Feuilleton
26 Berliner Zeitung·Nummer 243·19./20. Oktober 2019 ·························································································································································································································································································
SONNTAGSKRIMI
VonFrank Junghänel
F
elix Murot(UlrichTukur) ist mit
einer Flasche Single Malt auf
demRücksitzundAlbertHammond
imAutoradiounterwegszueinemal-
ten Kollegen, als ihn dieNachricht
voneinem Überfall erreicht.Oder
besser gesagt, nicht erreicht,weil er
sichmitdemHinweisaufseinenUr-
laubdemRufandenTatortentzieht.
Wennerwüsste!Dennwenigspäter
hockt er mit Walter Brenner (Peter
Kurth),besagtemPolizistenvonfrü-
her,unddessentougherMitarbeite-
rinCynthia (Christina Große) sowie
einem verurteilten Serienmörder,
dem „KannibalenvonPeine“ (Tho-
mas Schmauser) ,dem Teenager
Jenny (Paula Hartmann) und noch
einpaarGestaltenmehrimKugelha-
gel einer Bande,die es aus einem
Grund, der sich nie klären wird, auf
das musealeRevier der titelstiften-
denWache08imÖdlandamRande
vonOffenbachabgesehenhat.Uff.
Werdas für eine weit hergeholte
Figurenkonstellationhält, liegt ganz
richtig,unddochentspinntsichaus
dieser Ausgangslageeiner der wirk-
lich merkwürdigsten Sonntagskri-
misderletztenZeit.WobeiKrimidie
falsche Genrebezeichnungist. Um
irgendeine Form vonTätersuche
gehteshiergarnicht.ThomasStuber
(Regie) und sein Lieblingsautor,der
Schriftsteller Clemens Meyer, mit
dem er bereits bei den Kinofilmen
„Herbert“ und„Inden Gängen“zu-
sammengearbeitethat, greifen bei
ihrem„Tatort“-Debütaufeinenmy-
thischenStoff der Filmgeschichte
zurück, dessen Referenzen sich
kreuz und quer durch die Populär-
kultur ziehen, von„Rio Bravo“ über
John Carpenters Thrillerklassiker
„Assault–AnschlagbeiNacht“biszu
jedemzweitenTarantino.Esgehtum
denAngriffdesBösenaufeinedispa-
rate Koalition der Übrigen. Stuber
inszeniertden Verteidigungskampf
der,nunja,Gutenmitspielerischem
Witz,jederMengeZitateausWestern
und Gangsterfilmen und tonnen-
weisePyrotechnik.
IndemBleigewittergibtesjedoch
immer wiederAtempausen, in de-
nen auf tragische,romantische und
auchpolitischeKurzgeschichtender
Eingeschlossenen angespielt wird.
GanzgroßerKintopp.
Tatort–Angriff aufWache 08So, 20.15 Uhr,ARD
Nachts
im
Museum
Gefangen:Felix Murot (UlrichTukur) und
JennySibelius (Paula Hartmann) ARD
TOP 10
Donnerstag,17. Oktober
1Die Füchsin ARD 5,33 17 %
2Tagesschau ARD 4,81 16 %
3heute ZDF 4,15 17 %
4SokoStuttgart ZDF 3,61 18 %
5Notruf HafenkanteZDF 3,52 13 %
6heute-journal ZDF 3,38 13 %
7RTL aktuell RTL 3,15 14 %
8Wer weiß denn ... ?ARD 3,08 16 %
9GZSZ RTL 2,81 10 %
10 Leute heute ZDF 2,75 17 %
ZUSCHAUER IN MIO/MARKTANTEIL IN %
A
nderGrenzeinO ebisfelde
wunderteichmichschon.
DerZug vonDüsseldorf
nach Leipzig hielt, aber
kein Grenzer betrat ihn, um mein
Visum anzuschauen und auf dem
Bauchladen mit seinem geräusch-
starken StempeldieEinreisezube-
stätigen.Nach einer halbenStunde
fuhr derZugweiter,ich war in der
DDR. Aber existierte sie überhaupt
noch,wennsieanderGrenzegegen
den Westen nicht mehr bewacht
wurde? Es war der 6. November
- Am spätenNachmittag fuhr
ich im LeipzigerKopfbahnhof ein.
