Vortäuschung einer Straftat be endet. Jetzt geht es
anscheinend auch um Geschäfte, bei denen
Michael S. mit Bildern gehandelt haben soll, über
die er nicht oder nicht mehr verfügte. Im Inter
view mit dem Tagesspiegel erzählte er 2017 munter,
wie er einem Sammler einmal eine Uhr zum Ge
burtstag geschenkt habe und dem wegen des teu
ren Geschenks zu Tränen gerührten Mann nicht
verriet, dass es sich um eine Fälschung handelte.
Nach Recherchen der ZEIT und des Deutschland
funks gab es auch bei mindestens einem Kunst
geschäft, in das der Berliner Galerist involviert
war, ein Problem mit einer Fälschung.
Im Frühjahr erreichten ein schlechtes Foto und
eine Anfrage des Auktionshauses Christie’s das
GerhardRichterArchiv in Dresden. Ein privater
Sammler hatte ein abstraktes Gemälde des Künst
lers zur Auk tion eingeliefert. Das Unternehmen
bat, wie in solchen Fällen üblich, um weitere In
formationen zu dem 40 mal 50 Zentimeter großen
Bild. Als Dietmar Elger, Archivleiter und Autor
des RichterWerkverzeichnisses, auf Nachfrage ein
besseres Foto erhielt, kam ihm das Werk bekannt
vor. Im Frühjahr 2014 hatte er es in der Richter
Ausstellung Abstract Illusion in der Galerie von
Michael S. gesehen – und fotografiert. Nun aber
ließ ihn das Foto von Christie’s stutzen. Es zeigte
nicht das Bild, das er in Berlin gesehen hatte. De
tails auf der rotgrüngrau bemalten Leinwand
hatten sich verändert: Ein gelber Bereich in der
rechten oberen Ecke war größer geworden, links
oben waren aus gelben Flecken weiße geworden,
Schlieren hatten Form und Verlauf verändert – die
beiden Fotografien glichen sich sehr, sie zeigten
aber nicht dasselbe Gemälde.
Fälschung, lautetet die Dia gno se von Dietmar
Elger – obwohl auch die Rückseite des Bildes wie
ein RichterOriginal aussah. Offenbar war sie
ebenfalls nach dem Original kopiert worden, das
2014 noch in der Ausstellung gehangen hatte. Der
Sammler habe das Bild von Michael S. anstelle
eines Geldbetrages erhalten, den er dem Galeristen
geliehen hatte. Auf der Übergabequittung, die der
Sammler unterschrieb, soll allerdings noch das
Original abgebildet gewesen sein. Wann und von
wem es kopiert und gegen die Fälschung ausge
tauscht wurde, ist unklar. Auf mehrfache Nach
fragen zu diesen Vorgängen antwortete der Galerist
bis Redaktionsschluss nicht.
Die Galerieräume an der Charlottenburger
Adresse, die auf seiner Internetseite genannt ist,
stehen schon seit einigen Wochen leer; eine Immo
bilienfirma sucht dort nach neuen Mietern. Unter
der Telefonnummer der Galerie ist nur ein auto
matischer Anrufbeantworter zu erreichen. Die
Galerie soll sich in einem Insolvenzverfahren befin
den, das Spiel mit den hohen Einsätzen scheint
vorbei zu sein. In einer zweiten Galerie in
Charlottenburg, in der Michael S. zuletzt noch an
Ausstellungen beteiligt war, sieht man durch die ver
gitterten Fenster eine SchwarzWeißFotografie an
der Wand hängen, von einem Schild mit Leucht
turm. Darauf steht: »You are not too lost to be saved«.
Fälschung, lautet ... Fortsetzung von S. 51
Im Dezember 2018 gab der
»Spiegel« bekannt, dass Dutzende
Geschichten seines preisgekrönten
Reporters Claas Relotius (33, Bild
links) ganz oder in Teilen gefälscht
waren. Auch Geschichten in
anderen Medien, darunter sechs
bei ZEIT ONLINE und ZEIT
Wissen, enthielten zahlreiche
Fehler oder Erfindungen. Erst Juan
Moreno, Pauschalist des »Spiegels«,
der gemeinsam mit Relotius an
einer Reportage arbeitete, schöpfte
Verdacht und entlarvte den
Betrüger. Am 17. September ist
Morenos Buch über den Fall
erschienen, »Tausend Zeilen Lüge.
