Neue Zürcher Zeitung - 25.10.2019

(vip2019) #1

FORSCHUNGUND TECHNIK Freitag, 25. Oktober 2019


DasHirn kommt nie zur Ruhe.Wenn wir nur unserenGedanken nachhängen, fallen die neuronalenWellen aber langsam aus. SIMONTANNER /NZZ

«Raum und Zeit si nd


ganz wesentli che


Merkmale des


Bewusstseins und


auch des Gehirns.»


«Ohne Interaktion

gibt es kein Bewusstsein»

Georg Northoff behandeltpsychisch krankeMenschen und hat eineTheorie des Bewusstseins


entwickelt. Wie diesedie Therapieverändernkönnte, erklärt erimInterviewmit LenaStallmach.


Herr Northoff, ein Forscher hat kürzlich
an einerFachkonferenz in Interlaken er-
klärt:«T heorien über dasBewusstsein
sind wie Zahnbürsten.Jeder hat eine,
und keiner will diejenige des anderen
verwenden.»Was halten Sie von diesem
Vergleich?
Das spiegelt sehr gut den Stand unseres
Wissens:Wir wissen nicht, was Bewusst-
sein ist.Wir können es nicht definieren,
wir kennen die neuronalen Mechanis-
men dahinter nicht, und es fehlen uns
die Messinstrumente. Das zeigt, dass die
Neurowissenschaft in einem sehr frü-
hen Stadium ist, wie ein kleines Kind,
das laufen lernt und umfällt, wieder auf-
steht und weiter probiert.


Auch Sie haben Ihre eigene Theorie des
Bewusstseins entwickelt.
Ja,natürlich. Ich bin Philosoph, Psych-
iater und Neurowissenschafter. Ich
bringe deshalb verschiedene Einflüsse
und Herangehensweisen in meinen An-
satz ein:Konzepte aus der Philosophie
bei der Definition vonBewusstsein,
verschiedene neurowissenschaftliche
Modelle, und aus der Psychiatrie treiben
mich diePhänomene um, die man sieht,
wenn das Bewusstsein verändert ist.


Was macht Ihre Theorie aus?
Für mich sindRaum und Zeit ganz
wesentliche Merkmale des Bewusst-
seins und auch des Gehirns.Aber wenn
ich vonRaum und Zeit spreche, meine
ich nicht die Zeitpunkte, die wir wahr-
nehmen und messen. Sondern ich meine
die Konstruktion oder besser gesagt die
Dynamik vonRaum und Zeit, die auch
die Physiker meinen, wenn sie dynami-
scheSysteme beschreiben.Das Gehirn
konstruiert seinen eigenenräumlichen
und zeitlichen Massstab. Laut meiner
Theorie ist die Dynamik vonräumlich-
zeitlichen Eigenschaften sowohl im Ge-
hirn als auch im Bewusstsein manifest
und kann so in die eine oder andere
Form transformiert werden.


Die Sprache der Nervenzellen wird also
in die erfahrbare Form der Gedanken
üb ertragen, und diezeitlich-räumliche
Dynamik ist die gemeinsameWährung,
so beschreiben Sie es in einer Publika-
tion.Können Sie das genauer erklären?
Nehmen Sie alsVergleich dieWeltwirt-
schaft:Da haben vieleLänder unter-
schiedlicheWährungen, zum Beispiel
die Schweiz denFranken und Kanada
den kanadischen Dollar. Wenn die bei-
den Länder miteinander handeln wol-
len, brauchen sie eine Referenz, eine
«common currency», um die beiden
Währungen miteinander zu verrechnen.
Das ist der US-Dollar im heutigenWelt-
wirtschaftssystem. Und genauso ist die
räumlich-zeitliche Dynamik die gemein-
sameWährung für das Gehirn und das
erlebte Bewusstsein.


Sie sehen neuronale und mentale Pro-
zesse also als zweiWährungen,die inein-
ander überführtwerden können?Da ma-
chen Sie es sichaber leicht im Vergleich
zu anderenBewusstseinsforschern.Viele
sehen esals ein grundlegendes Problem,
dass physische und mentale Prozesse
zwei komplett verschiedene Phänomene
sind, die man nicht einfach ineinander
überführen kann.
Das ist eine gute Anmerkung, die ich
sehr schätze. Der Hintergrund der
anderenTheorien ist, dass Bewusstsein
als etwas sehr Spezielles gesehen wird.
Das kann auf die Philosophie zurück-
geführt werden und ultimativ aufRené
Descartes. Dieser hielt Bewusstsein für
grundsätzlich verschieden vom Kör-
per, er nahm eine separate Substanz an:
den Geist.Das ist das berühmte Geist-
Körper-Problem.Viele der gegenwärti-


gen Bewusstseinstheorien stehenindie-
ser Tradition. Sie gehen zwar nicht von
einer separaten Substanz aus, aber von
einem separaten Prozess im Gehirn,
der nur für das Bewusstsein zuständig
ist und der sich unterscheidet von allen
anderen Prozessenim Gehirn, die nicht
für das Bewusstsein zuständig sind. Man
kannalso durchaus von einemneurona-
len Kartesianismussprechen. In meiner
Theorie versuche ich, diesenDualismus
im Gehirn aufzulösen. Ich schaue mir
die Gemeinsamkeiten an und gehe da-
bei noch einen Schritt weiter zurück: Ich
machedas nichtan neuronalen Eigen-
schaften fest, sondern anräumlich-zeit-
lichen Eigenschaften, die dieTransfor-
mation von physischen in mentaleAkti-
vitäten produzieren.

