht, sich der Kritik an einzelnen Regelun-
gen zu verschließen. Viele der in den letz-
ten Tagen in (sozialen) Medien geäußerten
Bedenken lassen sich dabei auf eine Grund-
frage zurückführen: Warum und zu wel-
chem Zweck sollen Verbände überhaupt
sanktioniert werden? Eine Antwort darauf

ist keineswegs nur von akademischem In-
teresse, sondern bestimmt die Binnenstruk-
tur des Gesetzes und die Ausgestaltung der
einzelnen Regeln. Das VerSanG äußert
sich dazu zwar nicht explizit. Jedoch fin-
den sich in der Begründung mehrere For-
mulierungen, die eine retributiv-strafrecht-
liche „Note“ aufweisen. So ist häufiger von
Ahndung und einer „angemessenen Reakti-
on auf Unternehmenskriminalität“ die
Rede, weniger von Spezialprävention und
einer nachhaltigen Änderung der Ver-
bandsstrukturen. Dementsprechend be-
greift der Entwurf interne Untersuchun-
gen in erster Linie als Mittel zur Effektivie-
rung der Strafverfolgung. Die Staatsanwalt-
schaft kann weitgehend alles beschlagnah-
men, was der Verband intern aufarbeiten
lässt – sogar dann, wenn sich die Unterla-
gen in einer Anwaltskanzlei befinden.
Alternativlos ist diese Sichtweise nicht,
haben interne Untersuchungen doch ei-
nen gesellschaftsrechtlichen Hintergrund:
Sie dienen Aufsichtsrat und Geschäftslei-
tung zur Aufklärung von (strukturellen)
Problemen und sind damit ein erstes Mit-
tel der Selbstreinigung. Ein Gesetz, das –
wie der Kölner Entwurf – auf Spezialprä-
vention, Selbstreinigung und Compliance
zielt, hätte diese Funktion berücksichti-
gen und ein weitergefasstes Beschlagnah-
me- und Verwertungsverbot für die Ergeb-
nisse interner Untersuchungen vorgese-
hen: Welches Unternehmen wird von sich
aus schonungslos nach Defiziten suchen

lassen, wenn die Ergebnisse jederzeit be-
schlagnahmt werden können?
Trotz einzelner Kritikpunkte: Die Neu-
regelung der Unternehmenssanktionie-
rung in einem eigenen Gesetz ist richtig
und letztlich alternativlos. Auch im inter-
nationalen Vergleich kann es sich Deutsch-
land nicht mehr leisten, sein überholtes
und schwaches Ordnungswidrigkeiten-
recht für Verbände beizubehalten. In der
Abstimmung zwischen den Ministerien
kann es daher nicht mehr um das „Ob“ ei-
nes Verbandssanktionengesetzes gehen,
sondern nur noch um seine Ausgestal-
tung. In den anstehenden parlamentari-
schen Diskussionen hat der Gesetzgeber
die Möglichkeit, sich noch einmal mit den
grundlegenden Zielen seines Vorhabens
auseinanderzusetzen. Soll das VerSanG
nicht nur dem Namen nach etwas anderes
sein als klassisches Strafrecht, sollte eine
spezialpräventive Besserung des Verban-
des im Vordergrund stehen. Berücksich-
tigt werden muss auch, dass die vorgesehe-
ne Pflicht zur Ermittlung gegen Verbände
für Staatsanwaltschaften und Gerichte er-
hebliche Mehrarbeit bedeutet.

Professor Dr. Elisa Hoven ist Inhaberin des Lehr-
stuhls für Strafrecht an der Universität Leipzig.

Professor Dr. Dr. h. c. Michael Kubiciel lehrt
Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht an
der Universität Augsburg und leitet eine dort
angesiedelte Forschungsstelle zum Unter-
nehmensstrafrecht.

Illustration Greser & Lenz


Eine kleine Revolution im Strafrecht


Die Kritik gegen das Verbandssanktionengesetz ist heftig, dabei muss Deutschland dringend strenger gegen Unternehmen vorgehen / Von Elisa Hoven und Michael Kubiciel


Rettung reicht nicht


Ohne internationale Einbettung werden auch die jüngsten deutschen


Vorschläge zur Dublin-Reform scheitern. Die Politik sollte auf


Gesamtpakete so viel Energie verwenden wie auf die Seenotrettung.


Von Daniel Thym

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