Das System Relotius und der
deutsche Journalismus«.
Der Fall Relotius
»Ich muss keine (...)
Der Fälscher wehrt sich – Claas Relotius geht gegen den freien »Spiegel«Reporter Juan Moreno juristisch vor VON CHRISTOF SIEMES
N
atürlich ist es nicht eben originell,
einen Text über einen der größten
Fälscherskandale des deutschen
Journalismus mit einer Binse zu
beginnen. Aber diesmal muss es
sein: Glaubt man noch dem, der einmal gelogen
hat? Denn das ist die Frage, die sich nach der
neuesten Wendung in dem Fall in doppelter Hin
sicht stellt. Ausgerechnet gegen das Buch, das die
un glaub liche Geschichte minutiös nacherzählt,
wird nämlich nun wegen vermeintlicher Falsch
aussagen juristisch vorgegangen. Und der, der das
tut, ist niemand anderes als der Fälscher selbst:
Claas Relotius.
Wenn diese Ausgabe der ZEIT erscheint, wird
der bekannte Medienanwalt Christian Schertz im
Auftrag seines Mandanten Relotius dem freien
SpiegelAutor Juan Moreno und dessen Verlag Ro
wohlt Berlin eine Forderung auf Unterlassung zu
gestellt haben. Gegenstand sind mehr als 20 Stellen
aus Morenos Buch Tausend Zeilen Lüge. Das System
Relotius und der deutsche Journalismus, die »erheb
liche Unwahrheiten und Falschdarstellungen« be
inhalten sollen. »Unser Klient muss gerade auf
grund der gegen ihn erhobenen Vorwürfe die Ver
breitung von Unwahrheiten nicht hinnehmen«,
heißt es in dem Schreiben, unabhängig von der
Frage, »inwiefern es zulässig oder auch ethisch zu
verantworten ist, ein Buch über einen Menschen
zu schreiben, der erkennbar psychisch erkrankt ist«.
Gefordert wird, die »falschen streitgegenständlichen
Aussagen« nicht weiter zu behaupten oder zu ver
breiten. Andernfalls soll eine »von unserem Klien
ten zu bestimmende Vertragsstrafe« fällig werden.
Nun könnte man denken, dass Relotius, der wie
ein Schattenmann in einem gigantischen, aus lauter
Lügen errichteten Glaspalast sitzt, vielleicht besser
nicht mit Steinen werfen sollte, schon gar nicht mit
so kleinen. Denn im Vergleich zu seinen teils kom
plett erfundenen Reportagen sind manche der Vor
würfe gegenüber Moreno allenfalls Petitessen. Wie
die, ob Re lo tius »jeden Tag« mit Kollegen zum Mit
tagessen ging oder eher seltener. Oder ob er mit
Praktikanten im selben Büro saß oder nicht.
Aber auch wichtigere Details, die Moreno zur
Grundlage seiner RelotiusExegese macht, stimmen
nicht, angefangen bei den »mehr als 40 Journalis
tenpreisen«, die der Fälscher gewonnen habe. Diese
Zahl nennt auch der Abschlussbericht der Spiegel
Kommission, die den Skandal im eigenen Haus
aufarbeitete. Auf diese Angabe bezieht sich Moreno
in einer Stellungnahme gegenüber der ZEIT. Er
erwähnt die Zahl mehrfach, unter anderem als
Beleg für seine These, Relotius habe seinen Aufstieg
nicht Glück oder Talent zu verdanken, sondern
dieser sei »von langer Hand geplant, kühl exeku
tiert« gewesen. Etwa dadurch, dass Relotius »so
ziemlich jeden Text« einreichte, der veröffentlicht
wurde. Doch es sind 19 Preise und zwei Auszeich
nungen von JournalistenMagazinen (»Top 30
unter 30«).
