Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 20.10.2019

(Barré) #1
FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG

Feuilleton (^) 20. OKTOBER 2019 NR. 42 SEITE 37
E
s geht gleich schief, als es losgeht:
und zwar mit der – Hauptsache zi-
tierfähigen – Aussage eines Fernseh-
kritikers, durch die Verleihung des
Nobelpreises an einen bestimmten
Schriftsteller habe „die politische
Korrektheit eine krachende Ohrfeige erhalten“.
Sofort wird der nervösen und bisweilen enervie-
renden Sprachsensibilität des ausgezeichneten
Schriftstellers Hohn gespottet, um in einer Debat-
te, die den Schriftsteller nichts, den Fernsehkriti-
ker aber alles angeht (denn dieser entblödete sich
einst nicht, auf die Blackfacing-Debatte mit ei-
nem tatsächlichen Minstrel-Show-Blackfacing zu
antworten), irgendwelche Siege oder Niederlagen
zu verzeichnen. Der Schriftsteller, dem der Fern-
sehkritiker mit seiner schnalzenden Polarisierung
vermeintlich beispringt, wird sofort festgetackert
und instrumentalisiert. Die Weichen sind gestellt,
der Zug wird entgleisen.
Die Stunde eines anderen Schriftstellers hat ge-
schlagen. Der wiederum – sonst eher aufgefallen
mit niedlichen Selbstinszenierungen, das Spiel-
zeugschwert auf dem Twitterprofil in der Hand
bei ironisch grimmiger Miene, sonst eher be-
kannt für eine Literatur, die die Welt und ihre
Bosheit meist aus der Perspektive eines unschul-
dig staunenden Jungen betrachtet: der also über-
nimmt und pumpt. Hochfrequent Tweet nach
Tweet abfeuernd, will er dem Nobelpreisträger, ei-
nem „Genozidrelativierer“, an den poetischen
Kragen, nutzt dabei aber seltsamerweise meist
nicht Stellen aus dessen Texten, sondern immer
wieder journalistische Sekundärfetzen, darunter
einen, in dem der Nobelpreisträger entstellend
falsch zitiert wird. Der hatte nämlich, zum zigsten
Mal nach seiner Haltung in einer bestimmten
Kriegsdebatte befragt, nicht gesagt, man solle sich
seine „Leichen“, sondern vielmehr seine „Betrof-
fenheit in den Arsch stecken“. (Diese Stelle zitiert
dann eine international sehr bekannte Zeitung
ebenfalls falsch. Die Stelle wird immer wieder
falsch zitiert werden, bis ans Ende des Internets.)
Fiebrig läuft die Beweisaufnahme. Ein twitter-
hyperaktiver Redakteur sendet Beleg nach Beleg
hinterher, als seien Argumente einfach nicht mehr
en vogue. Ein Journalist reagiert darauf mit einem
Witz, der süffisant auftritt, aber kryptisch bleibt.
Es sekundieren Hunderte von Klarnamen und
Pseudonymen. Eine Journalistin tarnt eine Link-
sammlung als Artikel und betitelt diesen: „Perfide
Mülltrennung“. Für das diesbezügliche Kompli-
ment eines Followers bedankt sie sich, die Über-
schrift ist also mindestens von ihr gebilligt. Mit
dem Müll, der da getrennt werden soll und nicht
getrennt werden kann, sind Autor und Werk ge-
meint, und in anderen Kontexten würde die Jour-
nalistin wahrscheinlich spätestens genau hier von
„Entmenschung“ oder „Hate Speech“ sprechen,
denn einen Menschen als Müll zu bezeichnen, das
sollte doch niemand tun? Die Journalistin tut es
aber, wahrscheinlich unterläuft es ihr, ist eh alles
zu verkopft mit der ganzen Sprachkritik, LOL.
Die Literatur des Nobelpreisträgers kommt über-
haupt nicht mehr vor, sie ist eigentlich verschwun-
den, genau wie in diesem Artikel. Kolportiert
wird dann, dass der Nobelpreisträger mehrmals
in seinem Leben handgreiflich wurde und dazu in
einem jahrzehntealten Interview verlautbarte, er
würde sich einem bestimmten Diktator „als
Mensch“ manchmal „sehr nahe“ fühlen. Dass
eine solche Aussage vielleicht mehr von den Ambi-
valenzen der menschlichen Psyche weiß als die
Teilnahme an eigendynamischen Twitterprozes-
sen; dass eine solche Aussage eben nicht hetzt, es
sei denn, gegen sich selbst und ihren Urheber, das
ist wahrscheinlich schon zu kompliziert gedacht.
Das Tempo diktiert die Fragmentarisierung, es
muss fetzen. Der Nobelpreisträger wird vom an-
deren, inzwischen grippal erkrankten Schriftstel-
ler (und an solchen Privatismen lassen uns die In-
ternetnahbaren gerne teilhaben, das menschelnde
Element darf nicht fehlen, um die faktische Ver-
dammung des Feindes von einem weichgezeichne-
teren Standort aus geschehen zu lassen) qua
Parallelisierung über den Ausdruck „mutige Ent-
scheidung“ mit rechtsextremen Politikern assozi-
iert. Der erkrankte Schriftsteller twittert immer
weiter, er zetert regelrecht und behauptet, damit
„bis zur Verleihung“ weitermachen zu wollen.
Auf Nachfrage eines Followers präzisiert er, er
meine nicht die Vergabe des Deutschen Buchprei-
ses, für den er nominiert ist, sondern die des No-
belpreises: ganz so, als wäre das Literaturpreisge-
werbe der ganzen Welt irgendein hydraulisches
