Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1

SYRIENKRIEG: DER TÜRKISCHE EINMARSCH


auszutauschen, bleibt die Türkei also bis auf Weite-
res auf den drei Millionen Syrern im Land sitzen.
Unterdessen kommen zahlreiche IS-Gefangene
aus den Lagern in Nordsyrien frei (siehe den Beitrag
unten). Dem IS winkt ein zweites Leben. Es müssen
nun andere Mächte dafür sorgen, dass die Kalifats-
jünger nie wieder ein Gebilde beherrschen können,
das fast die Ausdehnung Großbritanniens hatte.

2


Alle Wege führen
nach Moskau

Was uns zu den weiteren Profiteuren der jüngsten
Krise führt: Baschar al-Assad hätte es sich wohl
kaum träumen lassen, je wieder weite Teile seines
Landes zu beherrschen. Er hat es seinen Paten Iran
und insbesondere Russland zu verdanken, die ihn
diplomatisch und militärisch auch dann noch
stützten, als er sich mit Giftgasangriffen und dem
Einsatz von Fassbomben zum Paria gemacht hatte.
Russland selbst schreckt nicht davor zurück, ge-
zielt Krankenhäuser in widerständigen Gegenden
zu bombardieren, wie die New York Times in der
vergangenen Woche lückenlos beweisen konnte.
Maslum Abdi, der Kommandeur der SDF-
Miliz der syrischen Kurden, formulierte es Anfang
der Woche so: »Wir wissen, dass wir schmerzhafte
Kompromisse mit Moskau und Baschar al-Assad
machen müssen. Aber wenn wir zwischen Kom-
promissen und dem Genozid an unserem Volk
wählen müssen, werden wir uns für das Leben
unseres Volkes entscheiden.«
In Syrien ringen also künftig Türken, Iraner, das
Assad-Regime, die Kurden und vielleicht auch wie-
der der IS (oder irgendein Nachfolger) um die
Macht. Sie alle werden dabei nach Moskau schau-
en. Auch die bisherigen Verbündeten der USA in
der Region, allen voran Israel und die Saudis, tun
das. Am Montag dieser Woche wurde Wladimir
Putin gleich mal in Riad empfangen. Am Dienstag
dann gaben russische Militärs bekannt, dass sie ab
sofort in den von den Amerikanern verlassenen Ge-
bieten patrouillieren würden. Das Video eines Rus-
sen, der in einer von den Amerikanern verlassenen
Militärbasis in Nordsyrien herumspazierte, machte
in sozialen Netzwerken die Runde. Es könnte das
Sinnbild einer neuen Ära in der Region werden.
Russland hat in Syrien alle seine Kriegsziele er-
reicht, auch wenn es westlichen Beobachtern schwer-
fällt, das zuzugestehen: Der Schützling Assad ist
weiter im Amt; eine weitere vom Westen unter-
stützte Revolte (so sieht es Moskau) wurde nieder-
geschlagen; Russland hat die Durchschlagskraft sei-
nes Militärs und die Verlässlichkeit seiner Zusagen
bewiesen; nichts geht in Nahost mehr ohne russi-
sche Vermittlung. Dass noch kein Hegemon in
dieser entzündlichen Region lange große Freude an
seiner Rolle hatte, steht auf einem anderen Blatt.

3


Die Nato fürchtet
den Bündnisfall

Das Debakel der Gegenseite muss man in den
Blick nehmen, um die Wucht dieses Moments zu
ermessen. Das erfolgreichste Verteidigungsbünd-
nis der Geschichte hat eigentlich keinen ebenbür-
tigen Feind in der Welt. Aber es wird sich über der
Syrienfrage gerade selbst zum Gegner.
Das stärkste Nato-Land (die USA) belegt den
Partner mit der zweitstärksten Armee des Bündnis-
ses (die Türkei) mit Sanktionen. Türkische Truppen
haben beim Vormarsch in Syrien US-Stellungen be-
schossen. Dass Nato-Partner aufeinander schießen,
gab es außerhalb von Übungen noch nicht. Der
türkische Verteidigungsminister steht nun wegen

