Süddeutsche Zeitung - 15.10.2019

(Chris Devlin) #1
Es heißt, die Achua seien furchtlose Krie-
ger.UndzumindestfürJaimeVargasdürf-
te das zutreffen. Am Sonntagabend saß er
in Quito an einem Verhandlungstisch, mit
Federkrone und Gesichtsbemalung, ihm
gegenüber Lenín Moreno in zerknitter-
tem Hemd und mit Augenringen. Ecua-
dors Präsident erklärte, man werde die
Sparmaßnahmen zurücknehmen, gegen
die seit knapp zwei Wochen Zehntausen-
de Menschen demonstriert hatten. Es war
eine Niederlage für Moreno und ein Sieg
für Vargas.
Der 40-Jährige ist der Anführer der
Konföderation der indigenen Nationen
Ecuadors (CONAIE), der größten Dachor-
ganisation der traditionellen Gemein-
schaften in Ecuador und jetzt eine der
Hauptkräfte bei den Protesten. Diese be-
gannen vor knapp zwei Wochen. Ecua-
dors Präsident hatte per Dekret eine gan-
ze Reihe von Sparmaßnahmen verab-
schiedet: Er kürzte den Urlaub derStaats-
angestellten, baute Arbeitsschutzvor-
schriften ab und strich vor allem die Sub-
ventionenaufTreibstoff.ÜberNachtwur-
de das Benzin so um ein Viertel teurer,der
Preis für Diesel stieg sogar um mehr als
120 Prozent. Die Regierung wollte somit
Milliarden einsparen. Ecuador ist hoch
verschuldet,undAnfangdesJahresmuss-
te das Land darum einen Kredit beim In-
ternationalen Währungsfonds aufneh-
men. Erleichterungen für Unternehmen
waren die Auflage, dazu aber auch Kür-
zungen bei den Ausgaben, vor allem der
teure Diesel traf dabei die ärmsten Teile
der Bevölkerung.
Als nach Eintreten der Sparmaßnah-
men am 3.Oktober die Bus- und Taxifah-
rer streikten, schlossen sich schnell auch
Gewerkschaften und Studentenvereini-

gungen den Protesten an, dazu rief aber
eben auch die CONAIE ihre Mitglieder
zum Widerstand auf. Gegründet Mitte
der Achtzigerjahre ist sie heute längst ei-
ne feste Kraft in der Politik des Landes
und hat in der Vergangenheit immer wie-
der zum Sturz von Präsidenten beigetra-
gen. Ein Großteil der indigenen Gemein-
schaften Ecuadors sind mittlerweile in
der CONAIE organisiert, darunter auch
dieAchua, dieein dicht bewaldetes Gebiet
im Amazonas zwischen Anden und dem
Fluss Pastaza bewohnen.
Hier kam Jaime Vargas zur Welt, schon
als junger Mann stieg Vargas in die Füh-

rung seiner Gemeinschaft auf, die heute
noch etwa 18000 Menschen umfasst. In
derProvinzhauptstadtPuyohaterVerwal-
tung und BWL studiert, Vargas hat die
RechteseinerNationschonvordemInter-
amerikanischen Gerichtshof vertreten,
und seit 2017 ist er Vorsitzender der CO-
NAIE. Sie kämpft heute für die Rechte der
Indigenen in Ecuador, aber auch gegen
den zunehmenden Raubbau von Boden-
schätzen, der vor allem in indigenen Ge-
bieten stattfindet. Viele Gemeinschaften
fühlen sich von der Regierung verraten,
dazu leben sie oft in abgelegenen Regio-
nen, die Kürzungen der Subventionen
treffen sie besonders hart.
Tausende folgten dem Ruf von Vargas
und der CONAIE und kamen zu Protesten
nach Quito. Die Demonstranten blockier-
ten Straßen und zogen in Protestmär-
schendurch dieStraßen.InderFolgekam
es immer öfter zu heftigen Auseinander-
setzungen mit der Polizei: Beamte wur-
den von Indigenen festgehalten, zugleich
gingen Sicherheitskräfte mit Knüppeln
gegen Demonstranten vor. Jaime Vargas
unddieCONAIE distanzierten sich vonje-
der Gewalt, zum Wochenende aber eska-
lierte die Situation, die Hauptstadt Quito
versank im Chaos. Moreno verhängte ei-
ne Ausgangssperre, setzte das Militär ein,
rief aber auch die indigenen Gruppen
zum Dialog auf.
DieumstrittenenSparmaßnahmensol-
len nun neu ausgehandelt werden, unter
Beteiligung der indigenen Gruppen. Viele
Demonstranten hatten die Verhandlun-
gen live im Fernsehen verfolgt, nach dem
Rückzieher der Regierung tanzten und
sangen sie auf der Straße. Sie feierten ih-
ren Sieg – und sie feierten ihren Anführer
Jaime Vargas. christo ph gur k

