Süddeutsche Zeitung - 17.10.2019

(Tina Meador) #1
von georg renöckl

H


inter einer Wand aus Rosmarin
wuchern die Kamine und Türm-
chen auf dem Dach des Rathau-
ses in den Himmel. Zwischen
Himbeerranken sticht die Juli-Säule an
der Bastille aus dem Dunst über der Haupt-
stadt. Durch eine Lücke zwischen Salbei
und Thymian leuchtet bunt das Röhren-
Wirrwarr des Centre Pompidou. Wie eine
grüne Insel liegt der üppig wuchernde Gar-
ten im Schiefermeer der Pariser Dachland-
schaft. Das Hupen und Dröhnen, das ir-
gendwo da unten vorbeibrandet, scheint
unendlich weit weg zu sein.
Regelmäßig führt Marie Dehaene Ein-
heimische und Touristen über ihren Ar-
beitsplatz. „Man muss allerdings wetter-
fest sein und früh aufstehen können“, hebt
die junge Agrarwissenschaftlerin beinahe
entschuldigend einen kleinen Nachteil ih-
res Jobs hervor, wohl um den Neid der Be-
sucher nicht übermächtig werden zu las-
sen. Wir befinden uns auf dem Dach des
„Bazar de l’Hôtel de Ville“ (BHV), eines Tra-
ditionskaufhauses im Herzen von Paris, un-
mittelbar neben dem Rathaus. Die gut 500
Quadratmeter Dachfläche sind an ein Start-
up mit dem Namen „Sous les fraises“ („Un-
ter den Erdbeeren“) vermietet, das ur-
sprünglich aus Grenoble stammt und 2014
begann, Wurzeln auf Pariser Kaufhausdä-
chern zu schlagen.


Es handelt sich dabei nicht einfach um
eine nett anzusehende Behübschungsmaß-
nahme. Dank vertikaler Beete aus Hanfge-
flecht und Erde mit integriertem Bewässe-
rungssystem verdreifacht sich der verfüg-
bare Platz. Auf dem Dach des BHV entste-
hen auf diese Weise 1400 Quadratmeter
Nutzfläche, auf der 22 000 Pflanzen wach-
sen. Allein sechs Tonnen Tomaten ernten
die Gärtner pro Saison auf dem eleganten
Warenhaus, bei fantastischem Rundblick
über die Stadt.
„Die Transformation der Stadt beginnt
auf dem Teller“, erklärt Yohan Hubert, der
Gründer von Sous les fraises, die Idee hin-
ter seinem Start-up. In Frankreich geht
nicht nur die Liebe durch den Magen, son-
dern auch die Entwicklung der Millionen-
stadt. Die Küchenchefs von 70 Pariser Res-
taurants, vom gehypten Newcomer Moko-
nuts bis zum edlen Drei-Sterne-Lokal As-
trance, kaufen heute Gemüse, Beeren,
Kräuter und Salate, die in mittlerweile 18
Dachfarmen unter dem Himmel von Paris
gezogen werden. Nicht nur Köche zählen
zum Kundenkreis: Die Pariser Brasserie de
l’Être braute im vergangenen Jahr 10000
Flaschen Bier aus dem Pariser Dachhop-
fen, eine Destillerie aromatisiert Gin mit
Kräutern vom Dach des BHV. Bis zu 800 kg
Honig sammelt Imker Gaël Cartron pro Sai-
son in 14 über die Pariser Dächer verteilten
Bienenstöcken. Auch die Konfitürenmarke
Confiture Parisienne und der beliebte Eis-
salon Une glace à Paris legen Wert auf Zuta-
ten, wie sie lokaler und vor allem frischer
kaum sein könnten.
„Uns ist klar, dass wir zur richtigen Zeit
am richtigen Ort sind, als Teil einer Sache,
die viel größer ist als wir“, sagt Hubert.
„Wir sind aber keine Revolutionäre, son-
dern glauben einfach daran, dass sich die
Konsumgewohnheiten gerade ändern.“
Sous les fraises ist nach langen Jahren der
Entwicklung mittlerweile wirtschaftlich er-
folgreich. Eine wichtige Starthilfe dabei
war die Stadt, die durch Ausschreibungen
des Programms „Réinventer Paris“ („Paris
neu erfinden“) innovative Projekte förder-
te – über diese Schiene kam Sous les frai-
ses aus Grenoble in die Hauptstadt.
2017 lancierte Bürgermeisterin Anne Hi-
dalgo ein weiteres Projekt, um der Stadt ei-


