Friedrich Fuß auf dem Dach des Bonner Stadthauses, von wo aus er als Chief Digital Officer die Verwaltung modernisiert
Foto: Ansgar Dlugos für DIE ZEIT; kl. Bild: Westend61
»Gibt’s das auch digital?«
Eigentlich war Friedrich Fuß schon in Rente. Dann rief die Stadt Bonn an. Jetzt digitalisiert der 62-Jährige die Stadtverwaltung VON MAREIKE MÜLLER
W
enn im Bonner Stadt-
haus ein Termin mit
Friedrich Fuß ansteht,
wissen alle, dass sie wich-
tige Dokumente am bes-
ten an die Wand projizie-
ren. Denn Fuß’ Abnei-
gung gegen Papier hat sich in der Stadtverwaltung
bereits herumgesprochen. »Papier nehme ich
grundsätzlich nicht mit«, erklärt der 62-Jährige in
solchen Fällen seinen jüngeren Kollegen. Mit Snea-
kers, grauer Jeans und einer abgewetzten Lederta-
sche sticht er in der Verwaltung heraus – besonders
in seiner Altersklasse. Dann folgt die Frage, die er
auch an diesem Mittwoch in jeder einzelnen Be-
sprechung stellen wird: »Gibt’s das auch digital?«
Fuß trägt den Titel des Chief Digital Officers
(CDO) der Stadt Bonn. In dieser Funktion soll er
dafür sorgen, dass die Stadt ihren Bürgern mehr
digitale Dienstleistungen anbieten kann. Bis 2025,
so der Plan, will er Bonn zur »Smart City« machen,
zur intelligentesten Stadt in Nordrhein-Westfalen,
»innovativ und bürgerorientiert«. Dazu will Fuß nicht
nur die Leistungen für die Bürger digitalisieren – er
will die Arbeitsweise der gesamten Verwaltung
revolutionieren.
Ein festes Büro hat er nicht, sein Arbeitsplatz
ist dort, wo sein Laptop steht
Dabei ist Fuß auf den ersten Blick kaum digital un-
terwegs: Facebook nutzt er nur »undercover«, wie er
sagt, Instagram hat er wieder gelöscht, auf Twitter
(Name: @cdobonn) hat er noch nicht einmal 300
Follower. Seinen ersten Tweet postete er im März
2018, nach drei Monaten im Amt. »Die Diskussio-
nen dort finde ich nicht wirklich gehaltvoll«, erklärt
Fuß. Deshalb ist er lediglich in Karrierenetzwerken
wie LinkedIn und Xing aktiv. Digitale Technologien
nutze er, wann immer es geht, nur eben jenseits des
Hypes um soziale Medien. Kann so einer die Ver-
waltung von Papier auf Bits und Bytes umstellen?
Der Job des CDO kommt ursprünglich aus der
Privatwirtschaft. Wer einen solchen Titel führt, soll
im Unternehmen die Digitalisierung vorantreiben.
Aber inzwischen gibt es derartige Positionen in immer
mehr öffentlichen Verwaltungen. Neben Bonn leisten
sich auch München, Hamburg und Düsseldorf, aber
auch viele kleinere Städte CDOs. Sie sollen dafür
sorgen, dass die Bürger das Kindergeld, die Hunde-
marke und die Biotonne online beantragen können,
Parktickets mit dem Handy lösen und insgesamt
weniger Zeit auf dem Amt verbringen. Bis das Rea-
lität ist, heißt es weiter: Schlange stehen.
An diesem Mittwochmorgen gehen viele Mitar-
beiter an ihrem CDO vorbei, ohne es zu bemerken.
Der sitzt an einem kleinen Plastiktisch im Eingangs-
bereich des Stadthauses, des Hauptsitzes der Ver-
waltung. Ein Büro hat er nicht, Fuß’ Arbeitsplatz ist
dort, wo sein Laptop ist. Während die Bürger ein und
aus gehen, geht Fuß auf seinem Smartphone die
Termine des Tages durch: eine Sitzung über die neue
Website der Stadt, ein Treffen mit Beratern zur Digi-
talstrategie, Mittagessen, Prozessanalyse im Bürger-
service-Portal, die Vorbereitung einer Digitalkonfe-
renz, am Abend ein Vortrag über Digitalisierung im
Mittelstand. Viele Sitzungen, ein langer Tag.
Dabei müsste Fuß längst nicht mehr arbeiten.
Mit 54 Jahren begann sein Vorruhestand, die Ma-
nagementkarriere bei der Telekom machte es mög-
lich, auch dort hatte er die Digitalisierung voran-
getrieben. Zu Rentenbeginn genoss er die Freizeit,
hörte Rock und Pop auf WDR 4, fuhr abwech-
selnd mit einem seiner beiden Porsche, radelte den
Rhein entlang. Irgendwann machte Fuß eine Coa-
ching-Ausbildung, hielt Managementvorlesungen,
begann, angehende Führungskräfte zu beraten,
auch ehrenamtlich. Als der Bonner Oberbürger-
meister anfragte, zögerte Fuß nicht lange, er be-
schloss: »CDO ist jetzt mein Hobby.« Und ver-
legte seine Aktivitäten in die Behörde.