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D


em Konflikt zwischen Madrid und
Barcelona liegen falsche Prämis-
sen auf beiden Seiten zugrunde.

Die katalanischen Aktivisten verkünden,


dass sie vom spanischen Zentralstaat un-


terdrückt würden; doch internationale
Beobachter, an der Spitze die EU, wider-


sprechendem.Dennseitdem ToddesDik-


tatorsFrancovor44 Jahrenstimmtdieses


Argument nicht mehr. Die Zentralregie-


rung in Madrid aber ist fälschlicherweise


von der Annahme ausgegangen, dass die


Justiz das Problem lösen werde. Doch


spricht wenig dafür, dass dies geschieht.


Vielmehr dürften die harten Urteile bei

den bevorstehenden nationalen Wahlen


den separatistischen Parteien so viel Zu-


stimmungeinbringen,dassihreAbgeord-
neten weiterhin die Bildung einer Regie-
rung in Madrid sabotieren können – so
wie dies schon seit vier Jahren der Fall ist.
Nicht die Demütigung der Separatisten
führt aus der Krise, sondern nur deren
Rückzug in Ehren, den Madrid nun end-
lich ermöglichen sollte. Hier sind beson-
ders die oppositionellen spanischen Kon-
servativengefragt,diedurchihrebornier-
te Politik in den Jahren, als sie die Regie-
rungführten,dieKriseersthabeneskalie-
ren lassen und die nun jeden Dialog mit
den Separatisten als Verrat schmähen.
Dialog aber kann nie Verrat sein, sondern
es ist der einzige Weg zur Lösung des
Konflikts. th omas ur ban

von matthias dr obinski

H


atsichCarstenRentzingvomSau-
lus zum Paulus gewandelt? Der
Vergleich passt leider nicht auf
denNoch-Bischof derEvangelischenLan-
deskirche Sachsens, der vor 30 Jahren in
einer rechtsradikalen Zeitschrift Sätze
schrieb, die weder mit dem Grundgesetz
noch mit dem Evangelium in Deckung zu
bringensind.Paulus,derMissionar,rede-
te offen über seine Vergangenheit als
Christenverfolger, bei jeder Gelegenheit
und mit großer Zerknirschung: Ich weiß,
wie falsch ich damals lag, deshalb predi-
ge ich heute das Gegenteil.
Carsten Rentzing aber schwieg. Als es
vor vier Jahren zur Wahl des sächsischen
Landesbischofs ging, sagte er nicht: Es
gibt eine Vergangenheit, die ich zutiefst
bedaure – ach ja, vor zwei Jahren übri-
gens habe ich bei den Freunden von einst
einenVortraggehalten,eswirdmeinletz-
ter dort gewesen sein. Er hätte damit sei-
ne Wahl riskiert, aber es wäre ehrlich und
mutig gewesen. Sicher teilt der heutige
RentzingnichtmehrdieelitäreDemokra-
tieverachtung von einst. Seinen Rücktritt
habenabernichtmissgünstige Linkspro-
testanten bewirkt, die einen aufrechten
Konservativen gemobbt haben.
Gerade in Sachsen, wo mehr als jeder
vierte Wähler die AfD unterstützte,
bräuchte die evangelische Kirche einen
Bischof,dersichmit rechtenDenkweisen
auseinandersetzen kann. Es hätte gerade
ein Konservativer wie Rentzing klar den
Unterschied aufzeigen können zwischen
jenem christlichen Konservatismus, der
skeptischgegenüberallen irdischenIdeo-
logienzurWelt-undMenschheitsverbes-
serung bleibt, und den rechten Ideolo-
gen, die die Rettung der Nation durch
GruppenegoismusunddieAbwertungan-
dererpropagieren.Dochalles,wasderbis-
lang so schweigsame Bischof nun sagen
würde, wäre wenig glaubwürdig.