Megakonstrukt, dessen moralischen Über- oder
Unterdruck man, zumal als potentiell Bepreister,
ständig regulieren müsse. Er erhält den Buch-
preis, die Jury setzt diese Vergabe in der Laudatio
plötzlich als Zeichen gegen die „Narrative der Ge-
schichtsklitterer“, was womöglich allen Beteilig-
ten noch leidtun wird, vor allem dem Buchpreis-
gewinner, dem ich persönlich diese Auszeichnung
auch ohne eine solche Verlinkung-auf-immer ge-
gönnt hätte. Aber er selbst hat sie ja nun einmal
herbeigeführt.
Auf ernsthafte, eindringliche Weise, ganz im
Gegensatz zu seinem bisherigen Auftreten in der
Sache, bindet der Buchpreisgewinner dann in der
Dankesrede sein Schicksal nochmals an die Worte
oder eben an die ausgebliebenen Worte des No-
belpreisträgers, an das, was dieser „nicht be-
schreibt“. Dem ergeben sich alle, auch ich, hier
spricht plötzlich das echte, entkommene Leben.
Es ist ein nicht ganz lauterermove, aber unantast-
bar, und die Rede ist stimmig und gut. Seltsam je-
doch, dass dieser Schriftsteller, nachdem er den
Preis erhalten hat und noch den Freudenschrei sei-
ner „Mama“ und seine bunten Socken retweeten
musste, das Nobelpreisträger-Bashing sofort ein-
stellt. Auch okay so, alles andere würde sich viel-
leicht zur Obsession auswachsen. Aber gleichzei-
tig ist nichts okay:The damage is done, und zwar
auf allen Seiten.
Twitter, das den Puls der Meinungsmache vor-
gibt, richtet die Inhalte einfach auf diese Weise
zu, formatiert sie in toxische Fetzen und süffisante
Häppchen. Analogien und Pointen ersetzen Argu-
mente und schaffen mit zunehmender Unschärfe
eine Atmosphäre der Intellektuellenfeindlichkeit.
Durch Blockierfunktion und ewige Verlinkung er-
gibt sich immer wieder und fast wie von selbst ein
abgezirkelter Konsens, der einen fatalen Hang
zum Ausschluss, zur Identität und zur Aburtei-
lung hat. Beleg, Beleg, Witz, Socke, Beleg, Urteil.
Dass der Nobelpreisträger in der besagten Kriegs-
debatte eine zu kritisierende und schon tausend-
mal kritisierte Gegenposition aufrechterhielt, die
eine andere und, nun ja, eher erwanderte Perspek-
tive als die tatsächlich gängige aufscheinen ließ –
eine, soweit ich das von hier aus überblicken
kann, auch für mich befremdliche Perspektive,
die aber vor allem mit Repräsentationskritik und
einem lange schon laufenden Versuch der Trans-
ponierung von Wahrnehmung und Sprache zu
tun hat –, das ist das eine. Dass er die Existenz der
Massengräber nie geleugnet hat, ist das andere.
Das spielt jedoch keine Rolle mehr. Uneindeutig-
keit ist suspekt, und wer einmal etwas Böses tat,
kann nachträglich stets und wiederholt gebrand-
markt werden.
Was als Clownerie begann, endet auch mit ei-
ner solchen. Das Video einer Schauspielerin wird
von der Redaktion eines Theaterrezensionsfo-
rums offiziell als Kommentar zum Nobelpreis ge-
postet. Lieber hätte man diesen Auftritt ignoriert,
wenn sich daran nicht ablesen ließe, wie selbst se-
riöse Medien jegliche Orientierung in der Sache
verloren haben. Die Schauspielerin ist in dem
Clip als Harlekin verkleidet zu sehen, eine Figur,
die wohl irgendwo zwischen Klamauk und Dis-
kurs angesiedelt ist. Sie bringt den Nobelpreisträ-
ger denn auch prompt mit „Holocaustleugnern“
in Verbindung und setzt an zu diffamieren, „was
dieser Mensch sagt“. Könnte dies nicht, nachdem
inzwischen einige Feuilletonisten bereits abwägen-
de, aber leisere Betrachtungen veröffentlicht ha-
ben, eine poppige Gelegenheit zur Auseinander-
setzung bieten? Ja, was sagt „dieser Mensch“ ei-
gentlich? Kein Wort dazu allerdings vom Harle-
kin, kein Primärzitat, nur ein namedroppender
Schwenk auf andere böse Geistesgrößen. Schließ-
lich wird der Nobelpreisträger noch als „Botschaf-
ter des Hasses“ markiert und grell verlacht, der
Preis „massakriert“. Berechtigter Kritik wird so
der rationale Boden entzogen. Es ist alles nur ein
alberner Quatsch, stellt sich heraus, aber auf Face-
book bekunden immerhin renommierte Theater-
macherinnen und -macher mit einem Like ihre
Zustimmung.
Man muss sich nicht auf Handkes Seite schla-
gen, um diese ungebremsten Effekte und Dynami-
ken zu kritisieren. Unverständlich ist einfach, wie-
so selbst die, die sich (und es ist so notwendig!) ge-
gen den Hass, zumal den rechten, positionieren
und für die Betroffenen und Diskriminierten ein-
stehen, bisweilen dem Reiz des virtuellen Schau-
prozesses nachgeben und so selbst eine Unter-
form der symbolischen Gewalt ausüben, die ab ei-
nem bestimmten Punkt keine Dialektik mehr zu
kennen scheint, keine Ambivalenzen und vor al-
lem: kein Halten.
Thomas Melle ist Schriftsteller. Sein Roman „Die Welt im Rücken“ er-
schien 2016; bei den Nibelungenfestspielen in diesem Sommer wurde
sein Stück „Überwältigung“ gespielt.