des Einmarschs in Syrien, den Donald Trump doch
anfänglich abgenickt hatte, auf einer US-Sanktions-
liste. Der amerikanische Verteidigungsminister wie-
derum hat am Wochenende die Frage gestellt, ob
diese Türkei im atlantischen Bündnis bleiben kön-
ne. (Im Nato-Vertrag ist die Möglichkeit nicht vor-
gesehen, einen Partner hinauszuwerfen.)
Arbeitsgruppen in der amerikanischen Regie-
rung prüfen laut Presseberichten, ob man die tak-
tischen Atomwaffen, die im südost-anatolischen
Incirlik lagern, nicht besser abziehen soll.
Die europäischen Außenminister haben be-
schlossen, der Türkei vorerst keine Waffen mehr
zu verkaufen. Von manchen Politikern wird die
Gefahr eines »Bündnisfalls« heraufbeschworen.
Müssten Nato-Partner der Türkei nach Artikel 5
des Nordatlantikvertrages nicht zur Hilfe eilen,
wenn das Land etwa von Syrien – oder von dessen
Schutzmacht Russland – angegriffen würde? Die
Antwort aus Europa: Nein, die Türkei könne mit
Bündnissolidarität nicht rechnen.
Das Argument: Die Türkei sei in diesem Kon-
flikt der Aggressor. Sie verletze durch den Ein-
marsch in Syrien das Völkerrecht und (nach Ansicht
ihrer Partner) auch Artikel 1 des Nato-Vertrags, der
Mitglieder verpflichtet, »jeden internationalen
Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem
Wege zu regeln« und »sich in ihren internationalen
Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewalt-
anwendung zu enthalten, die mit den Zielen der
Vereinten Nationen nicht vereinbar sind«.
Das leuchtet ein. Fragt sich nur, was ein Vertei-
digungsbündnis wert ist, das einen Partner in sei-
nen Reihen hat, dem es im Zweifelsfall nicht bei-
springen mag, dem es keine Waffen mehr verkaufen
will und vor dem es die Atombomben (die ihn ei-
gentlich schützen sollen) lieber in Sicherheit bringt.
Gilt die Beistandsverpflichtung gemäß Artikel 5
in einem Club mit solchen Differenzen eigentlich
noch? Und was würde wohl geschehen, wenn Russ-
land, das die Nato-Osterweiterung bekanntlich als
aggressiven Akt betrachtet, dies einmal ernsthaft zu
testen versuchte? Ein solcher Test ist allerdings zur-
zeit gar nicht nötig, um die Schwäche der Nato
vorzuführen. Sie schafft das ganz allein.
Die Bilanz einer Woche, die in der Weltpolitik
noch lange nachklingen wird: Washington hat
den Rückwärtsgang eingelegt. Darüber können
weder die kompensatorischen Sanktionen gegen
die Türkei noch die Truppenverlegung nach Saudi-
Arabien hinwegtäuschen, wohin Trump 3000 zu-
sätzliche Soldaten beordern will.
Die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien
ist nach fünf Jahren Geschichte, obwohl dieser
Teil des Landes von den Massenmorden, von dem
ethnisch-religiösen Gewaltrausch, weitgehend ver-
schont blieb, der den Rest Syriens heimgesucht
hat. Der IS und das Regime drohen nun in das
Machtvakuum vorzustoßen, das die türkische In-
tervention schuf. 160.000 Menschen, die nach
syrischen Maßstäben in vergleichsweise geordne-
ten Verhältnissen gelebt hatten, sind nach UN-
Angaben bereits auf der Flucht.
Der amerikanische Machtzerfall schreitet rapide
voran, nicht nur im Nahen Osten. Keine einzige
außenpolitische Initiative der Trump-Regierung
trägt derzeit Früchte: Der Iran trotzt der Politik des
»maximalen Drucks« und verweigert sich ernsthaf-
ten Verhandlungen; dito Nordkorea und die Tali-
ban in Afghanistan. Besser wird das sicher nicht
nach dieser katastrophalen Woche. So schlimm
Trump auch sein mag: Zur Genugtuung darüber
gibt es keinen Grund.

A http://www.zeit.deeaudio

Die Kurden beerdigen im Nordosten
Syriens die ersten Opfer der
türkischen Offensive

Ve r r a t ,


aber mit Ansage


Die neue Unübersichtlichkeit im Nahen Osten überdeckt, dass sich schon längst Konturen


einer neuen Ordnung herausgebildet haben VON JÖRG LAU


Rakka
SYRIEN

Damaskus

IRAK

JOR DANIEN

LIBANON

Autobahn

umkämpftes Gebiet

Rebellen

Assad-Truppen und -Verbündete

Gebiete der kurdisch dominierten SDF
(Syrische Demokratische Kräfte)