nen nachhaltigen Stempel aufzudrücken:
Unter dem Titel „Parisculteurs“ verpflich-
teten sich 74 Unternehmen und Institutio-
nen dazu, binnen drei Jahren 100 Hektar
Grünflächen in Paris zu schaffen, ein Drit-
tel davon reserviert für die Lebensmittel-
produktion. Diese findet nicht immer in
luftigen Höhen statt: In einer alten Tiefga-
rage unter einem großen Wohnblock, in
der vor wenigen Jahren noch Drogendea-
ler und Prostituierte auf motorisierte
Kundschaft warteten, flitzen heute täglich
Dutzende Lastenräder ein und aus, die die
Pariser Bio-Läden beliefern. Die Parkplatz-
Markierungen sind noch sichtbar, doch
sonst ist die Garage nicht wiederzuerken-
nen. Sie heißt nun La Caverne und ist
Standort des Start-ups Cycloponics, das
dort in der vergangenen Saison 25 Tonnen
Pilze und 60 Tonnen Chicorée erntete, die
kein Licht brauchen.
„Für manche Gemüsesorten herrschen
hier geradezu ideale Bedingungen. Die
Temperatur ist konstant, und wir haben
mit 9000 Quadratmetern ausreichend
Platz“, erklärt Caverne-Mitbegründer Jean-
Noël Gertz, ein freundlicher 30-Jähriger
mit Vollbart und langen Haaren. Das Pari-
sculteurs-Programm geht mittlerweile ins
dritte Jahr. Eine Hopfenplantage auf dem
Dach der Bastille-Oper und zahlreiche Blu-
men- und Gemüsegärten auf den Dächern
oder in den Innenhöfen von Schulen, Kin-
dergärten oder Postämtern zählen zu den
von der Stadt Paris stolz präsentierten Pro-
jekten, die den Grünanteil der dichtest be-
siedelten Stadt Europas spürbar erhöhen
sollen.

Dafür sorgen aber auch die Pariser
selbst: „Es gibt hier eine echte Dynamik, ei-
nen Wandel zu mehr Umweltbewusstsein
in allen Bereichen, von der Bauwirtschaft
bis zur Produktion von Lebensmitteln,
und vor allem wirklich viele Menschen, die
das ernst meinen“, so Yohan Hubert. Wer
mit offenen Augen durch die Stadt geht,
wird bestätigen: Zwischen Dach- und Tief-
geschoß sprießt und gedeiht es an allen
Ecken und Enden. Tempo und Ausmaß, in
dem Glashäuser, Nachbarschaftsgärten,
Vertikal- und Dachfarmen aus dem Pari-
ser Pflaster wachsen, wirken ambitionier-
ter als andernorts. Einer der Gründe dafür:
Die fürs selbstgezogene Grün begeisterten
Bürger bekommen in Paris auch die ent-
sprechenden Mittel zur Verfügung ge-
stellt, um ihre Projekte umzusetzen. 2014
führte Anne Hidalgo ein „partizipatives
Budget“ ein. Etwa hundert Millionen Euro
pro Jahr werden seither für Projekte verge-
ben, die jeder einreichen kann. Nach Über-
prüfung der Machbarkeit und einer Voraus-
wahl stimmen die Bewohner der Stadt dar-
über ab, was verwirklicht wird. Seit Paris
das im brasilianischen Porto Alegre entwi-
ckelte Modell als erste europäische Metro-
pole im großen Maßstab anwendet, eröff-
nen in der französischen Hauptstadt lau-
fend verpackungsfreie Läden, wird der öf-
fentliche Raum durch Kunst verschönert,
vor allem aber werden Gemüsebeete ange-
legt und Straßen begrünt.
Die Partizipation verbessert nicht nur
die Pariser Luft, sondern auch das soziale
Klima: „Bereits der Planungsprozess ver-
ändert das Leben im Viertel, da sich viele

