Neue Zürcher Zeitung - 25.10.2019

(vip2019) #1

Freitag, 25. Oktober 2019 SCHWEIZ 15


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Vor 50Jahrenerhielt Friedrich Dürrenmatt den Berner


Literaturpreis – das Preisgeld gab er gleichweiter SEITE 16


Angetrunken, zuschnell, zurisikofreudigamSteuer –


imBesserungskurs mit Verkehrssündern SEITE 17


Alle wollen dabei sein,vomFremdenfeind bis zum linkenBerufsrevolutionär: Atomkraftwerkgegner demonstrieren gegen das
AKW Kaiseraugst am18.Dezember 1976. KEYSTONE

Der lange Marsch nach links

Die turbulente Geschichte der grünen Wahlsieger offenbart einen unerwarteten Wandel


LUCIEN SCHERRER


SeineParolenkönnten an jeder Klima-
demo zu hören sein. «Hört auf, die Erde
zu ermorden!», so verkündet er, «es ist
fünf Minutenvor zwölf», und: «Ökologi-
sche Katastrophen mondialenAusmas-
ses sind zu erwarten.»Dagebe es nur
eines: «Es werde grün.» Doch so zeit-
geistig sich dieser Öko- und Apokalyp-
se-Sprech heute auch anhört – er ist rund
50 Jahre alt, und sein UrheberValentin
Oehen bewegte sich zeitlebens inreak-
tionären bisrechtsextremen Sphären.
In den1970erJahren ist Oehen Natio-
nalrat undParteipräsident der Nationa-
len Aktion gegen die Überfremdung
vonVolk und Heimat (NA). Zusammen
mit den «Republikanern» des Salon-
RechtsradikalenJamesSchwarzenbach
will dieNAnicht nur einen Grossteil der
Ausländer aus der Schweiz hinauskom-
plimentieren, sondern auch die Umwelt
retten. Als «Oehologe» verspottet, for-
dert Oehen unter anderem ein Ende des
Wachstumszwangs, einVerbot des ver-
bleiten Benzins, öffentlicheVerkehrs-
mittel zum Gratistarif, eine Einschrän-
kung des Privatverkehrs in den Städten
und einen Schutz derLandschaft vor
den Plänen derBau- und Betonlobby.


EinRechtsaussen gratuliert


Ohne den Zusatz, dass für den Schutz der
Umwelt auch die Zuwanderung und die
weltweite «Bevölkerungsexplosion» zu
stoppen sei, wäre dies das perfekte Pro-
gramm für einegrünePartei – die es da-
mals noch gar nicht gibt.Dass sich Oehen
selberals Grüner sieht, zeigt sich1980,als
deutsche Alternative,Ex-Kommunisten
und Ökologen aller Art (inklusiveeini-
ger Altnazis) in Karlsruhe die GrünePar-
tei gründen. In einem Glückwunschtele-
gramm an die Bundesgenossen schreibt
Oehen:«Mögen von dieserTagung wir-
kungsvolle Impulse ausstrahlen, um das
deutscheVolk von der existenzgefähr-
dendenBahn der materialistischenWohl-
standsgesellschaft wegzuführen.»
EinRechtsaussen, der sich mit Grü-
nen solidarisiert?Das wäre heute un-
denkbar,zumal sich die grünenParteien
klar links positionieren – einmal abge-
sehen von den Grünliberalen, die je-
doch nur entstanden sind, weil die 1983
gegründete GrünePartei der Schweiz
(GPS) in den letztenJahren immermehr
nach links abgedriftet ist. Heute unter-
scheiden sich dieVertreter der GPS bes-
tenfalls noch durch ihre höhere Demo-
«Street Credibility» von jenen der SP.
Dass «öko» dereinst mit «links» asso-
ziiertwürde, war jedoch bis in die1980er
Jahre genauso wenig absehbar wie die
Tatsache, dass die GPS dereinstAspira-
tionen auf einen Bundesratssitz anmel-
denkönnte.Vielmehr ist die Geschichte
der Schweizer Grünen geprägt von Zu-
fällen sowiekonkurrierenden Gruppen,
die sich wegen ideologischer Differen-
zen heftig befehdeten, zusammenrauf-
ten und wieder abspalteten.
«Der Umweltschutz», so stellte der
HistorikerPeter Hersche kürzlich in
der NZZ fest, «hat seineWurzeln nicht
bei Grünen.» Die ersten Umweltschüt-
zer der fortschrittsgläubigen Nach-
kriegszeit sind denn auchmeist bürger-
lich, antikommunistisch oderkonser-
vativ gesinnt; sie kämpfen gegen Stau-
seen,Wasserkraftwerke undLärm, wie
das längst vergessene «Aktionskomitee
gegen den Überschallknall» beweist.
Da die Schweizer Bevölkerung zwi-
schen1940 und1970 um rund 50 Pro-
zent wächst, wird der Schutz des «Kul-
turlandes» wie bei OehensNAoft ideo-
logisch überhöht und von fremdenfeind-
lichenTönen begleitet.
Doch die Umweltsünden der aufstre-
benden Industrie- undKonsumgesell-
schaft sind derart gravierend, dass sie


