Freitag, 25. Oktober 2019 FEUILLETON 39
Die Politik hat Instagram für sich entdeckt –
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Symboltiere unserer Kulturgeschichte vergessen SEITE 41
Tote leben in den Geschichten fort
Eduardo Halfon schreibt über ein totes Kind, das die Lebenden weit über se inen Tod hinaus in Atem hält
ROMAN BUCHELI
So sind dieToten, sie gebenkeine Ruhe.
Gleichgültig, ob sie jung oder alt ge-
storben sind, ob sie mit Gewalt zuTode
kamen oder einfach entschliefen. Sie
sind weg, unter der Erde oder verschol-
len. Und bleiben dennoch mitten unter
den Lebenden, die von ihnen nicht los-
kommen.Weil der Phantomschmerz in
jedemKörperteil pulsiert und denVer-
lust für immer ins Bewusstsein brennt.
Und vielleicht halten sich dieVer-
storbenen umso hartnäckiger und auch
quälender in Erinnerung, je nachhalti-
ger man sie aus dem Gedächtnis zu lö-
schen versucht.Dann geistern sie wie
Untote durch dieTage und Nächte der
Lebenden und suchen sie heim mit ihren
Geschichten. Denn sie leben fort, auch
wenn sie es mit dem Gesicht einesFünf-
oder Sechzigjährigen tun, da sie nicht
mehr älter werden und bleiben, was
sie waren, als sie starben. Nur ihre Ge-
schichten wandelnsich.
Der in Guatemala geborene und
seit früherJugend in den USAlebende
Schriftsteller Eduardo Halfon ist ein
Magier derTotengeschichten. DieVer-
storbenen mit ihren Geschichten lassen
ihn nicht los. Jene des polnischen Gross-
onkels, der im Ghetto von Lodz ver-
hungert war. Oder die Geschichte des
Grossvaters mütterlicherseits, der das
KZ überlebt hatte und1946 nach Gua-
temala gelangte. Oder jene des libane-
sischen Grossvaters väterlicherseits, der
immer geflogen war, seit er Beirut 1919
als Sechzehnjähriger mit seinerFamilie
verlassen hatte, nachFrankreich zuerst,
dann nach NewYork, schliesslichnach
Lateinamerika. Immer sei er geflogen,
bis zuletzt, da er vor einen Zug fiel und
durch die Luft geschleudert worden sei.Die Galerie derToten
Wir begegnen diesenFiguren wiederholt
in HalfonsWerk, sei es in demRoman
«Der polnische Boxer» (dt.2014, im Ori-
ginal 2008) oder in den Erzählungen in
«Signor Hoffman» (dt. 2016).Als würde
er in jedem seiner Bücher eine Art ima-
ginäre Ahnengalerie versammeln und
als wäre jedes Buch ein heiteres wie zu-
gleich ernstes, aber stets bestürzend ge-
nauesRequiem für dieVerstorbenen.
Seit den Anfängen ist das Geschich-
tenerzählen einRitual desToten geden-
kens, und ein guter Geschichtenerzäh-
ler ist darum ein Schamane am Grab der
Verstorbenen und am Bett der Leben-
den: Er hält diese am Leben,indem er
ihnen in denTraumschlaf hinein von den
Toten erzählt.Es wer den die immer glei-
chen Geschichten sein, und doch wer-
den sie immer anders erzählt.Denn ihre
Wahrheit liegt nicht beim Erzähler, son-
dern im Ohr der Zuhörer.
Halfons neuerRoman kreist um ein
totes Kind.Fünfjährig war der ältere
Bruder seinesVaters, als das kranke
Kind fern von derFamilie in einem
NewYorker Krankenhaus starb. Salo-
mon hiess der Knabe, wie fast alle seine
Vorfahren,von dessenVater bis zu allen
Gross- und Urgrossvätern. Alle hiessen
sie Salomon.Nach ihmkeiner mehr.
Niemand spricht über das Kind,nur im
Gebet anJom Kippur wird sein Name
geflüstert.Und einmal erlebt der Erzäh-
ler einen heftigen Streit darüber, wer
schuld amTod des Kindes gewesen sei.
Zwar hat der Erzähler alsJugend-
licher schon vom Vater erfahren, wie
dessen Bruder1940 gestorben sei, den-
noch glaubt er auch als Erwachsener
noch, was ihm als Kind, wer weiss von
wem und warum, gesagt worden war:Der kleine Salomon sei in dem See beim
Landhaus der Grosseltern ertrunken
und seine Leiche nie gefunden worden.
