4 POLITIK 24. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44
Beerdigung eines
Kämpfers der
kurdischen
YPG-Miliz, der bei
Gefechten um die
Stadt Ras al-Ain an
der Grenze zur
Türkei getötet wurde
Foto: Vincent Haiges für DIE ZEIT
Tweet, tweet, tot
Tel Tamer
D
as Gesicht des jungen Man
nes ist bedeckt von Ruß und
Erde. Vier ältere kurdische
Frauen beugen sich über die
Krankenpritsche, auf der er
liegt. Sie tragen Kopftücher
und Mundschutz. Eine von
ihnen löst ihm die Klettverschlüsse der Sandalen.
Eine zweite nimmt seine Hand in die ihre. Er hat sie
zur Faust verkrümmt, sie öffnet sie ihm sanft, Erde
fällt daraus. Eine dritte durchsucht seine Hosen
taschen, in der sie ein Telefon findet. Das Telefon
klingelt. Sie schaltet es aus. Eine vierte wäscht ihm
das Gesicht mit Wasser aus einer Plastikflasche.
Unter dem Dreck kommen Augenbrauen zum Vor
schein, Lippen, das fast bartlose Kinn. Ein junger
Mann, Anfang 20, sein Bauch aufgerissen von Dut
zenden Metallsplittern.
Die Frauen im Hof des kleinen Krankenhauses im
nordsyrischen Tel Tamer stecken das Handy in einen
Plastikbeutel. Den Beutel legen sie ihm auf die Brust.
Sie wickeln ihn in eine Wolldecke, danach in ein
schwarzes Tuch, das sie mit weißen Schnüren zu
binden. Dann wenden sie sich dem Nächsten zu, der
aber kein Gesicht mehr hat, das sie waschen können.
Wo Nase und Mund waren, klafft ein großes Loch,
aus der die Zunge über den Unterkiefer hängt. Rasch
verhüllen sie ihn. Es ist der zehnte Tag des türkischen
Angriffs auf den Nordosten Syriens. 30 Kilometer
sind die Milizen der Nationalen Syrischen Armee
gemeinsam mit der türkischen Armee mittlerweile
ins Land eingedrungen, nur noch wenige Kilometer
stehen sie vor der kleinen Stadt. Es ist der vergangene
Freitag, der erste Tag des Waffenstillstands, der am
Abend zuvor in Ankara vom USVizepräsidenten
Mike Pence und Recep Tayyip Erdoğan verkündet
wurde. Fünf Tage soll er währen, doch von einem
Waffenstillstand ist hier noch nichts zu spüren. Es
wird weiter gestorben.
Nur einen Tag nach der Ankündigung des US
Präsidenten Donald Trump, die amerikanischen
Truppen aus dem Gebiet der kurdischen Selbstver
waltung abzuziehen, begann Ankara mit massiven
Luftangriffen und Artilleriebeschuss. Nirgendwo
im Nahen Osten zeigen sich die Folgen von
Trumps erratischen Entscheidungen so unmittel
bar. Nirgendwo ist die Verwüstung, die er hinter
lässt, so brutal wie hier. »Es ist Zeit, dass wir aus
diesen lächerlichen nicht enden wollenden Krie
gen rauskommen ... und unsere Soldaten nach
Hause bringen«, twitterte Trump. Nur wenige
Stunden später überschritten türkische Truppen
und mit ihnen verbündete syrischarabische Mili
zen die Grenze zu Syrien.
Auf einer Länge von 120 Kilometern rücken
sie vor. Jahrelang waren die USA und die kurdisch
dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte
(SDF) enge Bündnispartner im Kampf gegen den
»Islamischen Staat« (IS) gewesen. Unter diesen
Bündnispartnern ist auch die YPGMiliz, die die
Türken als Terroristen ablehnten und bekämpften.
Das von der SDF kontrollierte Gebiet umfasst ein
Drittel Syriens, es reicht von der Türkei bis zum
Euphrat, wo die syrischen Ölquellen liegen, von
der irakischen Grenze bis knapp vor Aleppo, Sy
riens zweitgrößte Stadt. Erst im März hatte die
SDF mit amerikanischer Unterstützung dem IS
unter großen Verlusten das letzte Territorium ent
rissen. Seitdem war der Region, mit 52.000 Qua
dratkilometer in etwa so groß wie Kroatien, ein
relativer Frieden vergönnt. Er währte nur ein hal
bes Jahr.
