GRÜNER LEBEN
Kautabletten statt
Zahnpasta, Kokosöl
statt Bodylotion
Illustration: Tine Fetz für DIE ZEIT
Ohne Schadstoffe, ohne Spaß
Unsere Autorin KATHARINA HECKENDORF hat eine Woche lang auf hormonverändernde Chemikalien verzichtet – dann begann sie zu müffeln
V
erzichten kann ich leicht, so
dachte ich jedenfalls: Ich trinke
keinen Coffee to go, esse kein
Fleisch und habe vier Jahre ve-
gan gelebt. Überhaupt fühle ich
mich recht ökologisch. Ich be-
nutze Spültücher ohne Mikro-
plastik, trinke Leitungswasser und koche fast je-
den Tag frisch. Mindestens die Hälfte meines
Einkaufs besteht aus Bio-Lebensmitteln.
Für diesen Text will ich aber eine Woche lang
etwas ganz anderes vermeiden: endokrine Schad-
stoffe. Stoffe also, die Hormone beeinflussen und
die für Fettleibigkeit, Diabetes, Unfruchtbarkeit
und Krebs mitverantwortlich gemacht werden.
»Zeitbomben für die menschliche Gesellschaft«
nennt sie Josef Köhrle, Präsident der Deutschen
Gesellschaft für Endokrinologie und ehemaliger
Direktor des Instituts für Experimentelle Endo-
krinologie an der Berliner Charité. »Der Gesetz-
geber überlässt das Problem weitgehend dem Markt
und seinen Lobbygruppen, und die Schadstoffe sind
weiterhin überall.«
Mein Selbstversuch entpuppt sich schnell als
überaus anspruchsvoll. Mehr als 800 Varianten der
problematischen Stoffe gibt es. Die Weichmacher
Bisphenol A (BPA) und Phthalate sind am bekann-
testen. Sie stecken in Lebensmittelverpackungen,
sind Kosmetika zugesetzt, haften als Flammschutz-
mittel auf Matratzen und Backpapier oder bleiben
als Pestizid-Rückstände auf Obst und Gemüse
zurück. Der Körper nimmt sie über die Nahrung,
die Lunge und die Haut auf. »Die in Deutschland
vertriebenen kosmetischen Produkte sind sicher
und verträglich«, schreibt der Industrieverband
Körperpflege und Waschmittel auf seiner Web site.
»Kunststoffverpackungen für Lebensmittelkontakt,
die auf den EU-Markt gebracht werden, sind aus
unserer Sicht sicher«, sagt Fang Luan, Referentin
der Industrievereinigung Kunststoffverpackungen,
die Europäische Lebensmittelbehörde habe die
»Grenzwerte bereits sehr konservativ festgesetzt«.
Köhrle rät Verbrauchern dennoch, die Stoffe zu
meiden: »Die hormonell bedenklichen Stoffe kön-
nen in geringeren Dosen sogar gefährlicher sein als
in großen.« Der im Körper entstehende Cocktail
verschiedenster Chemikalien sei bedenklich.
Die App zeigt: Überall in meinen Schränken
finde ich hormonwirksame Produkte
Je näher mein Versuch rückt, desto mehr ahne ich:
Das ist Wahnsinn! Als Erstes scanne ich alle Haus-
halts- und Kosmetikprodukte in meinen Schränken
mit der App »Code check«. Diese listet die Schad-
stoffe auf, die ich vermeiden soll: In fast allen Pro-
dukten sind hormonwirksame Stoffe enthalten.
Make-up, Zahnpasta und Abschminktücher sind
besonders bedenklich. Da alles in Plastik verpackt
ist, aus dem Chemikalien in die Produkte überge-
hen können, verbanne ich sogar die Naturkosme-
tika. In dieser Woche sind nur Bio-Lebensmittel
erlaubt, denn auch Pestizide sind hormonell wirk-
sam. Zudem keine Konserven, keine Tetrapaks, kein
Plastik, kein Alu. Essen darf ich nur Bio-Kost, die
gar nicht oder in Glas und Papier verpackt ist.