Sooft er also im Haus der Grosseltern
zu Besuch gewesen sei und im See ge-
badet habe, sei das Bild des ertrunkenen
Kindes vor seinenAugen gestanden und
habe er sich davor gefürchtet, dieLei-
che könnte unvermittelt aus demWasser
auftauchen.Dagegen hat er sich gar ein
Gebet ersonnen, das er jeweils auf dem
Steg sprach, ehe er in den See sprang.
AuchwennallesandieserGeschichte
falsch war, so hatte sie doch ihre eigene
Wahrheit. Und sei es auch nur die, dass
in dem See, wie der Erzähler erfährt,
eine ganzeReihe von Kindern ertrun-
ken ist, nurkeines,das Salomon hiess.
Aber Salomon ist wiederum nur einer
von vielenToten in dieserväterlicher-
seits aus Libanon und mütterlicherseits
ausPolenstammendenFamilie.Je osten-
tativer die Erwachsenen die Geschich-
ten ihrer verstorbenenAngehörigen be-
schweigen, umso heftiger bedrängen sie
denErzähler.Ersuchtdarumnichtallein
den See noch einmal auf, er geht auch
nachPolen,nach Lodz und ins KZ Sach-
senhausen, um da nach Spuren seiner er-
mordeten Angehörigen zu fahnden.Die Wahrheitder Träume
Welche Geschichte ist wahrer?Jene, die
er in denRegistraturen der KZ-Verwal-
tung findet? Oder jene, die ihm der pol-
nische Grossvater andeutet,indem er sie
verschweigt?Vielleicht braucht er bei-
des, das Verschwiegene wie das Akten-
kundige,die Geschichte vom ertrunke-
nen wie jenedes auf denTod kranken
Kindes, weil sie je auf ihre eigeneWeise
eine Wahrheit offenbaren, die nie die
ganze sein kann.Weil es das Ganze des
Erinnerns nicht mehr gibt.
Wenn es denn eine Magie des Erzäh-
lens gibt, dann müsste sie so beschaffen
sein, dass sie aus den Bruchstücken des
Gedächtnisses und der Imagination eineIdee vom Ganzen wieder erstehen las-
sen könnte.Sie würde es nicht als das
Unversehrte heraufrufen, vielmehr ge-
rade als ein für immer Beschädigtes.
Vielleicht ist darum das imaginierte Bild
vom ertrunkenen Kind das traumwahre
Kehrbild jenes im NewYorker Kranken-
haus verstorbenen und in einem unbe-
kannten Grab bestatteten Kindes, was
doch vollkommen jenseits jederkonkre-
ten Anschauung liegt.
Die grosse Erzählkunst des Edu-
ardo Halfon wiederum liegt darin, ins
Zentrum dieses schmalenRomans ein
stummes, totes Kind zu stellen, das zum
Angelpunkt der grossen wie der kleinen
Geschichte wird.ImTod des Kindes und
in d er Frage, wie es gestorben ist, spie-
geln sich die vielenanderenToten sei-
ner Familie, deren Geschichte wiederum
an ein schreckliches Kapitel derWelt-
geschichte gebunden ist. So hängt hier
alles zusammen, und Halfon lässt alles
schroff aufeinandertreffen: das Kleine
und das Grosse, seinen Hunger als
Jugendlicher beimFasten anJom Kip-
pur («Ich starb fast vor Hunger»), das
Gebiss des Grossvaters auf dem Nacht-
tischchen und den Hungertod des Gross-
onkels im Ghetto von Lodz.DerAmatitlán-SeeinGuatemala ist einer der Schauplätzevon Eduardo HalfonsRoman. MAURITIUS
LESEZEICHEN
Eduardo Halfon: Duell.
Roman.Aus dem Spanischenvon LuisRuby.
Hanser-Verlag, München 2019. 110S.,
Fr. 27.90.TAG DES LESENS
Im Rahmen des Buchfestivals «Zürich
liest» lädt die NZZ zumLesetag.
In sechsVeranstaltungen diskutieren
unsereRedaktoren mitverschiedenen
Autoren – und über neue Bücher:
Das «LiterarischeTerzett» nimmt
wichtige Neuerscheinungen in den Blick,
zu Gast ist der Literaturprofessor
PhilippTheisohn.