Verlassen vom amerikanischen Partner, ging die
SDF in ihrer Not einen Pakt mit dem syrischen Re
gime ein. Das Regime, das einst Kurdisch als Unter
richtssprache verbot, Hunderttausenden Kurden die
Staatsbürgerschaft entzog, kurdische Dörfer wirt
schaftlich vernachlässigte und arabische Nachbardör
fer förderte, ist den Kurden nun die letzte Hoffnung.
Die SDF soll in die syrische Armee integriert werden.
Als am vierten Tag des türkischen Angriffs der Pakt
mit Assad verkündet wird, beschließen sämtliche Mit
arbeiter internationaler Hilfsorganisationen, die Re
gion zu verlassen. Auch fast alle Journalisten fliehen.
Sie fürchten die Verhaftung durch das Regime.
Bevor sie abziehen, zerstören die
Amerikaner ihren eigenen Stützpunkt
Als kurz darauf die Kurden versichern, sie würden
die Sicherheit von internationalen Journalisten garan
tieren, reisen einige wenige wieder ein. Doch die
Reise nach Rojava, wie die Kurden diesen Teil Syriens
nennen, fühlt sich nun anders an. Die Region, die
nach der Niederlage des IS zuletzt relativ sicher war,
ähnelt einem sich ständig verändernden Labyrinth.
Einige Straßen sind ungefährlich, andere Straßen
bergen das Risiko der Verhaftung, weil dort die Trup
pen Assads warten. Andere Wege wiederum bringen
leicht den Tod, weil auf ihnen islamistische Milizen
oder ISZellen Überfälle begehen.
In Tel Tamer befindet sich das letzte Kranken
haus vor der Front. Der Gesundheitsminister der
kurdischen Selbstverwaltung, Juan Mustafa, 48, ein
Zahnarzt, hat es zu seinem Hauptquartier gemacht.
Er sitzt erschöpft im Büro des Chefarztes. »Ich weiß
nicht, wie es hier weitergeht.« Er gehört der Kur
dischen Einheitspartei an, der sozialistischen PYD,
die eng mit der PKK kooperiert. Würde die Türkei
ihn fassen, würde sie ihn als Terrorist zu einer le
benslänglichen Haftstrafe verurteilen.
Das ist das erklärte Ziel des türkischen Präsi
denten Tayyip Erdoğan: Er will eine 30 Kilometer
tiefe Sicherheitszone entlang der Grenze schaffen.
Eine »Friedenszone«. Hier will er zwei Millionen
arabischsyrische Flüchtlinge aus der Türkei ansie
deln. Aus der Mehrheit der Kurden in dem Gebiet
will er so eine Minderheit machen und mögliche
Attacken auf die Türkei verhindern. Dabei hatte er
in den vergangenen Jahren die Grenze bereits
durch den Bau einer gigantischen Betonmauer
schützen lassen, drei Meter hoch, 850 Kilometer
lang, ausgestattet mit Bewegungsmeldern, Wärme
sensoren und Schießbefehl, teilfinanziert durch die
Europäische Union.
Direkt an der Grenze, wenige Kilometer von
Tel Tamer entfernt, liegt die Stadt Serekaniye, wie
sie auf Kurdisch heißt, oder Ras alAin, wie sie die
Araber nennen. Knapp 30.000 Einwohner. Seit
Tagen wird um sie gekämpft. Mittlerweile sind die
SDFKämpfer im Zentrum eingekesselt, weiträu
mig haben die Türken und ihre Milizen die Dörfer
der Umgebung erobert. Dreimal schon versuchte
der Gesundheitsminister Mustafa, die Verletzten
aus der belagerten Stadt nach Tel Tamer zu eva
kuieren. Viermal hatte er eine Kolonne aus 40
Krankenwagen auf den Weg geschickt. Hunderte
Zivilisten hatten sich ihm angeschlossen, die meis
ten Parteimitglieder. Ein humanitärer Konvoi aus
mehr als hundert Fahrzeugen, ein menschlicher
Rammbock, der den Belagerungsring aufstoßen
soll. Beim ersten Versuch traf ihn eine Granate,
neun Menschen starben. Auch beim zweiten Ver
such, so erzählt es der Gesundheitsminister, kehrte
der Konvoi nach Beschuss um. Auch der dritte
brach nicht durch, der vierte ebenso nicht. Heute
ist der fünfte Versuch.
Es ist Sonntagvormittag. Mustafa wartet auf dem
Sofa des Büros, umgeben von den drei Ärzten des
Krankenhauses, und umfasst mit beiden Händen das
Funkgerät. »Wir warten auf das Okay, loszufahren«,
sagt er. An der vordersten Frontstellung versucht ein
Abgesandter der Kurden mit dem Kommandeur der
türkisch unterstützten Milizen eine sichere Passage
auszuverhandeln. Mit laufenden Motoren stehen
Dutzende Krankenwagen in den Straßen der kleinen
Innenstadt von Tel Tamer. Über der Stadt kreisen zur
selben Zeit zwei amerikanische Kampfhubschrauber.