Die Evangelische Kirche in Deutsch-
land (EKD) aber wird diese Auseinander-
setzungmitdemgewachsenenRechtspo-
pulismus schärfer führen müssen, als sie
es selbst manchmal wahrhaben will –
auch daszeigtderüberraschendeFalldes
sächsischen Landesbischofs. Auch in der
evangelischen Kirche sind die Rechten
nicht die anderen. Sie gibt es im eigenen
Milieu. So entschieden sich die EKD für
die Rettung schiffbrüchiger Flüchtlinge
einsetzt, so demonstrativ der Kirchentag
die AfD nicht auf Podien lädt – in den Ge-
meinden, den Kirchenvorständen, den
kirchlichen Verbänden gibt es Christen,
die rechtes Gedankengut gar nicht so
schlecht finden, bei Protestanten mehr
noch als bei den Katholiken, ohne dass
die das Problem dadurch los wären.

Die Auseinandersetzung suchen heißt
zunächst: die Debatte führen und mit gu-
tenArgumenten widersprechen–wasan-
strengender ist, als sich bei Kerzenschein
der gemeinsamen Meinung zu versi-
chern. Der barmherzige Samariter tut
viel für den unter die Räuber gefallenen
Fremden – wo aber liegt die Grenze sei-
nes Engagements? Die Frage kann so
schwierig zu beantworten sein wie jene,
welchen Komfort- und Freiheitsverzicht
die Bewahrung der Schöpfung fordert.
Die Auseinandersetzung heißt aber
auch:klareGrenzenzuziehen.DieAbwer-
tung des Menschen wegen seiner Her-
kunft,Hautfarbe,Geschlechtodersexuel-
ler Orientierung widerspricht der Bot-
schaft Jesu. Und einen Rechtsstaat, der
die Würde des Menschen zum obersten
Ziel hat, sollten die Christen in Ehren hal-
ten – und nicht verachten, wie das bei
den Rechten populär geworden ist.