DasHotelMerkurhatteichvomZug
aus schon entdeckt, ging dieweni-
genMeterhinüber.DieStadtlagim
Dunkel, aber das war in der DDR
halt so .Und es roch, nachKohle,
ChemieundNebel.
Ichwar mit einer Delegation
Nordrhein-Westfalens nach Leipzig
eingeladen. Am 9. November um
19Uhrsollte Johannes Rau, damals
Ministerpräsident des Bundeslan-
des,zusammen mitHans-Joachim
Hoffmann,seinerzeitKulturminister
derDDR,dieKulturwocheeröffnen,
in der sich das Land an Rhein und
Ruhrpräsentierenwollte.ImM erkur
war keinZimmer reserviert, man
schickte mich zum Organisations-
büroinsbenachbarteHotelAstoria.
Staunend betrat ich es,esw ar
einekleineStadtmit Geschäften,ei-
nemPostamt,TelefonzellenundTe-
lefonfräuleins,die nochGespräche
vermittelten.Daskannteichbisda-
hin nur aus den großenHotels in
Moskau. Ichmeldete mich bei der
Visumstelle an, war nun offiziell in
der DDR angekommen und bekam
auchmeinZimmerimMerkur.
Als ich das Astoria verlassen
wollte,wurde ich aufgehalten.Ein
winzigerMann,derleidlichDeutsch
sprachundsichalsTschecheheraus-
stellte,botmiran,Geldzu wechseln.
Eins zu 18.Wasfür ein Kurs! Davon
würdeichhierlebenkönneninSaus
und Braus.Ich tauschte und hatte
ein dickesPortemonnaie.Aber was
sollteichmitsovielGeld?Undsob ot
er mir sogleichMeißener Porzellan
an.Wasabersollteichmitderartzer-
brechlichenDingen?
DasZimmer imMerkur lag im
13.Stock. Unter mir sah ich nichts,
übermirSterne .Esw arMontag,also
warMontagsdemonstration.Ichbe-
eiltemich,gingzumRing,unddalie-
fen sie inMassen, riefen etwas,was
ich noch nicht verstand, musste
micherstandasSächsischegewöh-
nen. „F reiheit“ konnte heißen, was
ichhörte.
Ichstand auf dem Bürgersteig
undschautezu.KeineinzigerVolks-
polizist war zu sehen.DieMontags-
demo schien in einemRaum, ja ei-
nem Vakuum bar jeglicher staatli-
cher Ordnung abzulaufen.Da ent-
deckte ich einenEngländer,den ich
aus einem SzenecaféWest-Berlins,
dem „M“ kannte.Was machte der
hier? Er winkte mir zu, machteZei-
chen, ich sollte mitlaufen.Aber was
hatteichdamitzutun?
DerZug lief gegen denUhrzei-
gersinn,dasirritiertemich.Ichging
mit,langsam,aberaufdemBürger-
steig. Da machte manHalt. Einer
sprach. Es war dieRunde Ecke,die
StasizentralevonLeipzig. Vielepfif-
fen,dochbedrohlichklangdasalles
nicht. DieLuft war wohl einwenig
raus,die Spannung gewichen seit
dem 9. Oktober,als eine Pekinger
Lösunggedrohthatte,Panzerinden
Außenbezirken aufgefahren sein
sollten, eineNiederschlagung der
Montagsdemonstration durchGe-
sprächevonKurtMasur,demKaba-
rettisten Bernd-Lutz Lange,einem
Theologen und drei Leipziger SED-
Funktionären mit der Führung in
BerlinimletztenAugenblickverhin-
dertworden war.Siebzigtausend
sollenesdagewesensein,diedurch
dieStadtzogen,denwohlentschei-
dendenSieg über dieStaatsmacht
ertrotzt hatten.DieRunde um den
Ring ging zuEnde,und die Menge
fand sich amKarl-Marx-Platz zwi-
schenGewandhausundOperein.
Ichhörte Rufe „Wir sind das
Volk“, nach derEinheit, vereinzelt
nachderdeutschenMarkundnach
Reisefreiheit,verblüfftsahicheinen
Stand der NPD,and em Flugblätter
verteilt wurden. Schließlich zer-
streute man sich und war sich si-
cher,amM ontag darauf wieder die
Runde um dieInnenstadt zu dre-
hen,einRitualwaresgeworden.Ein
Irrtum.