Clowns auf Hetzjagd

A


llesind Halle, und keiner ist Antisemit.
So zeigt sich Deutschland, nachdem ein
Mann versucht hat, in einer Synagoge be-
tende Juden umzubringen. Und dann zeigt die-
ses Land mit seinem Finger auf Ausnahmen, auf
andere. Antisemiten sind immer die anderen.
Zum Beispiel Stephan B., der Mann in Halle,
zum Beispiel Neonazis, allgemein. Und was ist
mit dem Rest? Nichts. Es gibt keine Antisemi-
ten hier. Denn dieses böse A-Wort darf man zu
keinem sagen. Und die, die doch jemanden ein-
mal als antisemitisch, als Antisemiten bezeich-
nen, werden verklagt, verlieren und zahlen: Der
rechte Publizist Jürgen „weiß alles über die inter-
nationale Finanzoligarchie“ Elsässer gewinnt ge-
gen Jutta Ditfurth. Xavier „rappt von Baron Tot-
schild“ Naidoo bekommt einen Vergleich mit
der Amadeo-Antonio-Stiftung. Die Band „Israel
will Palästinenser ja fast schon ausrotten“ Band-
breite klagt gegen die „Tageszeitung“ auf Unter-
lassung und hat Erfolg.
Was daraus folgt? In diesem Land sind Men-
schen nie antisemitisch. Es sei denn, sie stehen
gerade mit Waffen und Sprengstoff vor einer Sy-
nagoge und schießen.
Was aber ist mit physischer Gewalt? Mit An-
griffen auf Juden? Sie geschehen jede Woche
auf deutschen Straßen, auf deutschen Plätzen.
Doch oft heißt es dann nur: der Straftatbestand
der Volksverhetzung sei nicht erfüllt oder der
Täter psychisch krank oder die Tat nur ein poli-
tischer Protest.
Was daraus folgt? In diesem Land sind Taten
nie antisemitisch. Es sei denn...
Und ändert sich nach Halle etwas? Vielleicht.
Am Montag kam es zu einem Urteil. Es klang
fast wie eine Erfolgsnachricht. Was war pas-
siert? Im letzten Jahr hatte ein Mann einem Pro-
fessor im Bonner Hofgarten dessen Kippa vom
Kopf geschlagen und ihn beleidigt, bedroht.
Zum Unglück kam die Polizei, schlug den Pro-
fessor nieder, ihm mehrmals ins Gesicht, weil
sie angeblich das Opfer nicht vom Täter unter-
scheiden konnte. Klar wurden die Ermittlungen
gegen die Polizisten eingestellt, denn selten
enden Ermittlungen gegen Staatsdiener in
Deutschland mit einem Urteil. Das Urteil für
den Kippa-vom-Kopf-Schläger aber hieß: vier-
einhalb Jahre Haft, was nach viel klingt, aber
nicht ist, da dieser Täter vorher schon wegen ei-
nes Raubüberfalls zu drei Jahren und neun Mo-
naten verurteilt worden war. Juristenhaft wur-
den die Strafen verrechnet.
Als man am Abend sich trotzdem halb über
das Urteil freuen wollte, lief „hart aber fair“ in
der ARD. Mit Meinungen von Zuschauern, und
einer speziellen, die vorgelesen wurde, doch es
war keine Meinung, es war Judenhass. Frank
Plasberg wollte das so stehen lassen, sagte er.
„Die Welt“ fragte darauf die ARD, was da los
war. Die sagte dann, sie halte es für „richtig“,
diese „Denkweisen (.. .), die zwar nicht in der
Mitte der Gesellschaft, aber mitten in Deutsch-
land bis heute verbreitet sind“, im Fernsehen zu
dokumentieren. Das war wieder der Finger, der
auf andere zeigt, war der Reflex, auf keinen Fall
über sich selbst nachdenken zu wollen.
Seit Halle sieht man diesen Finger Tag für
Tag. Am aggressivsten deutet er auf Extremis-
ten, was richtig ist, aber egal. Denn einen Nazi