von daniel brössler

A


uf die Frage, warum der türkische
Präsident Recep Tayyip Erdoğan
seineTruppe inden Norden Syriens
hatvorrückenlassen,lautetdieausschlag-
gebende Antwort: Weil er es konnte. Das
liegt zum einen daran, dass ihm ein intel-
lektuell und charakterlich überforderter
US-Präsident freie Hand gelassen hat,
zumanderenaberauchdaran,dasseskei-
ne andere Macht gibt, auf die Erdoğan
glaubt, Rücksicht nehmen zu müssen. Die
USA hätten die Türkei stoppen können,
wollten es aber nicht. Die Europäer hätten
die Türkei gerne gestoppt, konnten es
aber nicht. Insofern sind die Menschen im
syrischen Grenzgebiet zur Türkei nicht
nur Opfer Erdoğans, sondern auch der
Ohnmacht Europas.
Die ersten europäischen Reaktionen
lassen nun zumindest den Wunsch erken-
nen, Erdoğan nicht weiter gewähren zu
lassen. Bundeskanzlerin Angela Merkel
hat eine Stunde lang am Telefon versucht,
den türkischen Präsidenten zur Umkehr
zu bewegen. Mehrere Länder haben einen
zumindestteilweisenStoppvonRüstungs-
lieferungen verkündet. Die EU-Außenmi-
nister haben nun alle Staaten der Union
aufgerufen, sich dem anzuschließen. Für
europäische Verhältnisse einhellig ist die
Empörung darüber, dass ein Land, das
Mitglied der Nato ist und offiziell immer
nochEU-Kandidat,eineZonerelativerRu-
he in ein Kriegsgebiet verwandelt, Zivilis-
ten ins Unglück bombt und noch mehr
Menschen in die Flucht treibt.
WelcheMöglichkeitenhatnunDeutsch-
land, um Erdoğan Einhalt zu gebieten?
Mit der Entscheidung, keine neuen Liefe-
rungenvonWaffenindieTürkeizugeneh-
migen, die in Syrien eingesetzt werden
könnten, hatdieBundesregierungbislang
das Mindeste getan. Schließlich wäre es
absurd, die Türkei auch noch mit neuen
Waffen für ein kriegerisches Vorgehen zu

versorgen, das die Bundesregierung als
völkerrechtswidrig einstuft. Da sich die
TürkeiindenvergangenenJahrenvermut-
lich ausreichend mit Kriegsgerät einge-
deckt hat, bleibt das allerdings eine Geste,
die keinen nennenswerten Eindruck ma-
chenwird.Druckmittelabergäbees.Inter-
essant ist, dass Erdoğan um das Telefonat
mitMerkelgebetenhatte.Vermutlichwoll-
te er herausfinden, ob ihm ernsthafter Är-
ger droht.

Das wäre dann der Fall, wenn sich die
Europäische Union entschließen würde,
wirtschaftliche Strafmaßnahmen zu ver-
hängen.US-PräsidentDonaldTrumphat-
te Erdoğan die Zerstörung der türkischen
Wirtschaft in Aussicht gestellt. Aus Brüs-
sel bedarf es keines solchen Tweets an der
Grenze zum Wahnsinn, um Erdoğan an
seineökonomischeVerwundbarkeit zuer-
innern. Die Abhängigkeit der Türkei vom
Handel mit der EU ist offenkundig. Gera-
de weil er das weiß, droht Erdoğan damit,
denFlüchtlingsdealmitderEUaufzukün-
digen und Millionen Migranten den Weg
nach Europa zu öffnen.
Würden die Europäer dieser Erpres-
sungnachgeben,kämedaseinergeopoliti-
schen Selbstaufgabe gleich. Nichts von
dem, was der türkische Präsident gerade
anrichtet, macht Europa sicherer, ge-
stärkt werden dadurch nur der islamisti-
sche Terror und das syrische Regime. Die
katastrophale Entwicklung ist auch euro-
päischer Schwäche geschuldet, Europa
sollte sich nun nicht noch weiter schwä-
chen. Ziel deutscher Politik muss es sein,
Erdoğan mit einer möglichst geschlosse-
nen und harten europäischen Reaktion zu
überraschen.Das wärezumindestein ers-
ter Schritt heraus aus der Ohnmacht.

I


n Deutschland gibt es ein Problem mit
Rechtsextremismus und Antisemitis-
mus. Das hat der Terroranschlag in

Halle erneut gezeigt. Innenminister Horst


Seehofer meint, eine dritte Gefahr er-


kannt zu haben: Computerspiele. Da viele


Täter aus der Gamer-Szene kämen, müs-


se man diese „stärker in den Blick neh-


men“. Tatsächlich spielen viele Terroris-


ten Videospiele – was sie mit 34 Millionen


anderenMenscheninDeutschlandverbin-


det. Seehofers Generalverdacht ist unsin-


nig.Mankönnteebensogutfordern, Män-


ner „stärker in den Blick zu nehmen“; 100


Prozent der Attentäter sind männlich.


