Die Zeit - 24.10.2019

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54 FEUILLETON 24. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No^44


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s ist kein Zufall, dass sich an der
Klimafrage die Geister scheiden.
Für die einen ist sie die finale Ka-
tastrophe, das letzte Gefecht von
apokalyptischen Ausmaßen. Für
die anderen ist sie geradezu ein
Symbol für einen abgehobenen
Experten- und Elitendiskurs mit kulturkämpferi-
schen Dimensionen. Nicht umsonst gehört die Be-
hauptung, einen menschengemachten Klimawan-
del gebe es gar nicht, zum Basisrepertoire rechter
Bewegungen. Auf beiden Seiten übrigens steigt die
Gefahr der Vereinfachung. Die Perspektive, dass
alles sofort und radikal und ohne Kompromisse
anders werden muss, ist dann ebenso populistisch
wie jene, die das alles für eine Lüge einer ökonomi-
schen, politischen, wissenschaftlichen oder urba-
nen Mafia oder Elite hält.
Sobald Konflikte solche Formen annehmen, ha-
ben es tiefenschärfere Formen der Beobachtung
schwer, denn beide Seiten kaprizieren sich auf Un-
bedingtes und finden im Gegenargument erst recht
ihre Selbstbestätigung. Dabei gerät freilich die ent-
scheidende Frage unter die Räder: Wie kann sich eine
moderne, komplexe, in ihren Strukturen differen-
zierte Gesellschaft auf eine solche Gesamtheraus-
forderung einstellen? Wenn man den Klimawandel
als Problem ernst nimmt – und es gibt keinen Grund,
das nicht zu tun, selbst wenn man manche apokalyp-
tische Vision für allzu diskursstrategisch hält –, ent-
steht sofort eine das Gesamte in den Blick nehmende
Perspektive. Das berühmte Apollo-8-Bild des auf-
gehenden Blauen Planeten hat schon öfter so etwas
wie eine globale Perspektive angeregt: wie sehr wir
doch alle Bewohner dieses einen Hauses sind, für das
es keine Alternative gibt. Wie sehr uns ein gemein-
sames Schicksal eint.
Es liegt nahe, eine solche ganzheitliche Perspek-
tive einzunehmen. Das Problem ist freilich, dass ein
solcher Holismus selbst ein selektiver Blick ist, nur
eine bestimmte Perspektive, die sich kaum in holis-
tische Handlungskonzepte umwandeln lässt. Viel-
leicht ist das die große Kränkung derjenigen, die
Gesamtbilder malen zu können glauben, was aber
nicht gleichbedeutend ist mit einer Handlungsposi-
tion, die das Ganze als Ganzes trifft. Diese Begren-
zung nicht sehen zu können, hat der Soziologe Pierre
Bour dieu die »scholastische Vernunft« jener genannt,
die aus der Art ihrer großen Sätze fälsch licher wei se
auf große Handlungsfähigkeit schließen.
Man muss es leider sagen: Nicht bloß die natürli-
chen Kapazitäten der Erde sind knapp und nur be-
grenzt belastbar. Auch die Kapazitäten der Gesell-
schaft, ihre Fähigkeit zur Re ak tion auf Störungen und
Herausforderungen sind es. Wer über ökologische
Knappheiten redet, muss auch über die Knappheit
sozialer Mechanismen sprechen – nicht um das Klima-
problem kleinzureden, im Gegenteil: um seine Brisanz
überhaupt auf den Begriff bringen zu können.