Alles andere als unerheblich ist auch die Ge
schichte mit Relotius’ Schwester. Er hat sie erfun
den, wie er selbst zugibt, um gegenüber seinen
Vorgesetzten zu begründen, warum er eine ihm
angebotene feste Stelle beim Spiegel nicht anneh
men wollte: Sie sei krank, er müsse sich um sie
kümmern. Als sei diese Erfindung nicht schon
skrupellos genug, schreibt Moreno, Relotius habe
behauptet, sie sei an Krebs erkrankt und er müsse
sich »jeden Morgen und jeden Abend« um sie
kümmern. Dazu von der ZEIT befragt, erklärt
Moreno: Die Geschichte der Krebserkrankung habe
Matthias Geyer, Relotius’ damaliger Chef, ihm und
einer Gruppe von Kollegen erzählt. Gegenüber der
ZEIT bestreitet Geyer, dass im Gespräch mit Relo
tius von einer Krebserkrankung oder den Pflege
zeiten überhaupt die Rede war oder er von beidem
in der Re dak tion erzählt habe.
Und schließlich ist da eine der wichtigsten
Stellen des Buches: der Schluss. Moreno schreibt,
ein SpiegelKollege habe einige Monate nach
Bekanntwerden des Skandals mit Relotius tele
foniert und dieser habe behauptet, er befinde sich
in einer Klinik in Süddeutschland zur Behand
lung. Am folgenden Tag aber habe eine Spiegel-
Sekretärin Relotius auf dem Fahrrad gesehen: »In
Hamburg.« Dies ist der triumphal nachhallende
letzte Satz des Buches. Er insinuiert, dass der
Lügner nicht krank und in Behandlung ist, son
dern unbelehrbar. Und dass er immer weiterlügt.
Doch mehrere Zeugen bestreiten, auch gegenüber
der ZEIT, diese Darstellung: Weder habe die Se
kretärin (die nicht mit Moreno gesprochen hat)
Relotius auf dem Rad zweifelsfrei erkannt, noch
stimme der geschilderte zeitliche Zusammenhang.
Moreno sagt der ZEIT auf Nachfrage, ein Kollege
habe ihm die Geschichte so erzählt.
Es mag kleinkrämerisch wirken, angesichts der
von Relotius gar nicht bestrittenen Di men sion
seines Betrugs nun in der Asche des Skandals he
rumzustochern. Aber muss nicht in einem Buch,
das den Anspruch erhebt, nichts als die Wahrheit
darüber zu erzählen, noch das kleinste Detail stim
men? Relotius erklärt hierzu gegenüber der ZEIT:
»Ich bin mir meiner eigenen großen Schuld heute
sehr bewusst und will durch die Aus ein an der set
zung mit diesem Buch nicht davon ablenken. Ich
stelle mich allem, wofür ich verantwortlich bin,
aber ich muss keine unwahren Interpretationen
und Falschbehauptungen von Juan Moreno hin
nehmen. Ohne mich persönlich zu kennen oder
mit Menschen aus meinem näheren Umfeld ge
sprochen zu haben, konstruiert Moreno eine Fi
gur.« Und weiter: »Nicht eigensinniges Kalkül,
sondern krankhafter Realitätsverlust« stünden
hinter seinem, Relotius’, Handeln.
Moreno hat mit vielen der unmittelbar Betei
ligten für sein Buch nicht gesprochen, von Relotius
und seinem privaten Umfeld angefangen bis zu
etlichen mit dem Fall befassten SpiegelMitarbei
tern. Mehrere seiner Gesprächspartner sagen zu
dem, er habe ihnen auch nicht wie versprochen
Zitate zur Autorisierung vorgelegt. Persönlich ge
troffen hat Moreno Relotius, dessen Psychogramm
er ausführlich zeichnet, allenfalls zwei, dreimal
flüchtig, wie er selbst schreibt (Relotius bestreitet,
ihn je persönlich getroffen zu haben). Zudem
wurde das Buch in sehr kurzer Zeit produziert; des
halb konnte auch der in diesem Fall besonders
dringend gebotene Faktencheck offenbar nicht
gründlich genug durchgeführt werden.