Sein Arbeitstag beginnt an jenem Mittwoch im
September pünktlich um 9 Uhr. Bei der ersten Kon-
ferenz des Tages geht es um die neue Website der
Stadt, am Wochenende war sie für einige Stunden
ausgefallen. Wer hat in solchen Fällen Bereitschaft?
Wie wird die Arbeitszeit vergütet? Wie können Mit-
arbeiter IT-Pannen vermeiden? Die Gruppe macht
Vorschläge, ein Teamleiter merkt sie sich. Fortan
werde er auf Protokolle verzichten – zu viel Arbeit.
Nach der Besprechung empört sich Fuß vor Mitarbei-
terinnen über dessen Arbeitsweise: »Völlig kontra-
produktiv! Unfassbar! Zumindest eine Aufgabenliste
brauchen wir!«
Fuß kennt die Eigenarten der Verwaltung aus
eigener Erfahrung. Nach dem Studium der Nach-
richtentechnik und einigen Jahren als Bundeswehr-
offizier begann er 1988, im Staatsdienst zu arbeiten,
damals noch bei der Post. Ein Jahr später folgte die
Privatisierung, die Telekom ging aus der Post hervor,
Fuß ging mit. Stieg auf bis zum technischen Ge-
schäftsführer, 22 Jahre und sieben Monate im Kon-
zern. Die Arbeit in der Wirtschaft gefiel ihm. Im
Stadthaus folgte die Ernüchterung: »Ich hätte ge-
dacht, dass sich auch die Verwaltung in der Zwischen-
zeit weiterentwickelt hätte.«
Fuß eilt zur nächsten Besprechung im historischen
Rathaus, 500 Meter, 715 Schritte. Die zählt die Fitness-
WAS BEWEGT FRIEDRICH FUSS?
Uhr in seiner Hosentasche. In der ledernen Umhän-
getasche ist nur das Nötigste: iPad, Laptop, zwei
Handys. Die legt er auf den Tisch, als er das Berater-
team trifft. »Was die wollen, weiß ich auch nicht so
genau«, sagt er mit einem Schulterzucken. Einer der
Gäste verteilt ein Heft zur Digitalstrategie der Stadt.
Fuß fragt: »Gibt’s das auch digital?« Die Antwort,
etwas verlegen: »Ich schicke das am Nachmittag.« Das
Papier schaut Fuß kaum an, seine Kollegen tippen auf
ihren Tablets.
Einige CDOs anderer Städte sind Beamte. Fuß
aber ist selbstständig, er nennt sich »Management-
berater, Personalentwickler und Top Executive
Coach«. 4000 Euro zahlt ihm die Stadt Bonn für 20
Stunden im Monat, tatsächlich arbeite er, manchmal
auch im Homeoffice, meist 40 Stunden – pro Woche.
Der Blick von außen mache vieles leichter, so Fuß,
den Hierarchien wenig interessieren. Er unterbricht
Abteilungsleiter, kritisiert, fragt immer wieder nach
der Nutzerperspektive. Fuß findet: »Unser Kunde ist
der Bürger.« Ein Kollege sagt: »Damit trifft er den
richtigen Nerv. Das kann er nur, weil er von außen
kommt. Aber das ist auch gut so.«
Nach dem Treffen isst Fuß zu Mittag, strikt nach
Ernährungsplan – er versucht gerade abzunehmen.
Jeden Morgen springt er außerdem Trampolin, das
Gerät hat er in seinem Badezimmer aufgestellt. 15
Minuten vor der Mahlzeit leuchtet sein Handydisplay
auf, eine App erinnert ihn im 16-8-Rhythmus ans
Intervall-Fasten: 16 Stunden lang isst er nichts, in
den folgenden acht darf er Nahrung zu sich nehmen.
Beim Bezahlen hält er sein Handy an das Kartenlese-
gerät. Trinkgeld akzeptiert es nicht. Aus seiner Hosen-
tasche kramt er widerwillig einige Münzen. Für solche
Fälle hat er immer etwas Bargeld dabei.
Bezahlen mit dem Handy ist in vielen Ländern
normal, nicht jedoch in Deutschland. Fuß ärgert das.
Bei öffentlichen Leistungen ist das ähnlich, im ak-
tuellen EU-Ranking zum »digitalen Fortschritt von
Wirtschaft und Gesellschaft« erreicht Deutschland
bei den Angeboten der Verwaltung nur Platz 24 – von
28 Staaten.
Zurück im Stadthaus, steht ein Treffen mit Fuß’
sechsköpfigem CDO-Team an, die Mitarbeiter
könnten seine Enkel, mindestens aber seine Kinder
sein. Zwischen senfgelben Stellwänden und hell-
grünen Schreibtischen auf grauem Teppichboden
erklärt er, wie sie Anwendungen auf ihren Tablets mit
dem Laptop synchronisieren, um das nächste »Smart-
City-Board« virtuell zu planen. Als sein Handy
klingelt, unterbricht er die Besprechung: Sein Sohn
Felix ruft über FaceTime aus den USA an.