Nachbarn dadurch erst kennenlernen“, er-
zählt Architektin Concetta Sangrigoli, die
mit ihrem Stadtplanungsbüro Oikos ge-
meinsam mit 150 Anrainern ein Stück der
alten Bahnlinie „Petite Ceinture“ in einen
Garten verwandelt hat. Die 1934 stillgeleg-
te Bahn umrundete einst die Hauptstadt
und lag jahrzehntelang brach, ehe ihre
Trasse seit wenigen Jahren stückweise der
Öffentlichkeit zurückgegeben wird. Der
neue Gemeinschaftsgarten liegt im mi-
grantisch geprägten Épinettes-Viertel im
Norden der Stadt. Der einst schmale, am

abgesperrten Bahngelände entlang füh-
rende Park Jean-Paul Didier ist nun teil-
weise doppelt so breit wie zuvor, monate-
lang haben die Bewohner gemeinsam mit
Bildhauern an Trockensteinmauern aus
wiederverwendetem Baumaterial gebaut.
„Die Menschen im Viertel legten aber
auch besonderen Wert darauf, dass ein
Teil der Wildnis als Lebensraum für Pflan-
zen und Tiere erhalten bleibt und der neue
Stadtraum für Menschen jeden Alters be-
nutzbar ist“, sagt Concetta Sangrigoli. Ein
weiterer Nebeneffekt: „Es gibt kein Pro-
blem mit Vandalismus. Die Leute verbrin-
gen viel Zeit in ihrem Park und gehen sorg-
sam damit um.“
Der Garten auf dem Bahngleis führt zu
einem Bahnhof, der vor wenigen Jahren
zum Kulturzentrum Le Hasard Ludique

umgebaut wurde, einem quirligen Ort mit
ständig wechselnden Ausstellungen und
Konzerten, einem bunten Kursprogramm
von Kalligrafie bis Yoga sowie einem Res-
taurant, das bei Schönwetter seinen Gast-
garten auf den alten Bahnsteigen öffnet,
weit unterhalb des Straßenniveaus.
Nur wenige Schritte hinter dem Kultur-
bahnhof liegt schon der nächste urbane Ge-
müsegarten: Es handelt sich um die Stadt-
farm der „Recyclerie“, eines weiteren zum
Restaurant transformierten Bahnhofs. Sie
zeigt, wie fest das urbane Grün mittlerwei-
le im Repertoire des Pariser Lifestyles ver-
ankert ist: Im stets vollen Restaurant stel-
len sich die Gäste, die gerade an die dreißig
Euro für einen Bio-Brunch mit Getränken
hingelegt haben, nach dem Bezahlen artig
vor einer Tonne an, in die sie ihre Speiseres-
te kippen. Diese wandern später in den ei-
genen Hühnerstall des Restaurants. Das Fe-
dervieh ist nicht etwa dazu bestimmt, ei-
nes Tages im Kochtopf zu landen, erklärt
Kellnerin Paula mit Empörung in der Stim-
me, sondern: „Sie sind Teil unseres ökologi-
schen Abfallkonzepts.“
Zwanzig Hühner und Enten stellen si-
cher, dass kaum Küchenabfälle entsorgt
werden müssen. Die Eier gehen per Abo-
System an Stammgäste. Neben den Glei-
sen gibt es Kräutergärten, Bienenstöcke,
Gemüsebeete, Obstbäume – alles in allem
ein „Urban-Farming“-Gelände von insge-
samt 1000 Quadratmetern, das mit einer
sommers geöffneten Bar und einer Pé-
tanque-Bahn auch gärtnerisch Unambitio-
nierte anlockt. Und wieder wenige Meter
weiter beginnt bereits der nächste, noch

