- OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44 WIRTSCHAFT 31
Foto: Focke Strangmann/ddp
W
underlich ist das deut-
sche Brauchtum oft ge-
nug und manchmal auch
ärgerlich: Während der
Riedlinger Fasnet im
südlichen Württemberg
treffen sich die Männer
zum Kuttelessen – Frauen dürfen nicht kommen,
dafür ist der grüne Ministerpräsident dabei. Nicht
weit enfernt im Weingarten reiten die Herren am
Tag nach Christi Himmelfahrt durch den Ort –
mit Abstand und zu Fuß dürfen beim »Blutritt«
auch die Damen folgen. Bremen wartet gleich mit
drei lupenreinen Männerfesten auf, Schaffermahl,
Tabakkollegium und Eiswette, doch es ist das Pro-
tokoll der überregional bekannten Eiswette, wel-
ches mittlerweile ernsthaften Missmut hervorruft.
Dass sie miteinander Spaß haben, gönnen die
Frauen den Kerlen; es ist vielmehr die öffentliche
Vorführung ihres Ausschlusses, die ihnen beim
deutschen Brauchtum auf die Nerven geht.
Die Eiswette geht auf das Jahr 1829 zurück.
Am Dreikönigstag wird rituell festgestellt, ob die
Weser zugefroren ist oder nicht. Das ist eher ein
Jux, denn der Fluss friert längst nicht mehr zu. Das
Entscheidende folgt dann zwei Wochen später. Es
ist die Eiswettfeier. Acht Stunden lang Grünkohl
essen, Wein trinken, zuhören, ein Fest aus Zeiten,
als es noch richtige Gelage gab. Die Hanseaten
zeigen sich dann gut gelaunt und selbstbewusst.
Die etwa 800 Gäste rekrutieren sich vornehmlich
aus der Wirtschaft, auch der internationalen.
Deutsche Spitzenpolitiker kommen gern. Die Par-
ty zählt zu jenen, die noch als wichtig gelten, ent-
sprechend begehrt sind Einladungen. Immer lau-
ter wurde im Lauf der Zeit die Klage über die Ab-
weisung der Frauen ausgerechnet dort. Dann im
Januar dieses Jahres eskalierte die Lage endgültig.
Der Bürgermeister war am Termin verhindert und
drang darauf, dass seine protokollarische Vertreterin
auftrete, wissend, dass eine Dame keine Einladung
würde erhalten können. Es war Vorwahlkampf in
der Stadt, dem Politiker ging es um Wählerinnen-
stimmen, und auf Proteste gegen die Männerbastion
konnte er rechnen. Die Eiswette reagierte trotzig.
Ihr Präsident Patrick Wendisch sprach das törichte
Wort vom »Gendergaga« aus, worauf die lokale
Presse schäumte und der Senat einen Boykott der
Feier beschloss. Bremen hatte einen Zank, der aktuell
war, weil er mit Gleichstellung zu tun hat. Zugleich
tobte er an einer alten Front: Das linke Bremen ras-
selte wieder einmal mit dem bürgerlichen zusam-
men, das neue mit dem alten, das weniger begüterte
mit dem arrivierten.