von der Türkei angestrebte Sicherheitszone

Euphrat

Türkei und Verbündete

TÜRKEI

Mittelmeer

Ras al-Ain

Kobane Tal Abjad

Idlib Ain Issa

Manbidsch

ZEIT-GRAFIK
200 km
Foto (Ausschnitt): Bakr Alkasem/AFP/Getty Images


W


enn ein passioniert lügen-
der Präsident einmal sein
Wort hält, führt das zu
einer Art Schock. Selbst
seiner unmittelbaren Um-
gebung fällt es schwer, zu
fassen, wenn Donald
Trump tut, was er angekündigt hat. Und dann lau-
fen erst Wellen der Verblüffung, sodann des Entset-
zens um den Globus: Er hat es wirklich getan!
So auch hier: Trump hatte im Wahlkampf ver-
sprochen, die amerikanischen Truppen aus den
»endlosen, dummen Kriegen« des Nahen Ostens
abzuziehen. Jetzt macht er ernst (sicher auch wegen
des Amtsenthebungsverfahrens und mit Blick auf
die Wahl im nächsten Jahr). Und er handelt, wie
üblich, ohne Rücksicht. Leidtragende diesmal: seine
eben noch besten Alliierten, die syrischen Kurden.
In Deutschland löst dieser »Verrat« lautes Ent-
setzen aus, was allerdings ziemlich heuchlerisch
anmutet, angesichts der fortgesetzten Weigerung,
Truppen in die Lücke zu schicken, die der ameri-
kanische Rückzug in Syrien aufreißt.
Die Empörung über Trumps vermeintliche
Wende in Syrien trübt das außenpolitische Urteil.
Sie überspielt die Absehbarkeit dieser Entwick-
lung – und die Folgen, die das fatale Telefongespräch
zwischen Trump und Erdoğan über Syrien hinaus
haben wird, nicht zuletzt für die Europäer.
Wer wird nach den Amerikanern die Ordnung
im Nahen Osten bestimmen? Geht der Kampf ge-
gen den Islamischen Staat (IS) jetzt in die nächste
Runde? Was folgt aus dem Konflikt für den Zu-
sammenhalt des Westens, für die Nato?

1


Kein Chaos, sondern die neue
postamerikanische Ordnung

Die rapide Entwicklung der vergangenen Tage
scheint das Klischee vom Chaos im Nahen Osten
zu bestätigen. Aber so chaotisch ist die Lage bei
näherem Hinsehen nicht. Der amerikanische
Rückzug schafft Handlungsoptionen für Akteure,
die eben noch eingehegt schienen. Nicht immer
erzielen sie die erhofften Ergebnisse, manchmal
glatt das Gegenteil. Eine Ordnungsmacht (die
selbst viel Unordnung geschaffen hat) tritt ab, an-
dere Mächte suchen ihren Vorteil.
Der Zwischenstand sieht so aus: Die Türkei hat
durch ihren Einmarsch in Syrien den Nato-Partner
USA gedemütigt und den Erzfeind Assad erstarken
lassen. Der schnelle Vormarsch schnitt den Ame-
rikanern die Rückzugsrouten ab und erzwingt nun
den überstürzten »freiwilligen Abzug« (Trump) der
verbliebenen 1000 Soldaten. Sie werden wahr-
scheinlich mit Flugzeugen evakuiert werden müs-
sen, was Erinnerungen an die Debakel in Vietnam
und im Iran aufrufen dürfte.
Die Truppen der Damaszener Regierung drin-
gen im Gegenzug erstmals wieder in den Nordos-
ten des Landes vor. Die von den Türken angegrif-
fenen Kurden – eben noch Frontkämpfer gegen
den IS – haben sich unterdessen mit dem Diktator
verbündet, der ihre Autonomiebestrebungen im-
mer frustriert hatte und der den IS, ihren Tod-
feind, durch seinen Vernichtungskrieg gegen das
eigene Volk erst richtig groß gemacht hatte.
Für Erdoğans grandiose Umsiedlungspläne sieht
es unterdessen schlecht aus. Die Türkei hat die Kur-
den auch deshalb angegriffen, um in Nordsyrien an
ihrer statt jene Flüchtlinge anzusiedeln, die vor
Assad in die Türkei geflohen waren. Daraus wird
nun nichts, wenn sein Regime demnächst wieder
über die betreffenden Gebiete herrscht. Statt die
Bevölkerung in Nordsyrien nach Erdoğans Plan