Sie sind nicht zum Schutz der Krankenwagen hier,
sondern sichern den Abzug einer USEinheit, deren
Konvoi sich an diesem Morgen Richtung Irak bewegt.
Die alte Ordnung bricht zusammen, ohne dass
eine neue erkennbar ist. In den vergangenen Jahren
haben sich neue Siedlungen um einige der US
Stützpunkte in Nordsyrien gebildet. »Bis vor einer
Woche dachte ich, das ist der sicherste Ort Syriens«,
sagt ein kurdischer Bauingenieur am Telefon. Er
wohnt in der Nähe von Kobane, 200 Kilometer
westlich von Tel Tamer. Dort hatten die Amerika
ner ein Zementwerk in einen großen Stützpunkt
mit Landebahn umgewandelt. Tausende Menschen
waren in den letzten zwei Jahren hierhergezogen.
Sie bauten ihre Häuser so nah wie möglich an die
USBasis, schutzsuchend. Über Nacht, erklärt der
Bauingenieur, seien die Amerikaner dann abgezo
gen. »Sie haben uns nichts gesagt. Sie haben uns
nicht gewarnt!« Nur Stunden später rückten die
arabischen Milizen an. Die Bewohner waren ge
zwungen zu flüchten.
Den Stützpunkt, den die Amerikaner zurücklie
ßen, zerstörten sie mit einem Luftangriff. Der Bau
ingenieur berichtet von einem riesigen Explosions
pilz. Einen Tag später seien USSoldaten zurück
gekehrt, aber nur, um die Reste ihrer Einrichtung
zu verbrennen. Seither ist der Ingenieur mit elf
Familienmitgliedern auf der Flucht. Immer wieder
zwingen sie Kämpfe weiterzuziehen. Sie fliehen
von Dorf zu Dorf. »Es ist ein Albtraum. Manchmal
denke ich, ich muss doch gleich aufwachen und
alles wird wie früher sein.«
Am Nachmittag formieren sich in Tel Tamer
mit leuchtenden Blaulichtern die Krankenwagen.
Gesundheitsminister Juan Mustafa hat über Funk
mitgeteilt bekommen, es gebe an der Front eine
Übereinkunft. Ein enges Zeitfenster. Unsicher
auch, ob die Milizen sich an die Absprachen hal
ten. Dann fahren sie los, über hundert Fahrzeuge.
Sie verschwinden über die sanften Hügelkuppen
der nordsyrischen Ebene, Richtung Front, auf ei
ner schmalen Straße, deren Asphalt an vielen Stel
len von Granateinschlägen verbrannt ist.
»Wo ist Europa?«, fragt der ehemalige
Ministerpräsident der Kurden
»Es gibt kein Leben ohne Apo!«, skandieren wäh
renddessen PYDMitglieder im Zentrum von Tel
Tamer. Apo, der Kampfname für Abdullah Öca
lan, der in der Türkei zu lebenslanger Haft verur
teilte PKKGründer. Eine Gruppe von vielleicht
400 Menschen zieht mit Fahnen demonstrierend
durch die Straßen. Ladenbesitzer treten aus ihren
Geschäften, schließen ihre Rollläden und sehen
schweigend auf den Protestzug. Wer seine Läden
offen lässt, so heißt es in Rojava, hat Repressalien
von der PYD zu fürchten.
Es haben sich in den letzten Monaten immer
mehr Spannungen aufgetan zwischen den türki
schen Kurden der PKK, die nach Syrien geflohen
sind, und den einheimischen PYDMitgliedern.
