Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1

6 POLITIK 17. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43


Torten


der Wa h rheit


VON
K ATJA B E R L I N

Deutsche Wörter, denen mangelnde
Lesbarkeit vorgeworfen wird

Verkehrsinfrastrukturfinanzierungs-
gesellschaft
Rindfleischetikettierungsüber-
wachungsaufgabenübertragungsgesetz
Bürger*innen

Wann Alleinerziehende in
Deutschland steuerlich
begünstigt werden

wenn sie sich auf die Arbeit konzentrieren

wenn sie sich auf die Kinderbetreuung
konzentrieren

wenn sie einen Diesel fahren

Was man in Deutschland darf

etwas Rassistisches sagen

etwas Sexistisches sagen

darüber jammern, dass man nichts
mehr sagen dürfe

Wann man in Deutschland
von den Behörden weitestgehend
in Ruhe gelassen wird

Wenn man seine Steuern pünktlich zahlt

Wenn man sich an die Straßenverkehrs-
ordnung hält

Wenn man ein gewaltbereiter Neonazi ist

Reformer auf Bewährung


Nach nur achtzehn Monaten im Amt wurde Abiy Ahmed mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Doch in Äthiopien wächst der Druck auf den Premier VON ANDREA BÖHM


A


biy wer? Das haben sich in Deutschland
viele gefragt, als das norwegische Ko-
mitee zur Vergabe des Friedensnobel-
preises vergangene Woche seine Ent-
scheidung bekannt gab: Abiy Ahmed,
Äthiopiens junger Premierminister, erhält ihn für
seine Bemühungen um den Frieden in Ostafrika. Er
hat den Kriegszustand mit dem Nachbarland Eritrea
beendet, im Sudan zwischen Militär und Demokra-
tiebewegung vermittelt, daheim den Ausnahmezu-
stand aufgehoben, die Gefängnisse geöffnet, Exilan-
ten nach Hause und zahlreiche Frauen in die Politik
geholt. Das klingt nach einer perfekten Wahl des
Nobel-Komitees. Nur ist der 43-Jährige kaum acht-
zehn Monate im Amt. Wie viel von seinen Initiati-
ven in der Region und den Reformen im eigenen
Land übrig bleibt, muss sich noch zeigen.
Aber in Zeiten, da die deutsche wie europäische
Politik gegenüber Afrika auf die Abwehr von Migran-
ten geschrumpft ist, erinnert dieser Nobelpreis daran,
welch enormer Reformdruck auf dem Nachbarkonti-
nent herrscht, wie überraschend und fragil die Fort-
schritte sind – und wie viel der jüngeren Geschichte
Äthiopiens auch mit Deutschland zu tun hat.
Abiy verkörpert diese Geschichte wie so viele seiner
Generation: Als Kind erlebte er die horrende Hunger-
katastrophe von 1984/85, in Europa vor allem bekannt,
weil Rockstars wie Bob Geldof und Bono mit Songs wie
Do they know it’s Christmas Spenden in Millionenhöhe
für die Hungernden sammelten. Wann Weihnachten
ist, wussten die Äthiopier übrigens ganz gut – die Mehr-
heit ist christlichen Glaubens. Dass Geldof und Co. mit
ihrer Live-Aid-Kampagne unwillentlich dem herrschen-
den sozialistischen Derg-Regime in die Hände spielten,
war vielen ebenfalls klar. Die Derg-Führer, die die ver-
heerende Hungersnot durch eine Landreform und
Zwangsumsiedlungen maßgeblich verschärft hatten,
wurden durch die Hilfskampagne politisch aufgewertet.
Abiy überlebte deren Repressionen, darunter eine
stalinistische Kampagne des »Roten Terrors«, bei der
mindestens eine halbe Million Äthiopier starben. Auch
durch Waffen aus der DDR, die damals ein wichtiger
Sponsor des Derg war.
Nach dem Kalten Krieg endete auch das Terror-
Regime in Äthiopien, gestürzt 1991 durch eine Koali-
tion von Guerilla-Gruppen. Unter den Kämpfern be-
fand sich Abiy, gerade 15 Jahre alt. Die Jugend der west-
lichen Regierungschefs, die er heute als Premierminister
trifft, sah gemütlicher aus.
Abiy ist kein Reformer von außen. Er kommt aus
dem System, das er nun umzubauen versucht. Äthiopien
galt in den Neunzigerjahren zunächst als leuchtendes
Beispiel einer »afrikanischen Renaissance« mit jungen,
gut ausgebildeten Machthabern, die eigene Konzepte
der Modernisierung verfolgten und dem Westen selbst-