Dennochist dieGamifizierungvonTer-

ror und Gewalt eine Gefahr. Junge Män-


ner, viele von ihnen frustriert, vernetzen
sich auf Gaming-Plattformen. Für ihre
Probleme machen sie Frauen, Juden,Aus-
länder verantwortlich. Der Tonfall ist rau
bis menschenverachtend, selbst Aufrufe
zuGewaltbleibenunwidersprochen.Spie-
le-Plattformen wie Steam ignorieren das
Problem und lassen den Hass wuchern.
Mit demMediumVideospielansichhat
das aber nichts zu tun, es betrifft nur ei-
nen kleinen Teil der Szene. Niemand
tötet, weil er Computerspiele spielt. Es
braucht daher keine neue Killerspiel-De-
batte, sondern einedifferenzierte Diskus-
sionüberRassismus,JudenhassundFrau-
enverachtung,diesichanbestimmtenOr-
ten im Netz ausbreiten. simon hurtz

S


tuttgarts Luft wird besser, aber sie
ist noch lange nicht gut genug. Die
Autostadt ist weit entfernt von der

dringend nötigen Mobilitätswende. Dass


Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) zu


Beginn der neuen Feinstaubalarm-Perio-


de darauf drängt, den Verkehr innerhalb


des City-Rings schneller zu reduzieren,


zeigt,dassihmdiebisherigenVersäumnis-


se zumindest bewusst sind.


NochimmergiltfürStadt-undLandes-

regierung als oberstes Gebot, ein flächen-


deckendes Fahrverbot für Diesel nach der


Euro-5-Norm zu vermeiden. Deshalb


wird mit Filtern und anderen Übergangs-


lösungen experimentiert, deshalb sollen


jetztalleAutosnurnochmitTempo40un-


terwegssein.BeidepolitischenEbenenha-
ben bisher versucht, die Zumutungen für
die Autofahrer so gering wie möglich zu
halten und parallel dazu den Umstieg auf
öffentliche Nahverkehrsmittel, aufs Fahr-
rad und elektrisch betriebene Motorroller
attraktiver zu machen. Das reicht nicht.
Weniger Autos im inneren Stadtbe-
reich, wie jetzt erneut von Kuhn angekün-
digt, sind ein nettes Signal. Aber das ei-
gentliche Problem liegt nicht innerhalb
des City-Rings. Es sind die mehrspurigen
Bundesstraßen, die den Ring bilden, und
auf denen sich täglich Zehntausende Au-
tos durch die Stadt quälen. Um Stuttgart
lebenswerter zu machen, sind radikalere
Lösungen gefragt. cla udia henzl er

E

s ist ein hartnäckiger Mythos,
dass die Polen als Pioniere bei
derDemontagedesKommunis-
mus engagierter, freiheitslie-
benderunddemokratischersei-

enalsandereVölker.DasssiedeshalbBau-


ernfängern wie Jarosław Kaczyński nicht


auf den Leim gingen. Stattdessen haben


sie der populistisch-nationalistischen PiS


bei der Parlamentswahl 44 Prozent der


Stimmen geschenkt – es ist der höchste


Wahlsieg einer Partei seit dem Fall des


Kommunismus.


Die Polen waren nie so freiheitsliebend

und engagiert, auch wenn das der Mythos


umLechWalęsaundseinebis zuzehnMil-


lionen Mitglieder zählende Gewerkschaft


Solidarność glauben machen wollen. Die


echten Solidarność-Aktivisten im Unter-


grund zu Zeiten des Kriegsrechts in Polen


machten ein paar Tausend Menschen aus.