Ichwusste nicht wohin, und so
kehrte ich insHotel zurück, aß et-
was und begab mich in dieKeller-
bar,staunte über die auffallend at-
traktiven Frauen auf denBarho-
ckern, setzte mich und trank einen
Caipirinha.Denersten in meinem
Leben, und das in Leipzig. „He-
mingway“, meinte der Barmann.
Eine der Damen zwinkerte mir zu,
rückte näher undverwickelte mich
inein Gespräch,dochdakamendie
Kameraleute und Techniker des
WDRausKölnundbequatschtenin
bestem Kölschem Singsang, be-
tatschten und belagerten die
Frauen, die nach einigerZeit mit
denMännernverschwanden.
Nunhatte ich verstanden,
wundertemichübermeineNaivi-
tät. Käufliche Liebe,hatte ich ge-
dacht, wäreverboten imSozialis-
mus,Ausbeutung der Frau.
„WarumSienicht?“, meinte der
Barmann. Ichzuckte mit den
Schultern, und er gab mir einen
zweiten Caipirinha. Danach
wankte ich zum Fahrstuhl und
ginginmeinZimmer,schauteaus
demFenster,nichtswarzusehen.
Nochwarder6.November1989.
Am Morgen schien, als ich aus
dem Fenster schaute,die Sonne,als
ichausdemFrühstücksraumimPar-
terreschaute,schiensienichtmehr,
eineGlockevonDreckund Nebellag
überderStadt.Ichbummeltedurch
die Leipziger Straßen, alltägliches
Hinund Her. Nichts deutete auf et-
washin.AmNachmittagwurdeeine
Ausstellungwestdeutscher Künstler
imMuseumamDimitroffplatzeröff-
net mit dem Titel „Zeitzeichen“.
DochGüntherUecker,Objektkünst-
lervomRhein,trafdenNagelaufden
Kopf,alsermeinte,erw ürdenurwi-
derwillig über dieSituation und die
Geschichte der Künste sprechen
wollen, während draußenvorder
TürGeschichtestattfände.
DakameinejungeFrauimauffal-
lendrotenMantelaufmichzu.„Will-
kommeninLeipzig“,sagtesie,alssei
sie dieEmpfangsdame der Stadt.
„IchheißeLiese“,fügtesiehinzuund
verwickeltemichineinGespräch,in
demsichherausstellte,dasssieChef-
redakteurin derUniversitätszeitung
war,daher auchMitglied der SED
undzur BezirksleitungderParteige-
hörte .Neugierig fragte ich sie,was
sie vonden Montagsdemonstratio-
nen hielt.„Kann ja schlecht mitlau-
fen, diezogen immer an unserem
Parteibürovorüber,habe mir das
vomFenster aus angeschaut.Ja,es
musssichwasändern.“Da kamein
jungerMannhinzu.„Jörg“,stellteer
sichvor.„Mein Mann“,meinteLiese.
ErmischtesichinsGesprächeinund
eswurdesofortklar,fürihnwarKon-
terrevolution,wasindenletztenWo-
chenabgelaufenwar.
Wirsetzten unserenDisput im
Café Mephisto in derPassage fort,
ich erblickte viele blondeFrauen,
die da mit arabischenStudenten
zusammensaßen. Wenn Jörg
sprach, schwieg Liese,und er
sprachheftig,ohneauchnureinen
Moment Luft zu holen, schimpfte
aufdiePfarrerderStadt,aufdiePo-
lit-Rowdys,die seit Wochen mon-
tags dieStadt unsicher machten.
DiePartei habe nicht durchgegrif-
fen,unddabeischauteerseineFrau
vorwurfsvoll an, die schaute mich
anundzucktemitdenSchultern.
„Wir sehen uns übermorgen bei
derEröffnungimOpernhaus“,sagte
sie.AmD onnerstagnachmittag,dem
9.NovemberwarimAstoriaeinTref-
fen mit dem DDR-Kulturminister
Hans-Joachim Hoffmann anbe-
raumt.Einweißhaariger,melancho-
lisch dreinblickenderMann, der auf
dieFrage,wieesdennnunweiterge-
hen könne in der DDR,vomSinn
undUnsinndesLebenssprach,von
Lebenszeit, Versäumnissen, Irrtü-
mern, FehlernderPartei,dereswohl
kaum noch gelingen könne,die Si-
tuation wieder in denGriff zu be-
kommen,derStaat,denermitaufge-
bauthabe,geheseinemEndezu.