Die Diskurslage ist schwierig. Für einen ähn-
lichen Gedanken musste sich der Autor dieser Zeilen
von einem Kolumnisten eines Wirtschaftsblattes
nachsagen lassen, er neige zu rechtspopulistischen
Argumenten. Das ist nicht nur ein Hinweis auf die
intellektuelle Armut dieses Kolumnisten, sondern
vor allem ein Hinweis darauf, wie wenig wir im Dis-
kurs um das Klimaproblem an diesen Gedanken
gewöhnt sind. Hat die moderne Gesellschaft Ka-
pazitäten, mit einer existenziellen Herausforderung
umzugehen? Ist sie in der Lage, als Ganze auf ein
ganzheitliches Problem zu reagieren?
Man kann über die Schülerdemos die Nase rümp-
fen, man kann über die infantile Mimesis an den Stil
der Proteste in Teilen der veröffentlichten Meinung
spotten. Aber recht geben muss man den Klimaakti-
visten darin, dass man auf die Ergebnisse der Wissen-
schaften hören sollte. Greta Thunberg jedenfalls
wiederholt immer wieder diesen über alle Maßen
richtigen Satz: Nehmt die wissenschaftlichen Ergeb-
nisse zur Kenntnis! Was uns die Naturwissenschaften
über die Lage sagen, ist in der Tat besorgniserregend.
Aber Thunbergs Anweisung sollte erweitert werden:
Hört auch auf die Wissenschaften, die sich mit der
Frage der Reaktionsweisen, Immunisierungsstrategien
und Trägheiten des Gesellschaftlichen beschäftigen.
Hört auch die Wissenschaften an, die sich mit der
Frage beschäftigen, wie wissenschaftliche Erkennt-
nisse gesellschaftlich umgesetzt werden können.
Ich lehre seit nunmehr drei Jahrzehnten Soziolo-
gie. Es gibt eine immer wiederkehrende Erfahrung
meiner Studierenden: Sie lernen viel über die Struk-
turen der Gesellschaft und deren eigendynamische
Prozesse. Und immer wieder machen sie die Erfah-
rung, dass die bloße Aufklärung über Missverhält-
nisse oder die bloße Erkenntnis dessen, was zu tun
sei, sich nicht einfach in Handlungen umsetzen lässt.
Das ist eine demütigende Erfahrung, aber eben auch
eine wichtige Erkenntnis, wenn man in der Lage ist,
sie soziologisch zuzulassen.
Moderne Gesellschaften zeichnen sich nämlich
durch eine besondere zivilisatorische Errungen-
schaft aus, die man vielleicht Dezentralisierung,
Arbeitsteilung und Differenzierung nennen kann.
Sieht man genau hin, dann sorgen in der Ge-
schichte der Moderne Differenzierungsprozesse
für die Eman zi pa tion unterschiedlicher Problem-
lösungstools – Politik oder Ökonomie müssen
nicht mehr religiös heilsrelevant sein, die Recht-
sprechung kann sich von unmittelbarer politischer
Gängelung unabhängig machen, und die Wissen-
schaft emanzipiert sich, wenn es gut läuft, von po-
litischer Instrumentalisierung, religiösen Heilser-
wartungen oder unmittelbarer Anwendbarkeit.
Modernität bedeutet letztlich so etwas wie das,
was man im politischen Bereich Gewaltenteilung
nennt. Es ist ein evolutionärer Prozess, dessen Ge-
samtrichtung dahin geht, dass es Instanzen, die
alles zusammenführen und in einem Prinzip auf-

heben, nicht mehr geben kann. Alles ist auf Wech-
selseitigkeit angewiesen und erfährt an sich selbst,
dass sich das Gesamtsystem nicht allein ökono-
misch, nicht allein rechtlich, nicht allein wissen-
schaftlich, nicht einmal allein religiös bestimmen,
führen, verändern, gestalten lässt.
Dieser Differenzierungsprozess ist einerseits der
Garant für eine nie da gewesene Options- und Leis-
tungssteigerung der einzelnen Bereiche der Gesell-
schaft, andererseits besteht die evolutionäre Errun-
genschaft darin, dass die Position des Vetospielers
kaum zu besetzen ist. Der Markt lebt von individuel-
len Akteuren, die eigene Entscheidungen treffen, der
Staat organisiert Gewaltenteilung und integriert die
Opposition, in der Wissenschaft gibt es keine letzte
Erkenntnis, und die Kirchen können kaum anders,
als andere Religionen anzuerkennen. Es gibt kein
Handeln der Gesellschaft aus einem Guss. Sosehr
man das beklagt, so sehr ist es vielleicht die zivilisa-
torische Errungenschaft schlechthin.
Nicht dass diese Ordnung nicht permanent hin-
tergangen und dementiert würde – aber all diese Ver-
suche erscheinen uns gleich auf den ersten Blick als
pathologische Formen: Das gilt für totale politische
Herrschaft ebenso wie für die Herrschaft eines ent-
fesselten Marktes; das gilt für die in manchen Welt-
regionen sichtbare Kontaminierung der gesamten
Gesellschaft mit autoritären religiösen Formen wie
für Versuche, eine letzte wissenschaftliche Wahrheit
als Herrschaftsmittel einzusetzen. All diese Erschei-
nungen sind hochmodern – auch weil sie allesamt
gegen den Grundzug der Moderne opponieren. Die
Moderne hat sich immer wieder selbst dementiert
und entzivilisiert. Aber es ist stets als Störung aufgefal-
len. Man kann das auch daran sehen, dass selbst die
größten zivilisatorischen Selbstdementierungen am
Ende Zivilisationen, aber nicht die Zivilisation zer-
stören konnten. Wir Deutsche wissen das am besten.
Was hat das mit Strategien gegen den Klima-
wandel zu tun? Fast alles. Sieht man im Klimawandel
tatsächlich so etwas wie eine existenzielle Bedrohung,
dann lässt sich daran durchdeklinieren, dass die
moderne Gesellschaft gerade nicht in der Lage ist,
darauf wie aus einem Guss, mit einer Strategie, ge-
wissermaßen in einer konzertierten Aktion zu reagie-
ren. Wie bei allen anderen Themen wirken auch hier
jene zivilisatorischen Sicherungen, die das Gesamt-
system an einer einheitlichen, zentralisierten Re ak tion
hindern. Das lässt sich an jeder einzelnen Re ak tion
besichtigen – wer politisch das (vermeintlich) Rich-
tige durchsetzen will, muss es einerseits so appellativ
tun, wie es der Klimabewegung mit großem Aplomb
gelingt, andererseits so, dass die Betroffenen ihn
wiederwählen. Wer ökonomische Veränderungen
herbeiführen will, bleibt daran gebunden, dass dies
auf den (Welt-)Märkten darstellbar ist, sonst ist jeg-
licher Gestaltungsspielraum perdu. Und wer recht-
liche Regulierungen will, muss zumindest auf die
Konsistenz der Rechtsanwendung und der Normen-