Allerdings sind die Bremer auch pragmatisch. Und
Patrick Wendisch präsentiert nun die Lösung: »Als
Präsident der Eiswette trete ich persönlich für eine
Öffnung ein. Damen werden künftig unsere Gäste
sein, können dann aber auch ›Genossinnen‹ werden,
also zum Kreis jener gehören, die ihrerseits Gäste
einladen dürfen. Das möchte ich eindeutig erklären.«
Bremens Wirtschaft wächst stark – und die
Stadt ist arm wie eine Kirchenmaus
Es ist so etwas wie die letzte Chance für die Eiswette,
denn sie droht aus der Zeit zu fallen. Ihr Ende käme
nicht abrupt, mit verblassendem Glanz würde sie
wohl eher langsam eingehen. »Ich habe eine Loyalität
den Genossen und auch der Institution gegenüber«,
betont Wendisch. „Wir können die Eiswette in ihrer
Leichtigkeit und Fröhlichkeit eigentlich nur weiter-
leben lassen, wenn wir nicht mit einem gesellschafts-
politischen Makel herumlaufen.«
Ein Stück Stadtpolitik ist diese Ankündigung
allemal, ja eine kleine Revolution. Ihr Präsident sieht
die Gefahr, dass die Tradition zur bloßen Folklore
schrumpft. Er will die Eiswette, eben weil sie öffent-
liche Bedeutung hat, nicht als ein Clubtreffen ver-
enden lassen. Auf der anderen Seite darf er sie auch
nicht der Stadtpolitik preisgeben, als Bühne für deren
Selbstdarstellung. Respektlos, zeitgeistig und unka-
puttbar, wie die Eiswette sein möchte, muss sie ein
lebendiger Teil der Stadtgesellschaft bleiben: »Wir
haben ja nicht nur Kaufleute unter uns«, meint Wen-
disch, »sondern auch die freien Berufe, Musikdirek-
toren, Künstler, Schriftsteller, Hochschullehrer, Be-
amte und Handwerker. Wir beleben zivilgesellschaft-
liche Tradition mit Jüngeren und mit mehr Interna-
tionalität. Die Zukunft liegt bei den Jungen, und die
haben heute ein anderes Gesellschaftsbild.«
Nimmt man eine große Lupe zur Hand und be-
trachtet das kleine Bundesland Bremen, dann fällt
einem ein besonders verzwicktes Muster aus Schwarz
und Rot in die Augen: 21 Milliarden Euro Schulden,
hohe Arbeitslosigkeit und Sozialausgaben – trotzdem
ist dank Autobau, Raumfahrttechnik, Bauwirtschaft
und Handel das Wachstum hoch. Mit dem Brutto-
inlandsprodukt pro Kopf liegt die Stadt sogar an
zweiter Stelle in der Republik. Hoch ist das Durch-
schnittseinkommen der Bremer, hoch auch die Aka-
demikerrate. Die Unis genießen einen guten Ruf, die
Schulen gar nicht. Es gibt ramponierte Stadtviertel
wie Gröpelingen. Nicht weit davon wohnt dezenter
Reichtum, umgeben von getrimmtem Rasen.
Laut Statistiken müsste es Bremen auseinander-
reißen, so tief sind die Gegensätze. Dennoch geht es
weitgehend friedlich zu. Jedes Mal, wenn die Bertels-
mann und die Bosch-Stiftung den sozialen Zusam-
menhalt in der Republik messen, schneidet Bremen
sehr gut ab. Trotz Verschuldung und Sparpolitik der
vergangenen Jahre – den Zahlen nach ist jeder vierte
Bremer vom Armutsrisiko betroffen – gibt es kaum
Probleme mit Rechtspopulismus oder Gewalt.
Wer darf sich die Erfolge der Stadt auf seine Fah-
nen schreiben, wer ist für ihre Malaisen verantwort-
lich? Die Eiswette steht fürs solide und wohlhabende
Bremen, in ihr überwintert auch ein Stück Selbst-
organisation der Bürger. Sie erhält keinen öffentlichen
Cent, ist nicht einmal ein eingetragener Verein. Sie
verfügt über keine Satzung, in der etwa stünde, dass
Frauen unerwünscht sind, und hat nicht einmal eine
Geschäftsordnung: »Alles ist tradiert und lebt durch
die Leute, die es im Sinne ihrer Vorväter weiterfüh-
ren.« Die Sache ist strikt privat, lappt jedoch ins
Öffentliche über. In einem idealen Bremen würden
sich engagierte Bürger und Politiker dabei ergänzen,
das Image der Stadt aufzupolieren. Im realen Bremen
wird mit dem Fest um die Deutungshoheit gestritten.
Bei den Wirtschaftsbürgern gilt es als
unschicklich, sich politisch zu engagieren
Auch Bürgertum und Wirtschaft haben ihr Weltbild.