UnddochseierkeinUntergangs-
philosoph,waraberinderTatPhilo-
sophieprofessor gewesen, bevor er
Minister wurde.„Selbst wenn wir
wollten,wirkönnennichtmehrwei-
ter.“ DerMinisterderDeutschenDe-
mokratischen Republik machte
nichtdenEindruck,alswürdeerfür
seine DDR noch einstehen können
undwollen.EineDDR,dienocham
Abend ihrenUntergang durch eine
eher beiläufige Bemerkung selbst
einleitensollte.
Liese wartete schon amEingang
des Opernhauses auf mich, nahm
michandenArm,führtemichindie
zweite Sitzreihe .DerLeipzigerOber-
bürgermeister begrüßte die Gäste,
MinisterHoffmannsprachstaatstra-
gender alswenige Stunden zuvor,
und dann eröffnete der damalige
nordrhein-westfälischeMinisterprä-
sidentJohannesRau,deramMorgen
nochmitEgonKrenzinBerlinkonfe-
rierthatte,die „Kunst- undKultur-
wochen“.Pastoral wie immer,eher
plaudernd sprach er,daw urde ihm
einZettelzugesteckt.Er blicktedar-
auf, stockte,schaute ins Rund,
schwiegeineWeile,wirktevölligver-
wirrt, und ungewohnt unsicher
spracherschließlichweiter,alswäre
nichtsgeschehen.Abereswaretwas
geschehen, und nach einerWeile
breitetesichUnruheim Saalaus.
Als Johannes Raugeendet hatte,
strömtenalleinsFoyer,unddahörte
man, was niemand glauben wollte.
DenDDR Bürgernsollte Reisefrei-
heitzugesagtworden sein.Genaues
wusste niemand, einer meinte gar,
dieGrenzenseienschonoffen.Liese,
dieschoneinmalzueinerTantenach
Nürnberghatte reisen dürfen,
meinte nur,die werden sich noch
alle wundern,wenn sie denWesten
mal gesehen haben,werden schnell
wieder zurückwollen. „Mit dem Le-
ben drüben kommen wir doch gar
nichtklar.“
Um 21 Uhrhatte Oberbürger-
meisterSeidelzueinemEmpfangin
die ObereWandelhalle des neuen
Rathausesgeladen.DieEinladungs-
kartehabeichwieeineReliquiebis
heute behalten. LiesesMann war
schon da.Er empörte sich, Scha-
bowski habe tatsächlichReisefrei-
heit versprochen und das gelte ab
sofort.„Dasgehtnichtgut“,meinte
Jörgwütend.Liese ließ ihrenMann
weiter schimpfen,zogmich zum
Büffet und holte zwei Schoppen
Weißwein.Manplauderte mitein-
ander,wohl angeregter als sonst,
der Oberbürgermeister wurde ans
Telefongerufen,entschuldigtesich.
Derhieß auch nicht mehrSeidel,
sondernHädrich,einandererSED-
Funktionär war tags zuvor an seine
Stellegetreten.
DieStimmung in derWandel-
halle war nicht euphorisch, viele
strebtenbalddavon,vordieFernse-
her,hofftensiedoch,mehrzuerfah-
ren. Auch Liese und ichverließen
das Rathaus.Auf den Straßen gäh-
nende Leere, kein Mensch begeg-
nete uns,als wir über den Ring zu
meinemHotelgingen.
Dortschauten wir die ganze
NachtWestfernsehen,sahen,wasin
Berlin passierte,wie DDR-Bürger in
EuphorieüberdieGrenzeströmten,
vonden West-Berlinernmit Jubel
empfangen wurden.EineTollnacht.
„Das wirdden Leipzigernnicht ge-
fallen“, meinte Liese noch, dann
schlief sie ein imBett des Klassen-
feinds,der sich demSogder Bilder,
„Günther Uecker,ObjektkünstlervomRhein,
traf denNagel auf denKopf, als er meinte,
er würde nur widerwillig über dieSituation
und dieGeschichte der Künste sprechen wollen,
während draußenvorderTür Geschichte stattfände."
Diegestohlene
Revolution
ImNovember1989
besuchteine
westdeutsche
Delegationdie
Kulturwochenin
Leipzig.Dann
überschlagensichdie
Ereignisse
VonJörgAufenanger