»Die sind hierher zum Sterben gekommen«, sagt
ein Lehrer in Tel Tamer über die Frauen und Män
ner der PKK. »Die kennen in ihrem Leben nur
den Kampf.« Im Krankenhaus kommt es fast zu
Schlägereien, als Angehörige von toten kurdischen
Kämpfern, die aus Syrien stammen, auf türkische
PKKMitglieder stoßen. »Ihr seid Spione Er
doğans!«, brüllt der Onkel eines Toten. »Ihr habt
ohne Kampf eure Dörfer in der Türkei verlassen
und wagt es, euch hier als Helden aufzuspielen!«
Flüchtlinge aus den Dörfern um Serekaniye
nutzen die kurze Waffenruhe, die die Fahrt des
KrankenwagenKonvois mit sich bringt. Am Orts
rand, wo die Sammeltaxis abfahren, steht ein Bä
cker inmitten seiner achtköpfigen Familie, staub
bedeckte Kleinkinder umringen ihn. Er berichtet
von Plünderungen und Verhaftungen. Bereits vor
drei Tagen sei sein Dorf von den türkisch unter
stützten Milizen eingenommen worden. Er weiß
jetzt nicht, wohin, er redet mit einem Fahrer, fragt
ihn, ob er ihn und seine Familie nach Westen brin
gen könne, nach Manbidsch, wo die syrische Ar
mee bereits stationiert sein soll. »Geh lieber nach
Osten, nach Hasaka«, sagt der Fahrer. Dort gebe es
Nahrung und Schulen, in denen die kurdische
Selbstverwaltung Flüchtlinge unterbringe. Die
Familie willigt ein. In diesen Tagen entscheiden
sich Schicksale in wenigen Minuten.
Syrische Truppen rücken in kleinen Kontin
genten vom Süden vor, aber nur zögerlich. Auch
das Regime scheint vom plötzlichen USAbzug
überrascht. Geschwächt von acht Jahren Krieg, hat
es offenbar nicht die Kräfte, um rasch in den Nor
den vorzustoßen. In Kobane, am Grenzübergang
zur Türkei, wo bislang keine Bodenkämpfe statt
fanden, hat das Regime das Foto eines strahlenden
Baschar alAssad aufgehängt. Als Schutz gegen
türkische Angriffe. Die Regimesoldaten erreichten
den Ort in vier Reisebussen. Russische Komman
dos haben dort Positionen bezogen, wo die USA
die ihrigen gerade verlassen haben.
»Das Regime hält sich nicht an die Abmachun
gen«, klagt der ehemalige Ministerpräsident der kur
dischen Selbstverwaltung, Abdul Kareem Sarokhan,
ein gelernter Elektriker, der ebenfalls im Protestzug
durch Tel Tamer läuft. Die syrische Armee habe sie
bisher nicht, wie abgemacht, an der Front unterstützt.
»Die gehen nur dahin, wo es sicher ist.« – »Wo ist
Europa?«, fragt er. »Wir heißen europäische Truppen
immer noch willkommen.« Am Ende der Demons
tration erscheinen zum ersten Mal syrische Soldaten
in Tel Tamer. In vier Pickups rasen sie mit wehender
Fahne durch die Stadt, sie winken und jubeln, gefolgt
von Pickups mit jubelnden kurdischen Kämpfern.
Der Konvoi mit den Krankenwagen erreicht ge
gen 15 Uhr die belagerte Stadt Serekaniye. Sie bleiben
dort zwei Stunden und kehren dann wieder zurück.
Es fällt kaum ein Schuss. Sie bringen nicht nur 30
Verletzte, sondern auch die SDFKämpfer, die es bis
zum Schluss in Serekaniye ausgehalten hatten. Sie
haben die Stadt schließlich aufgegeben.
Am vergangenen Dienstag (Redaktionsschluss)
läuft der Waffenstillstand zwischen der Türkei
und der SDF um 22 Uhr aus. Die SDF ist der
Forderung der Türken bislang nicht nachgekom
men, sich aus der 30KilometerZone zurückzu
ziehen. In Tel Tamer spannen die Menschen in
den Straßenfluchten große blaue Plastikplanen,
um den Kampfflugzeugen die Sicht zu nehmen.
Die Menschen zählen die Stunden.
Doch als am Abend nach den russischtürki
schen Verhandlungen die Verlängerung des Waffen
stillstands verkündet wird, gibt es keine Freuden
feuer wie eine Woche zuvor. Russen und Türken
wollen innerhalb der 30KilometerZone, in der die
wichtigsten Städte der Kurden liegen, gemeinsam
patrouillieren. »Der Traum von Rojava«, sagt ein
kurdischer Journalist, »ist vorbei.« Am nächsten
Morgen will er in den Irak fliehen.
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TITELTHEMA: WENDET SICH DAS BLATT?
Eine Reise zu den syrischen Kurden, die Donald Trump verraten hat VON WOLFGANG BAUER
Damaskus IRAK
JOR DANIEN
LIBANON
SYRIEN
Türkei und Verbündete
TÜRKEI
Euphrat
ZEIT-GRAFIK
100 km
Idlib
Aleppo
kurdische Gruppen
Rebellen
Assad-Truppen und
-Verbündete
Mittelmeer
Rakka
Ras al-Ain
Kobane
Ta l
Abjad
Ain Issa
türkischer
Sicherheits-
streifen
Quelle: Washington Post (16.10.2019)