kontrolle achten. Selbst bei Konsens über Grund-
ziele, wie sie in Resolutionen vereinbart werden,
reagieren die unterschiedlichen Instanzen der Gesell-
schaft nach ihren je eigenen Regeln und Erfolgs-
kriterien. Politik ohne Machtchance ist ebenso un-
möglich wie ökonomisches Handeln ohne Markt-
erfolg. Die Funktionsstelle fürs Ganze gibt es nicht,
und wo man sie einzurichten sich anschickt, werden
die Standards der Moderne unterlaufen.
Man kann daran verzweifeln, weil es so aussieht,
als würden die eingebauten Sicherungen sich nun
gegen das System selbst kehren. Wäre es nicht besser,
es gäbe eine Ein-für-alle-Mal-Lösung? Ikonografisch
gesehen könnte sich diese Verzweiflung darin aus-
drücken, dass diese Funktionsstelle derzeit mit einem
Kind besetzt wird, dem man unbegrenzte Unmittel-
barkeit zumutet, gewissermaßen als Symbol für jene
Unbedingtheit, die die Welt nicht hergibt. Und wer
in diesem Zusammenhang über Greta Thunberg
spottet, hat kein Herz und vielleicht keinen Verstand.
Es liegt fast nahe, die Sicherungen der Moderne
außer Kraft setzen zu wollen – denn gerade jetzt wird
das Risiko der Gewaltenteilung und der Dezentrali-
sierung sichtbar. Märkte sind zwar grandiose Pro-
blemlöser, aber sie produzieren auch Produkte, die
nur der Markt braucht. Die Demokratie ist eine ge-
niale Form der Entscheidungsfindung, aber die
Leute wählen bisweilen falsche Lösungen. Die Wis-
senschaft ist unfassbar leistungsfähig, aber die Er-
wartung nach eindeutigen Lösungen kann sie gerade
deswegen nicht stillen. Exakt aus diesem Grund
wirken Forderungen nach einem Herunterfahren der
Industriegesellschaft oder nach drastischen Verboten
bestimmter Praktiken, selbst wenn sie klimatechnisch
alles Recht auf ihrer Seite hätten, völlig unrealistisch,
ganz abgesehen von den eher symbolpolitischen Dis-
kussionen um das SUV oder der Forderung nach
einer Blockwartmentalität zur Durchsetzung ange-
messenen Verhaltens. Man muss aber diese Diskus-
sion führen, wie sich Verhaltensänderungen und
Emissionsvermeidung nicht gegen die, sondern mit
den Instanzen, Routinen und Strukturen der Gesell-
schaft einstellen können.
Wer so argumentiert, wird oft einer Haltung ge-
ziehen, die den Klimawandel nicht ernst nehme, eher
bremsen wolle, den Menschen keine Veränderungen
zumuten wolle, eine naive Vorstellung von Freiheit
habe oder gar ein »Weiter so« propagiere – ich habe
das selbst mehrfach ausprobiert, und wie in einem
Drehbuch haben die üblichen Verdächtigen reagiert.
Aber das ist nur ein Hinweis darauf, dass Greta Thun-
bergs Forderung, auf die Wissenschaft zu hören, bis
dato kaum für die Sozialwissenschaften gilt, die
freilich oftmals selbst vergleichsweise unrealistisch die
Forderung nach einer Postwachstumsgesellschaft mit
den Bedingungen ihrer Realisierung gleichsetzen. Die
starke Forderung, »alles« müsse sich »sofort« grund-
legend ändern, bewegt sich sozialwissenschaftlich
gesehen auf dem Niveau derer, die den anthropo-