Eine Region in Flammen


D


ie syrischen Kurden haben nicht
nur eine zentrale Rolle beim Nie-
derringen der Terrorgruppe »Isla-
mischer Staat« (IS) und ihres »Kali-
fats« in Syrien gespielt, sondern sie
sahen sich nach Ende der Kampfhandlungen auch
vor die Herausforderung gestellt, die gefangenen
IS-Kämpfer und deren Familien unterzubringen.
Und das bedeutete: sie festzuhalten, bis sich eine
juristische oder diplomatische oder sonst irgend-
eine Lösung fände.
Jetzt droht ein anderes Szenario: Bis zu 900
Frauen, die mit IS-Kämpfern verheiratet waren,
sind bereits aus einem der Lager namens Ain Issa
geflohen. Weitere Gefangene könnten fliehen, da-
runter ehemalige Kämpfer.
Der IS könnte zum Nutznießer der türkischen
Invasion werden. Die Organisation hat in der Ver-

gangenheit mehrfach unter Beweis gestellt, dass sie
Gefängnisse stürmen und Gefangene befreien
kann. Und sie hat die Erfahrung gemacht, dass die
Befreiten sich oft bereitwillig wieder in die Kampf-
verbände eingliedern.
Im Falle von Ain Issa war es allerdings gar nicht
nötig, die Gefangenen zu befreien. Die kurdischen
Bewacher zogen einfach ab, sie wurden anderswo
gebraucht. Es mag sein, dass die Kurden mit ihrem
Abzug auch ein Exempel statuieren wollten: Ha-
ben wir etwa nicht jahrelang gebettelt, dass die
Welt uns diese Leute abnimmt, weil wir sie nicht
ewig festhalten und durchfüttern können?
Seriösen Schätzungen zufolge halten die Kur-
den an etwa einem Dutzend Orten an die 11.
Männer fest, die zum IS gehört haben sollen;
9000 von ihnen sind Iraker oder Syrer, 2000
stammen aus 50 verschiedenen Nationen. Dazu

kommen Tausende Angehörige. Unter den Inhaf-
tierten sind 37 Männer, 73 Frauen und rund 160
Kinder aus Deutschland. Die meisten verteilen
sich auf drei Lager: Ain Issa, Camp Roj und
Camp Hol.
Bei Deradikalisierungs-Beratungsstellen wie
Hayat in Berlin stehen seit Beginn der türki-
schen Offensive die Telefone nicht mehr still:
Verängstigte Frauen melden sich aus den Lagern,
erhoffen sich Hilfe von der Bundesregierung.
Die ist freilich nicht in Sicht. »Die Angehörigen
sind fix und fertig«, sagt Claudia Dantschke von
Hayat.
Nicht alle Gefangenen glauben noch an den IS.
Zu den Insassen von Ain Issa gehörte beispiels-
weise eine deutsche Frau, die den Dschihadisten
längst abgeschworen hat und dafür von anderen
Mitgefangenen misshandelt wurde. Anfang der

Woche meldete sie sich panisch per Telefon in
Deutschland, weil sie nicht wusste, was sie tun
sollte: Fliehen? Aber wohin? Oder sich den Türken
ergeben, sobald sie anrücken? Die IS-Anhängerin-
nen seien allesamt abgehauen, berichtete sie. Zum
Teil seien sie vom IS in Autos abgeholt worden.
Schon verlieren sich die ersten Spuren im Chaos
des Krieges: Mehrere Britinnen und Belgierinnen
sind verschwunden, darunter eine frühere IS-
Rekruteurin.
In den anderen Camps ist die Stimmung an-
gespannt, auch wenn die kurdischen Bewacher
noch da sind. In Camp Hol, wo die meisten
Deutschen festgehalten werden, herrscht blanke
Panik angesichts des Deals, den die Kurden mit
dem syrischen Regime eingegangen sind.
Die Frauen, die getrennt von den Männern
untergebracht sind, haben Angst, dass Assads

Schergen die Kontrolle übernehmen und sie töten
oder vergewaltigen könnten. In Camp Roj ist es
ähnlich. Hinzu kommt, dass die Versorgung mit
Lebensmitteln und Medikamenten schlecht ist.
Internationale Terrorexperten befürchten der-
weil, dass der IS, dessen Kämpfer in Syrien nach
wie vor im Untergrund aktiv sind, Ausbruchs-
Aktionen plant und seine Kommandos gezielt
Gefängnisse angreifen lassen könnte. Allerdings
dürfte der IS eher an männlichen Inhaftierten in-
teressiert sein. Ein großer Teil der heutigen IS-
Führung wurde vor Jahren im Irak von Gesin-
nungsgenossen befreit.
Sollte so etwas auch heute wieder gelingen,
sollten beispielsweise irgendwo auf einen Schlag
Hunderte IS-Kämpfer freikommen, könnte die
Terrorgruppe rasch wieder zu einer ernsten Be-
drohung werden. YASSIN MUSHARBASH

Die türkische Armee vertreibt die Kurden. Deshalb kommen die


gefangenen Dschihadisten des IS wieder frei


Entfesselt


4 POLITIK 17. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43

Free download pdf