nicht nur fremdenfeindliche Kreise be-
schäftigen. So entsorgenFabriken ihre
toxischen Abfälle einfach auf der grü-
nenWiese oder in den Gewässern, und
noch Anfang der1970erJahre sind nur
etwa 30 Prozent der Haushalte an eine
Kanalisation angeschlossen. Die Luft-
verschmutzung ist ein weiteres Problem,
dazu fordert derAutoverkehr immer
mehrTote (allein1971 sind es1773),
und dass immer mehrBauern dank um-
gezonten und zubetoniertemKulturland
reich werden, freut auch nicht alle.
Die ersten explizit grünenGrup-
pen entstehen in der Schweiz auf loka-
ler Ebene. DieRomandie spielt dabei
eine führendeRolle:1971 formiert sich
in Neuenburg eine Umweltbewegung,
die sich gegen denBau derAutobahn
N5wehrt, vierJahre später folgt in der
Waadt das «Groupement pour la pro-
tection de l’environnement», das 1978
di e ersten grünenVertreterin einem
Schweizer Kantonsparlament stellt.
Mit von der Partie ist in dieser
Gruppe auchDaniel Brélaz, ein junger
Mathematiker und Atomkraftgegner,
der wie viele anderedurch dieWarnun-
gen des Club ofRome politisiert wor-
den ist. Als ihn dieWaadtländer 1979
in den Nationalrat wählen, ist das eine
europäische Premiere. Seine199 Rats-
kollegen betrachten ihn als sympathi-
sches, aber kaum nachhaltiges Phäno-
men. Heute, nach den letztenWahlen,
ist der mittlerweile 69-jährige Brélaz
nur noch einer von 28 GPS-Vertretern
im Nationalrat – und daneben gibt es
auch noch 16 Grünliberale.

Von Rot zu Grün


Auch wenn sie bereits fürAufsehen
sorgt, ist die grüne Bewegung in den
1970er Jahren noch weit von einer
schlagkräftigen Organisation entfernt.
«GrünePolitik war damals noch sehr
punktuell», sagt Brélaz heute, «es gab
Initiativen und Demonstrationen, alles
war sehr heterogen, und viele betrachte-
ten sichals weder links nochrechts. Der
Kampf gegen die Atomkraftwerke hat
dann auch Leute aus dem linksextremen
Spektrum angelockt.»
Tatsächlich beginnt die linkeVer-
einnahmung der Umweltbewegung mit
demWiderstand gegen das geplante
AKW Kaiseraugst.1975 wird das Ge-

