Neue Zürcher Zeitung - 15.10.2019

(Barry) #1

28 WIRTSCHAFT Dienstag, 15. Oktober 2019


Bei der WTO geht die Streitschlichtung

im Streit unter

Weil die USA die Ernennung neuer Richter blockieren, könnte im Dezember das Berufungsorgan funktionsunfähig werden


GERALDHOSP, GENF


Dann waren es nur noch drei. Im Nor-
malfall besteht der Berufungsausschuss
der Welthandelsorganisation (WTO)
aus sieben Richtern.Diese entschei-
den in letzter Instanz, ob ein Mitglieds-
land gegenWTO-Regeln verstossen hat
und obGegenmassnahmen inForm
von Strafzöllen verhängt werden dür-
fen.Damit liegt das Gremium im Her-
zen desregelbasierten internationalen
Handelssystems, das dafür sorgen soll,
dass eineAuseinandersetzung nicht zu
einem Handelskrieg ausartet.Für jeden
Handelsdisput braucht es drei Richte-
rinnen oder Richter, um eine Entschei-
dung zu treffen.


Wosind nurdie Richter?


Weil dieVereinigten Staaten die Ernen-
nung von neuen Mitgliedern für die Be-
rufungsinstanz blockieren,könnte das
Gremium nach mehr als zwanzigJah-
ren bald funktionsuntüchtig werden.
Im Dezember laufen die Amtszeiten
von zwei Mitgliedern des Berufungs-
ausschusses aus.Wenn sie nicht ersetzt
werden, ist der sogenannte Appellate
Body der WTO mit nur einem Mitglied
schachmatt gesetzt.Länder, denenVer-
stösse gegen die Handelsregeln vorge-
worfen werden,könnten dann ein Urteil
gegen sie verhindern, indem sie denFall
an die Schlichtungsbehörde weiterzie-
hen, die nicht mehr beschlussfähig ist.
Das System der Streitschlichtung brä-
che zusammen.
DieLage sei ernst, meint ein hoch-
rangiger Handelsdiplomat in Genf.
Seit einiger Zeit versuchen die ande-
renMitglieder,auf die Kritik derVer-
einigten Staaten am Streitschlichtungs-
verfahren einzugehen. Am15.Oktober
wirdimAllgemeinenRat, dem höchs-
ten Entscheidungsgremium der WTO,
der Endbericht zu denReformvorschlä-
gen vorgestellt. Die allgemeine Erwar-
tung istjedoch, dass dies denAmeri-
kanern nicht genügen wird.Wenn das
zutrifft, wird die Berufungsinstanz am



  1. Dezember nur mehr aus einem Mit-
    glied bestehen.
    DieVereinigten Staaten haben eine
    Reihe vonVorbehalten gegenüber dem
    Prozess der Streitschlichtung vorge-
    bracht. Die Kritik ist zumTeil gerecht-
    fertigt, wird von anderenLändern ge-
    teilt und ist nicht erst mit derRegie-
    rung unter Präsident DonaldTrump
    aufgekommen, sondern besteht schon
    länger und hat sich unterTrumpsVor-
    gängerBarack Obama verstärkt. Die
    strikte Blockade des Nominationspro-


zesses ist jedoch neu und trägt auch die
Handschrift des US-Handelsbeauftrag-
tenRobert Lighthizer, der seitJahrzehn-
tenein Kritiker des WTO-Mechanismus
zur Streitbeilegung ist.
Im Grunde sind Washington die
WTO-Richter zu unabhängig. Zudem
gibt es denVorwurf,dass sich dieRecht-
sprechung des Berufungsgremiums von
den1995 bei der Gründung der WTO
festgelegtenRegeln entfernt habe und
zu ausufernd sei. Die anderen Mitglie-
der der Genfer Organisationreagierten
vor allem mitVerbesserungsvorschlä-
gen, die den Prozess effizienter gestal-
ten sollten.

NostalgischeWünsche


Im Streit um die Streitschlichtung geht
es auch um unterschiedlicheRechtsauf-
fassungen:Während in einer eher euro-
päischenVorstellung die Richter das
Recht weiterentwickeln können, wie
dies der Europäische Gerichtshof prak-
tiziert,möchten die Amerikaner inter-
nationale Gremien an die kurze Leine
nehmen und Entscheidungen abändern
können.Der WTO-Streitschlichtungs-

prozess führt zudem zurechtlich ver-
bindlichen Entscheiden und ist einer
der seltenenFälle, in denenWashington
Souveränitätsrechte abgegeben hat.
Neben den unterschiedlichen Philo-
sophien waren es aber vor allem man-
che Urteile des Berufungsgremiums,