Und wie sieht dieräumlich-zeitliche
Dynamik im Gehirn aus?
Die Hirnaktivität ist nie inRuhe, auch
wenn wir nur unseren Gedanken nach-
hängen. Die Fluktuation kann sehr
schnell oder langsam sein, man spricht
von verschiedenen Frequenzen. Mil-
lionen von Nervenzellen produzieren
schnellere und langsamereFrequenzen
über das Gehirn verteilt. Die langsamen
Frequenzen haben viel Kraft – wie etwa
grosseWellen auf dem Meer im Gegen-
satz zu kleineren, schnellenWellen, die
weniger Kraft haben. DieWellen stehen
in einer Beziehung zueinander und das
führt zurKonstruktion einerräumlich-
zeitlichen Struktur.

Sie haben gezeigt, dass diese Struktur
mit mentalen Prozessen korreliert.
Ja, bestimmteVariablen derräumlich-
zeitlichen Struktur korrelieren zum
Beispiel mit unserem Selbstbewusst-
sein (Anm. derRed.: Gemeint ist hier
nicht die Selbstsicherheit, sondern das
Bewusstsein für die eigenePerson, also
wenn man über sich selbst nachdenkt).
Wenn Menschen viele starke und lang-
sameWellen haben, dann haben sie ein
stärkeres Bewusstsein ihrer selbst als
andere Menschen, die wenige langsame
Wellen und mehr schnelleWellen haben.

Das haben Sie bei Probanden gemes-
sen, die im Ruhezustandwaren, also
mit geschlossenenAugen ihren Gedan-
ken nachhingen.
Genau, wir haben uns dabei auf Hirn-
regionenkonzentriert, die in der Mitte
der Hirnrinde liegen,wo die Informatio-
nen aus dem Gehirn zusammenlaufen.
Diese mittlerenRegionen sindbekannt
dafür, dass sie aktiv werden, wenn man
sich nach innen wendet.Wir konnten
zeigen, dass die zeitliche Struktur zwi-
schen den schnellen und langsamen
Wellen ganz zentral ist für das Selbst-
bewusstsein.

Mit der Struktur meinen Sie dieRela-
tion zwischen langsamen und schnellen
Wellen?
Genau, die Struktur ist dieRelation.
Das ist wichtig, denn das Ich-Gefühl
operiert über verschiedene Zeitskalen
hinweg, und je mehr diese neuronalen
Wellen miteinander verknüpft sind und
in einer Beziehung zueinander stehen,
desto stärker ist das Bewusstsein für
die eigenePerson.Das zeigen unsere
Ergebnisse.

Aber die Messungwar eine Momentauf-
nahme.Das Selbstbewusstsein haben Sie
dagegen mit einemFragebogen erfasst,
der eine generelleTendenz erfragt, wie
zentral dieBeschäftigung mit der eige-
nenPerson im Leben der Probanden
ist, oder?
Das stimmt, das ist ein guter Einwand.
Es ist eine Momentaufnahme, und natür-
lich ist diese Beziehung zwischen den
schnellen und langsamenWellen nicht
in Stein gemeisselt. Sie verändert sich
über das Leben hinweg und in Abhän-
gigkeit von der Umwelt.Wenn Sie ein
Trauma erleben, dann kann das einen
Einfluss haben.Wir konnten zum Bei-
spiel zeigen, dass Menschen, die in der
KindheitTraumatisches erlebt haben,
später im Leben mehr schnelleWellen
und mehr Unordnung, also mehr En-
tropie, in der Struktur aufweisen. Die
räumlich-zeitliche Strukturist nichtein-
fach im Gehirn verankert, sondern sie
reflektiert die Interaktion mit der Um-
welt und die Erfahrung einerPerson,
die ganze Lebensgeschichte. Ohne Inter-
aktion gibt es auchkein Bewusstsein.

Undwas heisst das letztlich für die
Psychiatrie?
Die grundlegende Idee meinerTheorie
ist, dass dieräumlich-zeitlichen Eigen-
schaften ihres Gehirns umschlagen in
korrespondierende räumlich-zeitliche
Erlebensweisen des Bewusstseins. Neh-
men wir al s Beispiel Menschen mit einer
bipolaren Störung. Diese haben abwech-
selnd depressive und manische Phasen.
Viele depressive Menschen empfinden
sich als zu langsam. Sie beklagen sich,
dass sie kaum auf neue Gedanken kom-
men und die Zeit stehenbleibt. In einer
manischen Phase ist es genau umge-
kehrt, sie denken undreagieren extrem
schnell, dieWelt kommt ihnen zu lang-
sam vor.Wir haben gesehen, dass bei de-
pressiven Menschen die neuronale Akti-
vität in diesen mittlerenRegionen der
Hirnrinde auch zu langsam war.