  • er kann Krawatten-und-Parteibuch-Träger
    sein oder auch eine Springerstiefel-Glatze ha-
    ben – wird man schwer zu einem glühenden
    Anti-Antisemiten machen, und einen Islamisten
    auch nicht. Was kann man machen? Über den
    Judenhass aufrichtig sprechen? Das läuft in
    Deutschland nicht so gut. Man hört zwar Juden
    zu, druckt ihre Texte, fragt sie in Shows aus und
    im Internet. Zu Recht, weil man die Stimmen
    der Bedrohten braucht. Sie alleine aber reichen
    nicht aus, weil man es sich so einfach macht,
    weil Antisemitismus nicht das Problem der Ju-
    den ist, es ist das der Nichtjuden.
    Doch die meisten Nichtjuden in Deutschland
    hatten nach der Halle-Tat anderes zu tun. Sie
    mussten andere Fragen klären: Wie gut organi-
    siert sind Rechtsextreme? Was weiß Horst See-
    hofer denn über Games? Wie blind ist der Ver-
    fassungsschutz? Wie schlecht die Polizei? Und
    wie böse, bitte schön, ist Mathias Döpfner, der
    Chef von Axel-Springer?
    Ja, wäre man als Außerirdischer vor einer Wo-
    che im deutschen öffentlichen Diskurs gelan-
    det, dann hätte man auch denken können, dass
    der Täter von Halle Mathias D. heiße, nicht Ste-
    phan B., so laut, groß, bösartig war die Empö-
    rung über einen Döpfner-Text, in dem der vieles
    richtig sah, doch seltsame und falsche Patentre-
    zepte gegen Judenhass fand. Eins hieß zum Bei-
    spiel: Ausländerkriminalität hart bekämpfen
    und hart bestrafen. Dazu hatte dann jeder auch
    eine Meinung, weil es geschenkt war. Weil nie-
    mand sich so mit dem A-Problem in diesem
    Land befassen muss. Und mit sich selbst. Nicht
    nachdenken darüber, was mal die Eltern, die
    Großeltern, die Lehrer, die Freunde, die Kolle-
    gen über Juden sagen. Was man selbst sagt und
    heimlich denkt. Was man getan hat, als man
    mal wieder irgendwo las, dass Israel die deut-
    schen Medien oder die deutsche Politik bestim-
    me beziehungsweise steuere. Nein, man hat kei-
    nen Leserbrief geschrieben.
    Auch ich habe keinen Leserbrief geschrieben.
    Anna Prizkau


Wer kann sich eigentlich was wohin schieben? Über den Schauprozess gegen Peter Handke, in dem


von Literatur keine Rede ist und auf Argumente weitgehend verzichtet wird


Von Thomas Melle


Peter Handke 2005 an der Donau bei Wien Foto Isolde Ohlbaum

Immer nur


die anderen!


Was in Deutschland nach Halle


passiert. Und was daran falsch ist

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