die Washington sauer aufgestossensind.
Dabei ging es vor allem darum, wie die
USA Anti-Dumping-Zölle berechneten,
und um dieFrage, wie Subventionen via
Staatsunternehmen einzudämmensind.
Bei Letzterem ist vor allem das staats-

kapitalistischeSystem Chinas imVisier
der Amerikaner.
Das Berufungsgremium hatte sich
in einem Urteil für eine engeAuffas-
sung des Begriffes Staatsunternehmen
entschieden, was auf heftige Kritik der
USA gestossen war.Washington lernte
teilweise, mit den Entscheiden zu le-
ben. Zudem bildeten die USA zusam-
men mit der EU undJapan eine tri-
laterale Arbeitsgruppe, die darüber be-
raten soll, wie künftig unter anderem
Staatsunternehmen im WTO-Gefüge
zu behandeln sind. In Genf heisstes,
dass diese Gespräche aber bisher nicht
vorangekommen sind.
DenVereinigten Staaten fälltes auch
leicht, alle Verbesserungsvorschläge
der anderen WTO-Mitglieder abzuleh-
nen, weil sie bisher kritisiert, aberkeine
eigenenWunschvorstellungen vorge-
legt haben. Es ist allerdings ein offenes
Geheimnis, dass Lighthizer eineRück-
kehr zumSystem der alten Gatt-Ära
vorschwebt, das dadurch geprägt war,
dass die Entscheide von unabhängigen
Richtern weniger wichtig waren und
die WTO-Mitglieder selbst den Prozess
dominierten.Dadurch herrschte das

Rechtdes Stärker en. Vor allem kleinere
Länder wie die Schweiz möchtenkeine
Rückkehr zu diesemSystem.
Am PublicForum der WTO in der
vergangenenWoche feuerte der ehe-
malige mexikanischePräsident Ernesto
Zedillo eineBreitseite gegen die USA
ab und meinte,Washington dürfe nicht
erlaubt werden, die WTO zu zerstören.
Zedillo schlug vor, Richterernennungen
im AllgemeinenRat mit Mehrheitsbe-
schluss vorzunehmen und nicht mit Ein-
stimmigkeit, wie sonst in derkonsens-
süchtigen WTO üblich. Dies würde aber
die USA, und wohl auch andere Mitglie-
der, noch mehr von der Genfer Organi-
sation entfremden.

Basteln anNotbehelfen


Der Zusammenbruch des Berufungs-
gremiums bedeutet aber noch nicht
das Ende der WTO. Zunächst dürfte es
Hilfsmechanismen geben, um den Pro-
zess aufrechtzuerhalten. WTO-Streit-
schlichtungsverfahren sind mehrstufig
und werden üblicherweise mit einem
sogenanntenKonsultationsbegehren be-
gonnen.Indiesem ersten Stadiumver-
suchen dieParteien, einegütliche Eini-
gung zu erzielen.Wenn dieseKonsulta-
tionenkeine Ergebnisse bringen, kann
ein Schiedsorgan, ein sogenanntesPanel,
einberufen werden. Der Entscheid die-
ses Schiedsorgans kann an das Beru-
fungsgremium weitergezogen werden.
Die EU und Kanada haben sich be-
reits bilateraldarauf geeinigt, imFall
derFälle ein Schiedsgericht, welches das
WTO-Berufungsorgan als letzte Instanz
spiegelt, anzurufen. Dieses temporäre
Vorgehenist mit den Statuten der WTO
vereinbar, auch wenn es noch nie ange-
wandt wurde. Zuvor hatte es auch den
Plan gegeben, auf diese Art einParal-
lel-Berufungsgericht für alle WTO-Mit-
glieder ausser den USA einzurichten.
Nicht nurWashington kritisierte daran,
dass dadurch dasSystem nichtrefor-
miert werde und eskeine langfristige
Lösungsei.
WTO-Mitgliederhaben noch eine
weitere Möglichkeit, die Blockade zu
überwinden: Zwei Streithähnekönn-
ten sich bereits imVorfeld darauf eini-
gen, den Entscheid desPanels als ver-
bindlich und endgültig zu akzeptieren
undkeine Berufung einzulegen. Es ist
aber klar, dass dies nur zeitlich limi-
tierte Notbehelfe sind.Das multilate-
rale WTO-System dürfte aufDauer
geschwächt werden, weil dieVereinig-
ten Staaten am längeren Hebel sitzen.
Es bleibt die Hoffnung, dass jede Krise
eine Chance ist.

DerUS-HandelsbeauftragteRobert Lighthizer ist ein scharfer Kritiker des WTO-Schlichtungsverfahrens. ANDREW HARRER /BLOOMBERG

Für jeden
Handelsdisput braucht
es drei Richterinnen
oder Richter,
um eine Entscheidung
zu treffen.

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