Schon Mitte der Achtzigerjahre stellte der


Warschauer Historiker Franciszek Ryszka


in einer Studie fest: Je ein Viertel der Po-


len seien Anhänger oder Gegner des Sys-


tems, der Rest sei schlicht gleichgültig


oder pflege nur noch das Private.


Daran hat sich bis heute grundsätzlich

nichts geändert. Als die PiS-Regierung


nach knapp eineinhalb Jahren im Amt die


Unabhängigkeit des Verfassungsgerich-


teskassiertundetlicheweitereRechtsbrü-


che begangen hatte, gaben im Jahr 2017


bei einer Ipsos-Umfrage 46 Prozent der


befragten Polen an, ihnen sei Wohlstand


wichtiger als Demokratie. Auch im Ver-


gleich mit anderen früheren Staaten des


Ostblocks haben sich viele Polen nicht mit


Ruhm bekleckert.


DieRumänen etwa demonstrierten seit

Jahren im ganzen Land immer wieder ge-


gen die Umtriebe ihrer postkommunisti-


schen Skandalregierung. Im Mai straften


sie diese bei der Europawahl ab und hal-


bierten die Regierungspartei von 45 auf


22,5 Prozent der Stimmen. Vergleichba-


res nachhaltiges Engagement blieb in Po-


len aus. Selbst die Wahlbeteiligung ist seit


jeher niedrig. Bei den ersten freien Wah-


lenimJahr1989 gabennurgut62 Prozent


ihreStimme ab – ein Wert, der erst an die-


sem Sonntag fast wieder erreicht wurde.


Doch auch jetzt blieben bei der wichtigs-


ten Abstimmung seit drei Jahrzehnten


knapp 40 Prozent der Polen passiv und


gleichgültig.


ZuallemÜberfluss aber:Viele Polenha-

ben sich sehenden Auges kaufen lassen.


Gewiss, die gespaltene Opposition zeigte


erhebliche Schwächen. Und Millionen Po-


len sind beispielloser Propaganda durch
das Staatsfernsehen TVP ausgesetzt, das
seit2016 mitManipulationen,Auslassun-
genundLügenvor allemaufdemLanddie
Meinung macht. Doch das entscheidende
Moment für den PiS-Erfolg ist schlicht:
Stimmenkauf. Die Partei setzt erfolgreich
aufjenePolen,diehierundheutebesserle-
ben wollen – gleichgültig, wer wann spä-
ter die Zeche zahlt.
Die PiS ist nicht nur von fast all jenen
wieder gewählt worden, die schon 2015
für sie stimmten. Umfrageanalysen zu-
folge kamen mehrere Millionen Neuwäh-
ler erst in den vergangenen Monaten hin-
zu. Gelockt wurden sie von PiS-Chef
Jarosław Kaczyński, der das Kindergeld
erheblich ausweitete, junge Polen bis 26
von der Einkommensteuer befreite,
SonderzahlungenfüralleSchulkinderein-
führte. Sie kamen auch, weil ihnen
KaczyńskifürdieZeitnachderWahlweite-
reWohltatenversprach,vonhöherenRen-
ten bis zu einer Verdoppelung des Min-
destlohns.Es waren diese Wohltaten, wel-
che die PiS von knapp 38 Prozent vor vier
Jahren auf nun 44 Prozent emporhoben.
Seine teuren Versprechen wird Kaczyński
zumgroßenTeilumsetzen,schließlichsol-
len die ihn auch nach 2023 an der Macht
halten.
VielePolengabeneinerParteiihreStim-
me, die ihre Abwahl redlich verdient ge-
habt hätte. Weil sie den Rechtsstaat nahe-
zu vollständig beseitigt hat und die Reihe
der atemberaubenden Skandale immer
länger wird. Ernüchternd ist, dass viele
PiS-Wähler sich keinerlei Illusionen ma-
chen. 40 Prozent von ihnen haben diese
Regierung wiedergewählt, obwohl sie da-
mit rechnen, dass sie den Rechtsstaat und
die Demokratie weiter abbaut.
Dass er dies vorhat, daraus hat
Kaczyński, der eigentliche Regierungs-
chef Polens, vor der Wahl keinen Hehl ge-
macht. Die letzten Bastionen einer unab-
hängigen Justiz, vor allem das Oberste
Gericht, dürften schon in den nächsten
Monaten geschleift werden. Dabei setzt
Kaczyński offenbar darauf, dass die neue
EU-Kommission lieber bellt als beißt und
die Sanktion, die Polen wirklich treffen
würde–StreichenoderEinfrierenderFör-
dermilliarden – auf dem Papier bleibt.
Auch Polens Bürgerrechtskommissar
und die wenigen noch unabhängigen Me-
dien werden verstärkt unter Druck gera-
ten. Der demokratischen Opposition im
Land bleibt nur eine kleine Hoffnung auf
die im Frühjahr 2020 folgende Präsiden-
tenwahl. Ein Staatsoberhaupt aus den
Reihen der Opposition könnte illegale Ge-
setze mit seinem Veto verhindern, anders
als der jetzige PiS-Mann Andrzej Duda,
dernochdieübelstenRechtsbrüchemitge-
tragen hat.