Zunächst unterstützte ein Kollege aus dem
Gesellschaftsressort des Spiegels Moreno bei den
Recherchen, stieg aber nach kurzer Zeit aus dem
Projekt aus. Nun gilt ein Buch als die Wahrheit über
den Fall, in dem nicht einmal wichtige Namen
korrekt wiedergegeben sind wie zum Beispiel der
des bekannten deutschen ISKämpfers und Rappers
Denis Cuspert, der im Buch Rupert heißt. Dabei
lernt man schon an der Journalistenschule, dass
bereits durch falsche Namen (es geht nicht um
bloße Tippfehler) die Glaubwürdigkeit eines Autors
Schaden nehmen kann.
Moreno versucht sich an einer Erklärung des
Phänomens Relotius. Er sieht in ihm einen profes
sionellen Hochstapler, der vom Beginn seiner
Karriere an nur strategische Schritte gegangen sei.
Das erinnert an die beim Film entlehnten Erzähl
muster aus Relotius’ eigenen Geschichten, die
Moreno in seinem Buch kritisiert. Und über deren
Verführungskraft und Erfolg er am Ende seines
Buches viel Kluges zu sagen hat, nicht zuletzt über
die Sehnsucht der Medien und ihres Publikums
nach Texten, die eine undurchschaubar gewordene
Welt in plausible, fassbare Erzählungen überführen.
Dramaturgisch ausgefuchste Plots brauchen ein
Motiv. Aber warum Relotius tat, was er tat, darüber
kann wahrscheinlich nicht einmal er selbst schlüs
sig Auskunft geben. Eine von Morenos Thesen
lautet, Relotius habe sich am Ende seines kometen
haften Aufstiegs auf der Position eines Ressortleiters
quasi in Sicherheit bringen wollen, wo er nicht
mehr hätte schreiben (= lügen) müssen. Von Relo
tius selbst wird sie vehement bestritten. Und sie
steht einer anderen Theorie Morenos entgegen:
Wenn Relotius der stets vom Absturz bedrohte,
adrenalinsüchtige »Solokletterer« wäre, als der er
im Buch gezeichnet wird – warum sollte es dann
sein Ziel gewesen sein, von der Droge des Ge schich
ten erfin dens wegzukommen und sich in die Büro
existenz eines Redaktionsmanagers zu flüchten?
Vor der Ansteckungsgefahr, die offenbar vom
Morbus Relotius ausgeht, scheint selbst Juan Mo
reno nicht ganz gefeit zu sein, jener Mann, der sich
zutraute, die Dia gno se zu stellen.
Falschbehauptungen von
Fotos (Ausschn.): Neugebauer/BrauerPhotos; Paula Winkler
Juan Moreno hinnehmen«
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52 FEUILLETON 24. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44
von ZEIT -Autorenkö nnenSieauch hören,donnerstags 7. 20 Uhr.
Filmkritiken
rowohlt.de
©Asja Caspari
rowohlt.de
«Ein erzählerischesMeisterstück.»
AndreasPlatthaus,FrankfurterAllgemeineZeitung
«Ein P ageturner ... ein atemberaubendesStück Zeitgeschichte ...Ein gro ßer Roman.»
CarstenOtte, SWR2«Lesenswert»
«Schon die wahreGeschichte klingt so spektakulär,als wäresie erfunden ...
Ein ebenso klug komponiertes wie spannendesBuch.»
MartinDoerry ,Der Spiegel
«In derBelletristik gibt es erstaunlichwenig Vergleichbares.»
CorneliaGeißler,BerlinerZeitung
Nach dem internationalenErfolg von «InZeiten des
abnehmenden Lichts» kehrt Eugen Ruge zurück zurGe schichte
seinerFamilie–in einem herausragenden neuenRoman.