Wendisch: »Wir sammeln jedes Jahr eine halbe Mil-
lion Euro für die Deutsche Gesellschaft zur Rettung
Schiffbrüchiger. Wir liegen an erster Stelle in
Deutschland unter den Sammelfesten. Wir machen
mit dem Eiswettfest ein eigenes positives Stadtmar-
keting. Die Politik tut sich schwer, sich mit diesem
Imagefaktor eindeutig zu identifizieren, schade!«
Dies ist eine weitere Besonderheit der Hansestadt:
Klassenkämpfe brachte sie gut sozialdemokratisch
hinter sich, nicht jedoch die Konfrontation der linken
und der bürgerlichen Lebenskultur nach 1968. Die
Politik prägte das tief. In Bremen war die SPD ehr-
geiziger als anderswo, Grüne und Linkspartei zogen
dort früh in die Parlamente ein. Währenddessen gab
sich die CDU besonders steifleinen und grimmig.
Zwei Welten leben grußlos nebeneinanderher. Was
in den späten Sechzigern mit dem Streit ums politi-
sche Theater Kurt Hübners und Peter Zadeks anfing,
sucht sich regelmäßig neue Schauplätze, nun ist es
das Grünkohlessen, wo demnächst auch den Frauen
ein ausgezeichneter Bordeaux serviert wird.
Im Wirtschaftsbürgertum gilt es als unschicklich,
sich parteipolitisch zu engagieren. Lieber nimmt man
über die Handelskammer Einfluss. Daneben währt
die Herrschaft der SPD stramme 72 Jahre – auch das
inzwischen eine fast schon heilige Tradition. Aller-
dings überraschten die Bürgerschaftswahlen im Mai
mit einer bürgerlichen Mehrheit, der ersten in Bre-
men. Was die Bürger dann ein paar Monate später
bekamen, war eine noch linkere Regierung als zuvor,
nämlich das erste rot-rot-grüne Bündnis in einem
Westbundesland. Da war die Stimmung in den bes-
seren Kreisen so, als fröre die Weser im Sommer zu.
Die Bürgerlichen in Bremen sind erfolgreich, aber
kaum einer bemerkt und wertschätzt es. Das Trauma
der Linken besteht darin, dass sie alle mediale Auf-
merksamkeit besitzen, aber nicht erfolgreich sind.
Über das Bild der Stadt kann nach Lage dieser Dinge
nie Einvernehmen herrschen.
Mittendrin Patrick Wendisch, 62, Mitgesell-
schafter des Versicherungsfirma Lampe & Schwartze.
Er ist ein untypischer Bremer Kaufmann. Zwischen
1995 und 1999 saß er für eine Abspaltung der SPD
in der Bürgerschaft, wurde 2004 sogar als Wirt-
schaftssenator gehandelt. Er ist ein politischer Kopf,
aber kein parteipolitischer, und sicher ist er kein
Antifeminist. Die leidige Einladungspolitik der
Eiswette wollte er schon vor Jahren korrigieren; über
sein Interview vom Januar ist er heute zerknirscht. Er
möchte die Eiswette als Bedeutung stiftende Ein-
richtung reformieren: Sie soll kein Monument des
gesellschaftlichen Starrsinns werden – aber auch kein
Spielball von Regierungs- oder Parteiinteressen.
In Memmingen springen im Sommer tausend
Männer in den Bach und fangen Forellen; auf
Borkum machen sie im Dezember Jagd auf Mäd-
chen und ziehen ihnen eins mit dem Kuhhorn
über. Dagegen können Frauen Einladungen zur
Eiswettfeier bedenkenlos annehmen. Mal geht es
albern zu, dann wieder würdig, alles ist ein biss-
chen surreal. Wer sich zu wichtig nimmt, ist fehl
am Platz, auch wenn er Gesellschaftskleidung
trägt. »Wir sind keine politische Partei, und wir
sind kein gesellschaftliches Bollwerk gegen irgend-
was«, stellt Wendisch klar. »Mensch, wir sind ein
Fest, nicht mehr und nicht weniger!«
Jetzt auch
f ü r Frauen
Männerbastionen im deutschen Brauchtum sind zählebig.
Doch bei der traditionsreichen Eiswette in Bremen findet nun
eine Revolution statt VON THOMAS E. S C H M I D T
Die Herrenrunde beim Bremer Grünkohlessen wird gesprengt
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