Armut ist ein großes Wort,
ein übergroßes. Denn Armut
bedeutet nicht nur einen
Mangel an Geld, bedeutet
nichtnurdieUnfähigkeit,sei-
ne Bedürfnisse zu befriedigen, und kei-
nen Zugang zu sauberem Wasser zu ha-
ben; Armut bedeutet auch einen Mangel
an Bildung, an Kontakten, an Sicherheit,
an gesellschaftlicher Teilhabe. So kom-
plex das Problem, so kontrovers wird
auch immer wieder über die Definition
diskutiert. Ist man arm, wenn man sich
nurToastbrotleistenkann,weildieMiete
schon alles verschlingt? Oder ist man erst
arm, wenn das Geld nicht ausreicht, um
überhauptzuessen?FolgtmanderDefini-
tion der Weltbank, ist ein Mensch dann
extremarm, wennerwenigerals1,90 Dol-
lar am Tag zur Verfügung hat. Demnach
lebten 2015 weltweit rund 700 Millionen
Menschen in extremer Armut. Während
die Weltbank mit absoluten Zahlen argu-
mentiert, gibt es auch Definitionen, die
Armut relativ beschreiben, also im Ver-
hältnis zu anderen. So gilt man in Europa
als armutsgefährdet, wenn man über we-
niger als 60 Prozent des mittleren Ein-
kommens der Gesamtbevölkerung ver-
fügt. 2018 waren 15,5 Prozent der Deut-
schen armutsgefährdet. Drei Ökonomen,
dieihreForschungdergroßenFragewid-
men, wie man globale Armut bekämpfen
kann, haben dafür nun den Wirtschafts-
nobelpreis erhalten. fzg

4 HF2 (^) MEINUNG Dienstag, 15.Oktober 2019, Nr. 238 DEFGH
SPANIEN
Dialog ist kein Verrat
FOTO: AFP
EVANGELISCHE KIRCHE
Der sprachlose Bischof
EUROPA UND DIE TÜRKEI
Schritte aus der Ohnmacht
VIDEOSPIELE
Unter Generalverdacht
STUTTGART
Große Straßen, schlechte Luft
sz-zeichnung: sinisapismestrovic
POLEN
Teuer erkaufter Sieg
von fl orian hassel
AKTUELLES LEXIKON
Armut
PROFIL
Jaime
Vargas
Mächtiger Anführer
der Indigenen
in Ecuador
Christen müssen die Debatte
suchen. Sie müssen sich aber
nach rechts klar abgrenzen
Die EU darf sich nicht mit
dem Flüchtlingsdeal erpressen
lassen von Erdoğan
Viele wählten die Regierung,
obwohl sie damit rechnen,
dass es der Demokratie schadet

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