genen Klimawandel mit Hinweis aufs Wetter leug-
nen. Die Herausforderung besteht darin, dass die
Sicherungssysteme der modernen Gesellschaft wirken


  • und das ist gut so, denn eine gleichgeschaltete Form
    einer Klimarevolution würde nur zivilisatorische
    Standards verleugnen und garantiert kein einziges
    Klimaproblem lösen. Die Aufgabe besteht darin, wie
    in kleinen Schritten politische Überzeugung, öko-
    nomische Darstellbarkeit, rechtssichere Regulierun-
    gen und nicht zuletzt wissenschaftliche Modelle so
    rekombiniert werden können, dass es zu einer ein-
    schneidenden Re duk tion des CO₂- Ausstoßes
    kommt. Das Klimapaket der Bundesregierung jeden-
    falls, dessen CO₂-Bepreisung letztlich unter der
    Wahrnehmungsschwelle der Preisvolatilität auf dem
    Energiemarkt bleibt, wird dazu kaum etwas beitragen
    können. Kleine Schritte müssen nicht zwangsläufig
    kleinliche Schritte sein.
    Übrigens, das Apollo-8-Bild der aufgehenden
    Erde taugt dann nicht nur als Symbol für die Ganz-
    heit unserer Biosphäre, sondern auch als Parabel
    darauf, dass man diese nur aus der Distanz wahr-
    nehmen kann. Das scheint mir die beste Strategie
    zu sein: Formen der Selbstdistanzierung zu institu-
    tionalisieren, Akteure aus unterschiedlichen Feldern
    zusammenzubringen und nach Lösungen zu su-
    chen. Genau genommen müssten Unternehmen
    und Gewerkschaften ein vitales Interesse daran ha-
    ben, künftige Märkte mit den richtigen Produkten
    zu bestücken. Verwaltungen aus Bund, Ländern,
    Gemeinden müssten gemeinsame Strategien mit
    der Wissenschaft, mit Parteien, mit Unternehmen
    erarbeiten, die gangbare Wege ermöglichen. Warum
    macht man aus dem Streit der Fakultäten in der
    Wissenschaft nicht einen Streit darüber, wie sich
    naturwissenschaftliches Wissen, Ingenieurswissen,
    sozialwissenschaftliches und psychologisches Wis-
    sen einsetzen lassen, um Anreize für Praktiken zu
    setzen? Warum gibt es keine Bundesagentur, die
    jene Akteure an einen Tisch bringt, die man
    braucht, um die Verkehrs- und Energie-Infrastruk-
    tur anreizfester zu machen? Das Gemeinsame die-
    ser Fragen ist: Wie bekommt man diejenigen, die
    unterschiedliche Problemlösungstools und Interes-
    senlagen haben, dazu, sich von sich selbst zu dis-
    tanzieren und daran zu arbeiten, wie man mit dem
    Richtigen Geschäfte machen, gewählt werden oder
    gute Lebensformen einrichten kann?
    Sind das naive Vorschläge? Vielleicht. Aber es sind
    solche, die den Schwung der Sicherungssysteme der
    Moderne mitnehmen. Vielleicht muss man an Stra-
    tegien fernöstlicher Kampftechniken denken: keine
    Gegenkraft entwickeln, sondern die Bewegungs-
    richtung des Gegenübers für die eigenen Ziele ver-
    wenden. So müsste es gehen.


Armin Nassehi ist Professor für Soziologie an der
Ludwig-Maximilians-Universität München und
Herausgeber der Kulturzeitschrift »Kursbuch«

Am Maho Beach im niederländischen Teil der Karibik-Insel St. Martin
beobachten Touristen Flugzeuge beim Landeanflug

Alles, sofort? Das geht nicht


Warum es für eine moderne Gesellschaft so schwierig ist, die Klimakrise zu bekämpfen


VON ARMIN NASSEHI

Foto: Mindaugas Kavaliauskas aus der Serie »A-spot«, travel‹AIR project/ VG Bild-Kunst, Bonn 2019
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