Bei Felix ist es sechs Uhr morgens. Seit er im
Silicon Valley arbeitet, sprechen die beiden mit ein-
an der nur noch Englisch, tauschen sich regelmäßig
über technische Neuigkeiten aus, Geräte, Pro-
gramme, Codes. Und über Mitarbeiterführung:
»Digitalisierung funktioniert nur, wenn alle mit-
machen. Die ganz oben habe ich schon hinter mir.
Die Wichtigsten sind aber die Angestellten«, sagt
Fuß Senior. 7000 gibt es davon, 1000 von ihnen
haben kein Internet am Arbeitsplatz. Sein Sohn
kennt die Herausforderungen. Gerade deshalb
findet er: »Ich bin fasziniert vom Job meines Vaters.
Er macht das toll.«
Er hat kein eigenes Budget, um Geld vom
Bund muss sich die Stadt bewerben
Und das beinahe ohne zusätzliche Mittel. In
Deutschland stellen Bund und Länder rund zwei
Mil liar den Euro bereit, um die Verwaltung zu di-
gitalisieren. Das Geld muss bis 2022 reichen, bis
dahin sollen alle Verwaltungsleistungen online an-
geboten werden, insgesamt gibt es rund 575 ver-
schiedene davon. Doch Städte müssen sich für
Gelder aus dem Topf erst bewerben. So gab es in
Bonn zwar einmal die Hoffnung auf 19 Millionen
Euro an Fördermitteln, doch der Antrag wurde
vom Bundesinnenministerium abgelehnt.
»Ich bin auch ein wenig froh darüber«, sagt
Andreas Leinhaas, der die Bewerbung damals in nur
acht Wochen gemeinsam mit Fuß verfasst hatte.
Leinhaas leitet bei der Stadt das Personal- und Orga-
nisationsamt. Vorsichtig fügt er hinzu: »Manchmal
müssen wir ihn bremsen. So ein Fritz Fuß reißt Wän-
de ein, und das oft sehr schnell. Als Verwaltung müs-
sen wir dann schauen, wie wir hinterherkommen.«
Um halb sechs ist Fuß einer der Letzten im
Stadthaus. Aber er hat noch einen Termin. Dies-
mal als Rentner, nicht als CDO. Er will zu einer
Veranstaltung seiner früheren Kollegen aus der
Privatwirtschaft. Fuß nimmt den Aufzug in die
Tiefgarage, zieht seine blaue Sportjacke an, setzt
sich hinter das Steuer seines Porsche-Cabrios.
Draußen sind es 25 Grad, er öffnet das Verdeck.
Auf dem Weg nieselt es, er atmet tief durch. Als er
bei dem Treffen in Bad Godesberg eintrifft, spricht
gerade die frühere Wirtschaftsministerin Brigitte
Zypries vor einer Gruppe von Männern. Mit den
meisten der anwesenden Manager und Professoren
ist er per Du, viele kennt er noch von seiner Zeit
bei der Telekom. Sie diskutieren über 5G, Virtual
Reality, Firmenbudgets in Milliardenhöhe.
Einer der Jüngsten in der Runde kommt auf Fuß
zu, stellt sich vor, reicht ihm seine Visitenkarte. Fuß
nimmt sie nur zögerlich, fragt dann: »Gibt’s die nicht
auch digital?«
Wer Kindergeld, eine Baugenehmi-
gung, eine Namensänderung oder
die Feinstaubplakette beantragen
will, braucht Zeit: Im Schnitt dauert
ein Behördengang in Deutschland
fast zwei Stunden. Laut einer Studie
des Digitalverbands Bitkom ver-
bringt jeder Zehnte sogar drei Stun-
den oder mehr auf dem Amt.
Damit soll bis 2022 Schluss sein:
Rund zwei Milliarden Euro wollen
Bund und Länder für die Digitalisie-
rung der Verwaltung bereitstellen.
Das Innenministerium leitet den
Prozess, die Bundesländer erstellen
die konkreten digitalen Angebote. So
ist Bremen federführend für den Be-
reich Familie und Kind zuständig,
Sachsen für Recht und Ordnung, 14
Teilbereiche gibt es insgesamt. Doch
bei der Umsetzung hakt es, bisher ist
noch keine einzige Leistung flächen-
deckend online nutzbar.
Wie viele Digitalchefs oder CDOs es
in deutschen Städten gibt, wird un-
terdessen nicht offiziell erhoben. Je-
der Verwaltung stehe es frei, wie sie
den digitalen Wandel gestalte, heißt
es beim Deutschen Städtetag.
Geburtsurkunde per
Mausklick
32 WIRTSCHAFT 24. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44