Inwiefern?
Da findetkeine Veränderung in der
Aktivität statt, es gibtkeine Dynamik.
Bei manischenPatientenhaben wir das
Gegenteil gesehen, die Dynamik in den
Netzwerken war hier zu schnell imVer-
gleich zur äusserenWelt. Zu uns kam
einmal eine junge depressivePatientin
mit ihrer Mutter. Sie sagtekein Wort.
Später erzählte sie mir,dass sie das
Gefühl hatte, dass ihre Mutter extrem
schnell sprach,viel zuschnell für sie.Tat-
sächlich haben wir bei dieserFrau ge-

sehen, dass die Hirnaktivitätim Ruhe-
zustand sehr langsam war.

Kann man das vergleichen mit dem Zu-
stand,wenn man müde ist und allesum
sich herum als zu schnell empfindet?
In gewisserWeise schon.Je wacher und
präsenter man ist,desto schneller ist
die Hirnaktivität.Wenn man einschläft,
verschieben sich dieFrequenzen von
schnellen zu langsamenWellen, irgend-
wann verliert man das Bewusstsein. De-
pressive Menschen sind natürlich nicht
wie im Schlaf, sie sind bei Bewusstsein,
aber ihre Gedanken kreisen immer um
den gleichen Inhalt, es verändert sich
nichts. Bei manischenPersonen ist esge-
nau umgekehrt. Sie sind zu schnell für
die äussereWelt.

Und wie kommt es dazu?
Warum dieseRaum-Zeit-Dynamik ver-
schoben ist, wissen wir nicht.Wahr-
scheinlich stecken biochemischeFakto-
ren dahinter, bestimmte Botenstoffe, die
für die Hemmungoder die Anregung
von Nervenzellen zuständig sind und
aus dem Gleichgewicht geraten sind.

Aber auch ein zelne Erlebnisse oder
Lebensbedingungen können diese
räumlich-zeitliche Struktur im Gehirn
verändern?
Genau, das ist ja das Zentrale an der
Theorie, dass die räumlich-zeitliche
Struktur im Gehirn sehr sensitiv auf äus-
sere Einflüssereagiert.Das sieht man
auch bei psychischen Krankheiten, zum
Beispielkönnen Depressionen durch
persönlich bedeutsame Erlebnisse aus-
gelöst werden.

Undwas bedeutet das für Ihre Arbeit als
Ps ychiater?
Wir sehen dieSymptome derPatienten
als räumlich-zeitliche Phänomene. Die
Hoffnung ist, dass wir aufgrund dessen
auch bessereTherapien entwickelnkön-
nen. Bei manisch-depressivenPatienten
versuchen wir zum Beispiel, die indivi-
duellenAbweichungen inder räumlich-
zeitlichen Struktur zu identifizieren.Wir
schauen, welcheFrequenzen zu stark
oder zu schwach vertreten sind, und ver-
suchen dann darauf Einfluss zu nehmen,
beispielsweise mit Musik.Wir haben be-
obachtet:Wenn wir einem sehr langsa-
men Gehirn sehr schnelle Musik prä-
sentieren, dann kann diePerson nichts
damit anfangen. Aber wenn wir die
Musik etwas schneller präsentieren als
das Tempo im Gehirn, dannkönnen wir
das neuronaleTempo mit der Zeit viel-
leicht etwas beschleunigen.Diese Hypo-
these prüfen wir gerade in einer laufen-
den Studie.

Das klingt nach einer sehr sanften
Methode der Hirnstimulation. Interes-
sieren Sie sich auch für andere Metho-
den der Neurostimulation? In diesem
Gebietläuft derzeit javiel.
Ja, das stimmt.Wir führen in Ottawa
auch eine Studie mitder transkraniellen
Magnetstimulation durch: Bei depressi-
ven Patienten versuchen wir aufgrund
ihres individuellen Powerspektrums,
also derKombination aus schnellen
und langsamenWellen, einzelneWellen
zu verstärken oder zu schwächen.Wenn
ein Patient zum Beispiel im Bereich von
5 Hertz zu wenigPower hat, dann ver-
suchen wir das Gehirn entsprechend zu
stimulieren.

Und das funktioniert so gezielt?
Noch nicht, aber wir sind dabei, es zu
entwickeln.Wenn wirsehen, dass es
funktioniert, dann kann man sagen, dass
die Theorie der Psychiatrie geholfen hat.
Aber es wäre gleichzeitig auch ein schö-
ner Beweis für dieseTheorie.

Georg Northoff
Professor für
Neurowissenschaften
an der University
PD of Ottawa

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