27.Oktober 2019, Kosmos Zürich
Programm undTickets:
nzz.ch/tagdeslesensJeder Morgen ist
eine neueGeburt
Wer liegen bl eibt, gilt als
willen sschwach. Wie falsch!DANIELE MUSCIONICOEs geschieht in derDämmerung. Die
ersten Geländewagen testen ihreMoto-
renstärke, die Laubbläser stellen sich auf
zur morgendlichenVorführung, Schul-
kinder lachen grundlos – und man selbst
ist noch weit weg. Die Ohren allerdings
sind scharf gestellt,und die Nase schnüf-
felt bereits eigenmächtig nach den Spu-
ren von Zuversicht.Kein Kaffeeduft,
nein?Auch gut. Man lässt sich wieder
fallen und schläft noch einmal hinüber.
Das Leben der anderen wird zur Ge-
räuschkulisse des letztenTraums.
Im Zug ertappt werden ohne gül-
tige Fahrkarte. Im Auto überraschtwer-
den von einer Polizeikontrolle: «Liebe
Dame, sind Sie sicher, dass Sie in Ihrem
Zustand fahren dürfen?» In der Chef-
etage sich verlaufen und denAusgang
nicht wiederfinden.Dann zu schüchtern
sein, um ohneAufforderung an einer
Türe zu klopfen.Blinder Passagier
Die Zeit vor dem Schrillen desWeckers
ist ein Gedankenfreiraum. Doch über
den letztenTraum,die letztenBilderund
Stimmungen vor demAufwachen haben
unse re Gedanken offenbarkeine Kon-
trolle. Sie bastelnaus gestrigen Ängs-
ten und heutigen Erwartungen an den
Tag ihre eigeneRealität. Kann so der
Morgen beginnen? So düster soll nicht
Neues entstehen.Noch einmal tief in das
Kissen gehorcht also und denKörper in
die ganzeLänge gedehnt.
Und so liegt man gemeinsam unter
einer Decke, das Geträumte und man
selber. Fühlt es sich gut an? Nein. Die
Nähe zum eigenen Schatten führt nicht
in denTag. Weg mit dir,Traum, der du
ungebeten eingestiegen bist,zugestiegen
im Laufe des Morgens wie ein blinder
Passagier. Ist es denn nicht sonderbar?
Abends geht man alleine zu Bett, und
morgens wacht man auf – und findet sich
wieder in schlechterGesellschaft. Mein
Nachtgesicht ist mir unheimlich.
Eine halbe Stunde und drei Snooze-
Phasen desWeckers später ist dieLage
unverändert. Man hat sich nicht vom
Fleck gerührt. Schulkinder werden be-
reits ihreersten Prüfungengeschrieben
haben,Laubbläser ganze Strassenzüge
um denVerstand gebracht, doch man
selbst kannsich nicht rühren.
Oder will man nicht?Will man nicht
dazugehören?Das Gefühl für die Zeit
verschwimmt,und vor demFenster ist es
noch immerkeine Spur von hell. Es soll
in der SchweizTalschaften geben,wo im
Winter die Sonne nie über die Spitze der
Berge klettert. DerTag ist stets eine an-
dere Form von Nacht. Ich stelle mir das
Leben dort höllisch vor.GutenMorgen, Zwischenhirn
Das morgendlicheAufwachen gleicht
einer Geburt. Wer wann zur Welt
kommt, bestimmt man nicht selber.
Berner Neurowissenschafter haben ent-
deckt, dass für dasWachwerden Nerven-
zellen imThalamus verantwortlich sind.
Aber was kann ich für mein Zwischen-
hirn, wenn es einLangschläfer ist?
WermitElanundeinemLachenimGe-
sicht aus dem Bett hüpft und demTag um
den Hals fällt, hat Glück. Man traut ihm
beruflichen Erfolg zu,erwartet von ihm
sozialenAufstieg und mag ihn belohnen
mit denFrüchten einer Karriere.Wer hin-
gegen das emotionale Morgentiefkennt,
macht dieses Defizit auch tagsüber kaum
wett. Er hat zudem dasPech, dass er als
Faulenzer und disziplinlose Kreatur gilt.
DochesgibteineLösung:Wirbleiben
mor gen gelassen im Bett, während der
Frühaufsteher den Lorbeer einheimsen
soll. Erst in derWillensstärke, sich der
erfolgreichen Mehrheit zu widersetzen,
zeigt sich die starkePersönlichkeit.