lände von rund 15000 Demonstranten
besetzt, auchValentin Oehen und seine
nationalen Aktivisten sind dabei, aller-
dings werden sie von Linken angepöbelt
unddrangsaliert. Mittlerweile haben
nämlich auchkommunistische Grup-
pen wie die Progressiven Organisatio-
nen der Schweiz (Poch) oder dieRevo-
lutionäre Marxistische Liga (RML) er-
kannt, dass sich der Klassenkampf mit-
tels Einsatz für die Umwelt besser unter
die Leute bringen lässt:Von berufener
Seite in die «richtige»Richtunggelenkt,
sollen «Massenbewegungen» für die Ab-
schaffung des Kapitalismus und der bür-
gerlichen Demokratie sorgen.
DiePoch, die in mehreren Kan-
tonsparlamenten und ab1979 auch im
Nationalrat vertreten sind, entledigen
sich Ende der1970erJa hre sogar ihrer

marxistisch-leninistischen Grundsätze.
Obwohl sie bis weit in die1980erJahre
freundschaftlicheKontakte mit «sozia-
listischen» Diktaturen wieJugoslawien,
Nordkorea oder Libyen pflegen, geben
sie sich nun betont grün – was aller-
dingskeinWiderspruch ist. Denn die
Terroristenfinanciers Kim il Sung und
Muammar Ghadhafi werden auch von
deutschen Grünen wie Luise Rinser als
Ökopropheten verehrt, wobei sich Ope-
retten-Oberst Ghadhafi selber als An-
führer einer noch zu gründenden «grü-
nen Internationalen» betrachtet.
Poch-Exponent Beat Schneider, der
imReich Kimil Sungsauch schonauf
einem angeblich vom «grossenFührer»
persönlichkonstruiertenTr aktor posie-
ren durfte, schreibt1983: «Dasrote Ele-
ment muss grün werden, weil die Siche-
rung des Überlebens die Bedingung
ist, damit die alten Ziele erreicht wer-
denkönnen.Das grüne Element muss
rot werden, weil das Überleben nur ge-

sichert ist, wenn (...) die kapitalistische
Epoche ihr Ende findet.» Doch auch in
den bürgerlichenParteien sindFarb-
wechsel angesagt, etwa bei der Berne-
rin LeniRobert, die von denFreisinni-
gen über dieFreie Liste zu den Grünen
stösst, oder beiWalter Meier, der 1987
als ehemaligerSVPler in den National-
rat gewählt wird.Damit beackern nun
Altmarxisten,NA-Nationalisten, Wis-
senschafter und bürgerliche Natur-
freunde das Ökothema gleichermassen.
Dass der Aufbau einer nationa-
lenPartei trotz endlosen theoretischen
Debatten misslingt,erstaunt daher we-
nig:Während die linken «Melonengrü-
nen» (aussen grün, innenrot) mit der
Umweltzerstörung auch noch den Kapi-
talismusabschaffen wollen, nerven sich
die bürgerlichen «Gurkengrünen» (aus-
sen grün, innen grün) wieDaniel Brélaz
undLaurentRebeaud über die «alberne
Extremistenprosa» ihrer neuenBundes-
genossen.

«Panische Angst»


Sokommt es, dass die gemässigten Grü-
nen1983 dieFöderation der grünenPar-
teien gründen, die später in GPS um-
getauft wird und gemäss Statuten das
Li nks-rechts-Schema überwinden soll.
Die linken Grünen ausPoch, RML und
anderen Gruppen dagegenversuchen,
mit grünen Bündnissen und der Grünen
Alternative eine neue Linkspartei auf-
zubauen. Die GPS erweist sich jedoch
rasch als viel erfolgreicheres Produkt:
1983 erobert sie vier Sitze im National-
rat, 1987 sind es unter dem Eindruck der
Reaktorkatastrophe von Tschernobyl
gleich neun, dazu stellt sie 22 (!)Vertre-
ter im Zürcher Kantonsparlament.
DieFührungsriege der GPS ist dabei
sehr darauf bedacht, sich nicht nur frem-
denfeindliche Ökologen wieValentin
Oehen vom Leib zu halten, der nach sei-
nem Bruch mit der Nationalen Aktion
versucht,eine«Ökologisch-Freiheitliche
Partei» aufzubauen. Sie wehrt zunächst
auch alleVersuche derPoch und anderer
Altmarxisten ab, die GPS in derLinken
einzubinden. Der ehemaligePoch-Akti-
vist undPolitologeWerner Seitz mokiert
sich1990 über eine «fast panische Angst
vor den Linken». Dabei ordne sich die
GPS-Wählerschaft in Umfragen mehr-
heitlich klar links ein.