Schon am Gemüseregal im Supermarkt bin ich
frustriert. Fast alle Bio-Lebensmittel sind in Plastik
verpackt. Ich drehe um, jetzt heißt es Planände-
rung. Wieder zu Hause, wasche ich alte Marme-
ladengläser aus, krame mein Bienenwachstuch zum
Einschlagen aus der Schublade und laufe los. Vier
(!) Stunden später, nach Einkäufen in der Drogerie,
im Bio-Laden und im Unverpacktladen, sitze ich
auf einer Bank, auf halbem Wege zu meiner Woh-
nung, und habe meine erste Krise. Mindestens zehn
Kilo Lebensmittel stecken in meinem Rucksack.
Es ist 15 Uhr, ich habe immer noch nichts gegessen,
und mir tut alles weh. Wie konnte ich nur so
dumm sein?
Am ersten Tag esse ich nur Brot mit Aufstrich,
zu jeder Mahlzeit. Irgendwie aus Trotz, denn Ko-
chen erscheint mir zu kompliziert. Am zweiten Tag
koche ich Schakschuka – im Topf, da auch be-
schichtete Pfannen Weichmacher enthalten. Im
Laufe der Woche wird es leichter. In einem Bio-
Laden bekomme ich Reis und Nudeln in Papier,
passierte Tomaten, Sahne und Milch im Glas, Bio-
Eier, dazu frisches Obst und Gemüse. Statt Schoko-
lade löffle ich abends Schokocreme. An den folgen-
den Tagen gibt es Dinkelnudeln in Pilz-Sahne-
Soße mit Rucola; Salat, Kartoffeln und Rührei (mit
viel Öl geht das auch in der Edelstahlpfanne);
Penne mit Mangold-Kürbis-Soße. Langsam läuft’s.
Frustrierend: Viele Bio-Käse werden mit
einer Kunststoffschicht haltbar gemacht
Die ganze Woche über suche ich nach Käse, nach
Parmesan zu den Nudeln etwa. Ich war mit meinem
Bienenwachstuch in jedem nahen Bio-Markt. Dort
wird der Käse vom Laib in Stücke geschnitten und
sofort in Frischhaltefolie verpackt. Viele Bio-Käse
werden mit einer Kunststoffschicht haltbar ge-
macht. Diese Inkonsequenz macht mich wütend:
Da investiert man viel Zeit und Mühe, um Lebens-
mittel und Rohstoffe ohne Pestizide anzubauen,
und packt sie dann wieder in Plastik ein. Auf dem
Wochenmarkt finde ich zwar unverpackten Käse,
allerdings nicht in Bio-Qualität. Ich bin frustriert.
Ich beginne zu verwahrlosen. Die Woche zehrt
an den Nerven. Meine Haare wasche ich mit Haar-
seife. Sie fühlen sich pappig und fettig an. So fest
ich unter der Dusche reibe und versuche, die Seife
zum Schäumen zu bringen, die Haare bleiben die
ganze Woche über fettig. Laut Internet soll eine
Spülung mit Essig helfen. Bei mir nicht. »Du siehst
aus, als hättest du seit einer Woche 40 Grad Fieber«,
resümiert mein Freund.
Überhaupt die Körperpflege: Die ersten Tage
finde ich kein passendes Deo – und verzichte. Mir
bangt vor dem Gang ins Fitnessstudio. Glücklicher-
weise sind dort so viele Menschen, dass man mich
nicht herausriechen kann. In der Drogerie finde ich
schließlich Öko-Deo im Glas, stolze neun Euro für
eine kleine Dose. »Highlight«, so steht es auf der
Verpackung, »neutralisiert auch bereits entstande-
nen Körpergeruch.« Das überzeugt mich.