wilde Bahntrassen-Abschnitt, der im Rah-
men der kommenden Parisculteurs-Sai-
son zur Stadtfarm umgestaltet wird. Auch
nach dem Abschluss des Parisculteurs-Pro-
jekts wird sich die Stadt nicht auf ihren fri-
schen grünen Lorbeeren ausruhen: Die
größte Dachfarm der Welt mit 14 000 Qua-
dratmetern entsteht gerade im Süden der
Stadt; eine Tonne Obst und Gemüse soll
künftig pro Tag auf dem Messegebäude Pa-
ris Expo Porte de Versailles geerntet wer-
den. Geplanter Fertigstellungstermin ist
im Frühjahr 2020.
Freilich wird sich eine Zwei-Millionen-
Stadt wie Paris auch in Zukunft nicht aus-
schließlich vonintra murosangebauten Le-
bensmitteln ernähren können. Doch die
Transformation auf den Tellern, auf den
Dächern und in allen verfügbaren Freiräu-
men der Stadt ist zweifelsohne bereits in
vollem Gang. Für Dachgärtner Yohan Hu-
bert steht zumindest für seine Branche
fest: „Paris ist heute die inspirierendste
Stadt der Welt.“

Informationen
Dachfarmen auf dem BHV und den Galeries Lafayette:
souslesfraises.com.
Anmeldung zur Besichtigung und zu Veranstaltungen:
visite.souslesfraises.com
Kulturzentrum und Restaurant Le Hasard Ludique:
lehasardludique.paris
Stadtfarm & Restaurant La Recyclerie:
larecyclerie.com
Chicoree- und Pilzzucht in der Tiefgarage:lacaver-
ne.co
Parisculteurs-Programm: parisculteurs.paris/en

Gemüse von oben


Paris wächst: In großem Stil und mit städtischer Förderung entstehen auf vielen Dächern Nutzgärten.
Man kann sie besichtigen und dann die Ernte in den Restaurants darunter verkosten

In der Recyclerie bekommen
dieeigenen Hühner die
Speisereste des Restaurants

Stoff für 10 000 Flaschen Bier:


Die Hopfen-Ernte auf dem Dach


ist ziemlich ergiebig


Eine Stadt im grünen Wandel:
Hopfenernte mit Blick auf den Eiffelturm, ein Imker
auf dem Dach gegenüber der Oper, und ein
vertikaler Garten auf den Galeries Lafayette.
FOTOS: SOUS LES FRAISES

DEFGH Nr. 240, Donnerstag, 17. Oktober 2019 REISE 31


Heute auf Kaufdown.de


Ergonomischer Arbeitsstuhl AXIA 2.4 Komfort in ROT mit Nackenstütze


Das Axia® 2.0 Smart Seating System ist nicht nur ein Stuhl, auf dem man sich entspannt und auf dem man gesund sitzt. Es ist ein komplettes und
durchdachtes Sitzkonzept, in dem das ganze Know-how aus den Bereichen Ergonomie, Technologie und Nachhaltigkeit vereint wird.
Ein Konzept, das dem Benutzer das eigene Sitzverhalten vor Augen führt und ihn dabei aktiv unterstützt.

Die Auktion für alle,


die weniger bieten wollen.


Woanders steigen die Preise – hier sinken sie im
Minutentakt. Bei Kaufdown.de von der Süddeutschen
Zeitung können Sie sich täglich neue und exklusive
Angebote zu genau Ihrem Wunschpreis sichern.

Bis zu

50%
Rabatt!
Free download pdf