Dass da etwas dran ist, zeigt 1989
auch die Abstimmung über die Abschaf-
fung der Armee: DieBasis ist mehrheit-
lich dafür, aber die GPS-Leitung wagt
es nicht, dieJa-Parole zu fassen. Als die
Partei auch noch den «unökologischen»
EWR-Vertrag ablehnt, vergrault sie ihre
Wählerschaft noch mehr.Wahlnieder-
lagen folgen, gleichzeitig erhält die kri-
selndePartei in den1990erJahren mas-
siven Zulauf vonehemaligen Linksakti-
visten, dennPoch und RML lösen sich
auf, und derAufbau einer grünen Links-
partei auf nationaler Ebene gilt als ge-
scheitert. Nunwird die ehemals «bür-
gerliche» GPS zunehmend von Leuten
wie Louis Schelbert, Cécile Bühlmann,
DanielVischer, Peter Niggli, Geri Mül-
ler oder der heutigenParteipräsidentin
RegulaRytz geprägt.
Die Grünen, so moniert der spätere
grüne BernerRegierungsrat Bernhard
Pulver 2003, seien «viel zu stark auf
die gewerkschaftlich orientierte Links-
aussen-Position fixiert».Das ist denn
auch einer der Gründe,warumMartin
Bäumle undVerena Diener die GPS
verlassen, um die GrünliberalePartei
zu gründen. «Die Abspaltung der GLP
war ein Glücksfall», sagt der ehemalige
RML-Aktivist und grüne NationalratJo
Lang. «Statt eine zerrüttete Ehe gibt es
jetzt zwei Haushalte, die punktuell zu-
sammenarbeiten.»
Ironie der Geschichte: De facto ist
die GPS heute genau jene grüne Links-
partei,die Alternativeund Altmarxisten
in den1980erJahren aufbauen wollten.
Grüne à laValentin Oehen, die Ökolo-
gie mit der Einwanderungs- und Bevöl-
kerungsfrage verknüpfen, sind dagegen
bis heute meist heimatlos oder geäch-
teteFiguren: Die sogenannte Ecopop-
Initiative («Stopp der Überbevölke-
rung») wurde zwar von einigen Grünen
lanciert, aber von GPS und GLP hef-
tig bekämpft, oft auch mit Anspielun-
gen auf die Nazizeit. Ihr geistigerVater
Valentin Oehen tritt heute tatsächlich
anVersammlungen derrechtsextremen
Partei National Orientierter Schweizer
auf; gleichzeitig klagt er, die Grünlibe-
ralen hätten seine Ideen geklaut.
SeinSohn Guidodagegenist Mit-
glied derTessiner Grünen, die 20 14 zum
grossen Ärger der Mutterpartei dieJa-
Parole zur Masseneinwanderungsinitia-
tive beschlossen haben. «Die Bevölke-
rungsexplosion», so sagt er der NZZ, «ist
zu weit fortgeschritten,als dass es sich
noch lohnt, dagegen zu kämpfen.» Nun
hoffe er aber, dass die vielen Grünen im
Parlament etwas für die Umwelt bewir-
ken könnten.

Die ersten Umwelt-
schützer der
Nachkriegszeit sind
meist bürgerlich, anti-
kommunistisch oder
konservativ gesinnt.

Samantha Ritz
LeiterinBroker-
kanalmanagement
zum selbstbestimmten
Leben

«Ist es nicht besser,


früher an später


zu denken?»

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