Meine Zähne putze ich mit einer Holzzahnbürs-
te mit Bio-Nylon-Borsten aus Rizinusöl. Ich nutze
Zahnpasta-Tabletten, die man kauen muss, bis sie
schäumen. Fühlt sich wie Mehl an. Wirklich sauber
werden meine Zähne nicht. Widerlich. Gesichts-
creme finde ich in Braunglas in Bio-Qualität – zwar
mit Plastikdeckel, aber immerhin. Ansonsten ist
die Suche erfolglos. Ständig halte ich in der Droge-
rie Attrappen in der Hand: Der Öko- Hype scheint
die Firmen dazu zu verleiten, Dinge so zu verpa-
cken, dass sie den Anschein erwecken, als seien sie
supernachhaltig in Braunglas oder Papier verpackt,
am Ende ist es aber doch nur Plastik.
Statt Bodylotion benutze ich Kokosöl in Bio-
Qualität in Glas verpackt, also frei von schädlichen
Stoffen. Kurzum: In dieser Woche rieche ich mal
nach Bounty, mal nach Salatdressing, mal nach
Schweiß. Die Freude über mein neues Deo währt
nur kurz: Nach einer Kajaktour rieche ich »nach
Klostein«, sagt mein Freund. Auch Kontaktlinsen
sind tabu, sie sind aus Plastik. So muss ich zu alle-
dem auch noch mit meiner Brille rumlaufen, deren
Gestell schon lange aus der Mode gekommen ist.
Die ist zwar auch aus Plastik, aber besser so, als auf
der Suche nach Unverpacktem halb blind vom Bus
überfahren zu werden.
Nach einer Woche bin ich zwar recht schadstoff-
frei, traue mich aber kaum mehr aus dem Haus.
Zum Einkaufen gehe ich mit Mütze und Sonnen-
brille. Alle Termine habe ich abgesagt. Um komplett
auf alles zu verzichten, müsste ich an einen Ort fernab
jeglicher Zivilisation ziehen. Streng genommen müss-
te ich mich mit einer Kutsche dorthin bringen lassen,
denn auch Feinstaub ist hormonwirksam.
Ein kompletter Verzicht ist unmöglich, merke ich.
Wahrscheinlich sind alle Produkte, die ich in dieser
Zeit gekauft habe, zumindest bei der Abfüllung durch
Plastikschläuche gelaufen. Auch die Kennzeichnungen
der Produkte sind ungenügend. So sind einige
Schraubdeckel der Gläser mit Weichmachern ver-
sehen. Für Laien ist das aber nicht erkennbar.
Ich rufe den Ökotoxikologen Jörg Oehlmann von
der Universität Frankfurt an, weil ich wissen will, wa-
rum der Handel die Stoffe nicht einfach ersetzt. »Die
Liefer- und Herstellungsketten sind so komplex, dass
der Handel komplett überfordert ist«, sagt er. Auch
Produkte zu kennzeichnen sei schwierig: »Da werden
Pellets von Kunststoffen verarbeitet, da überblickt
keiner mehr, was da an Rohstoffen eingebracht wur-
de.« Er hofft auf Innovationen: »Ideal wäre ein Kunst-
stoff, der aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt
wird, biologisch abbaubar ist und keine bedenklichen
Zusatzstoffe enthält.« Endokrinologe Köhrle erinnert
an das Vorsorgeprinzip, das in der EU gilt. »Eigentlich
werden Stoffe erst dann in Umlauf gebracht, wenn
man beweisen kann, dass sie unbedenklich sind. Wie-
so gilt das hier nicht?« Das frage ich mich auch.
Ich beschließe am Ende meines Selbstversuchs,
wenigstens etwas zu ändern. Ich werde mehr Natur-
kosmetik verwenden, mit Öko-Waschmittel waschen,
mit Natron oder Essig putzen. Ich werde so viel wie
möglich plastikfrei kaufen und mir eine gusseiserne
Pfanne ohne Beschichtung zulegen. Am letzten Abend
meines Versuchs gibt es Burger mit selbst gemachten
Kichererbsen-Haferflocken-Pattys und Ofenkartof-
feln. Später schrubbe ich das verkrustete Backblech.
Gut, dass Backpapier nun wieder erlaubt ist.
Vier Stunden dauert es,
zehn Kilo unbedenkliche
Lebensmittel einzukaufen
Gebraten wird in
unbeschichteten Pfannen,
auf Backpapier wird verzichtet
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- OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44 WIRTSCHAFT 29
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