Abiy Ahmed hat mit dem Erzfeind Eritrea Frieden geschlossen

bewusst gegenübertraten. Aber der Regierungsstil
wurde zunehmend autoritär, die Außenpolitik aggres-
siv. Ein Krieg mit dem kleinen Nachbarland Eritrea,
einst Teil Äthiopiens, forderte zwischen 1998 und 2000
rund 80.000 Tote, mündete in eine Totalblockade
zwischen beiden Ländern und forcierte die politische
Unterdrückung. Vor allem in Eritrea, wo Staatschef
Isaias Afewerki einen zeitlich unbegrenzten Wehrdienst
verordnete. Ebendiese Form der Zwangsarbeit treibt
seit Jahren Abertausende Eritreer in die Flucht. Viele
versuchen, über Libyen und das Mittelmeer nach
Europa zu gelangen.
Auch ungezählte junge Äthiopier sind emigriert, oft
als Arbeitsmigranten in die Golfstaaten und nach Eu-
ropa. Anders als in Eritrea war der Freiraum in Äthiopien
groß genug für Protestbewegungen. Die hatten in den
vergangenen Jahren so sehr an Wucht gewonnen, dass
die alte Elite den charismatischen Abiy als Premierminis-
ter installierte. Er soll die überwiegend junge Bevölke-
rung von 110 Millionen Menschen – die zweitgrößte in
Afrika – mit Reformen zufriedenstellen, aber gleich-
zeitig die Pfründen der alten Garde sichern.
Wie man die Opposition überwacht, weiß Abiy gut,
er war zwei Jahre Chef des Inlandgeheimdienstes. Umso
mehr überraschten seine ersten Monate im Amt. Auf
seinen Friedensschluss mit Eritrea reagierten die Men-
schen in beiden Ländern so euphorisch wie die Deut-
schen auf den Mauerfall. Grenzübergänge wurden
wieder geöffnet, Verwandte konnten sich nach Jahr-
zehnten erstmals wiedersehen. Doch nichts ist gefähr-
licher für einen Reformer als hohe Erwartungen. Die
Umsetzung des Friedensabkommens stockt, in Eritrea
ist von der erhofften innenpolitischen Liberalisierung
nichts zu spüren, die Schmuggler machen weiterhin ein
gutes Geschäft mit Flüchtlingen.
Im eigenen Land steigt der Druck auf Abiy. Trotz
wirtschaftlichen Wachstums nimmt die Zahl der Armen
seit Jahren zu. Die Klimakrise verschärft Dürren und
treibt Bauern in den Ruin. Die politischen Reformen
schaffen nicht nur Freiheiten, sondern auch gefährliche
Spannungen im Vielvölkerstaat Äthiopien. Manche
Fraktionen nutzen die innenpolitische Liberalisierung
für ethno-nationalistische Propaganda, aufgrund bewaff-
neter Auseinandersetzungen werden immer mehr Men-
schen zu Binnenflüchtlingen. Im alten Sicherheitsappa-
rat hat sich Abiy einige Feinde gemacht. Nur wenige
Wochen nach seinem Amtsantritt scheiterte ein Attentat
auf ihn. Hinter den freien Wahlen, die er für 2020 ver-
sprochen hat, steht inzwischen ein Fragezeichen.
Zweifellos würden manche einwenden, der Friedens-
nobelpreis für Abiy Ahmed komme zu früh, sagte Berit
Reiss-Andersen, die Vorsitzende des norwegischen Ko-
mitees. »Aber Abiys Anstrengungen verdienen jetzt An-
erkennung und brauchen Ermutigung.« Der Mann kann
Foto: Petterik Wiggers/Panos Pictures Panos/VISUM beides dringend gebrauchen.


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