Der Spiegel - 19.10.2019

(John Hannent) #1
113

Fantasy

Afrikanisches »Game
of Thrones«

 Es sind merkwürdige Kreaturen, die
uns in »Schwarzer Leopard, roter Wolf«
begegnen: Neben verschiedensten Trol-
len, Geistern und sonstigen Fabelwesen
findet sich da ein Leopard, der
sich bisweilen in einen Men-
schen verwandelt, ein Kind aus
Rauch und ein Riese, der sehr
darunter leidet, ein Riese
genannt zu werden. Auch der
Held, den der Leser über mehr
als 800 Seiten begleitet, scheint
nicht von dieser Welt: Der
»Sucher« ist nicht nur flink an
der Waffe, sondern kann über
Hunderte Kilometer Fährten
wit tern. Nun machen er und seine Ka -
meraden sich in einem fiktionalen afrika-
nischen Reich weit vor unserer Zeit auf,
ein verschlepptes Königskind zu finden.
Der jamaikanische Schriftsteller Marlon
James, der 2015 für seinen Roman »Eine
kurze Geschichte von sieben Morden«


den Man Booker Prize erhielt, bezeichne-
te den Roman selbst einmal eher scherz-
haft als »eine Art afrikanisches Game of
Thrones«. Das passt ebenso wie der gern
gezogene Vergleich mit »Der Herr der
Ringe«. James legt seine Handlung
breit an, greift auf ein umfangrei-
ches Ensemble an Figuren zurück
und erfindet eine eigene Welt mit
farbenfroh angelegten und
sauber kartografierten Schau-
plätzen, die als Kulisse für
herzhafte Schlachten dienen.
Bemerkenswert – und für das
Genre eher ungewöhnlich –
ist, dass zwischen diesem glor-
reichen Gemetzel Platz für
durchaus explizit geschilderte
Romanzen ist: In James’ afri-
kanischer Sagenwelt lebt der
Sucher seine Homosexualität
sehr offen aus. »Schwarzer Leopard, ro -
ter Wolf« ist der erste Teil einer Trilogie.
Die Filmrechte sind schon verkauft. JOV

Marlon James: »Schwarzer Leopard,
roter Wolf«. Aus dem Englischen von Stephan
Kleiner. Heyne; 832 Seiten; 28 Euro.

Filme
Leben nach »Breaking Bad«
 Sein Gesicht ist von Narben zerfurcht,
sein Blick wirkt gehetzt, und seine Worte
künden von Reue. Er würde gern all sei-
ne Verbrechen wiedergutmachen, sagt
der von dem Schauspieler Aaron Paul
dargestellte Gangster Jesse Pinkman ein-
mal in dem Zweistundenwerk »El Cami-
no: Ein Breaking Bad Film«. Seit einigen
Tagen präsentiert der Sender Netflix die
kurze Fortsetzung des Serienknüllers
»Breaking Bad«, der im Jahr 2013 mit
einem spektakulär blutigen Finale endete.
Der Showdown damals kostete den ehe-
maligen Chemielehrer, berühmtesten
Drogenkoch der Vereinigten Staaten und
Serienhelden Wal-
ter White (Bryan
Cranston) das
Leben. Sein langjäh-
riger und nicht
immer zuverlässiger
Helfer Jesse Pink-
man aber hat offen-
sichtlich überlebt.
In »El Camino«
schildert der Regis-
seur, Drehbuchau-
tor und »Breaking
Bad«-Erfinder
Vince Gilligan nun,
wie es mit Jesse,
einem psychisch
und physisch gebeu-


telten Ex-Schüler von White, nach des-
sen Tod weitergeht. Die Spannung des
im wüstenheißen US-Bundesstaat New
Mexico spielenden Films entsteht aus der
Frage, ob der junge Held vor der Polizei,
ein paar vertrottelten Konkurrenzgangs-
tern und den eigenen Dämonen in ein
neues Leben in Richtung Alaska entkom-
men wird oder ob nicht. Ansonsten
trumpft Gilligan mit hinreißenden Land-
schaftsaufnahmen, rührenden Abschieds-
szenen und einer bedenklichen Gangster-
moral auf, wonach nicht die Entscheidung
zwischen Gut und Böse das Wichtigste im
Leben sei, sondern der Wille, »etwas
Besonderes zu tun«. So jedenfalls doziert
der Erzschurke Walter White in einer
Rückblicksszene.HÖB

Nils MinkmarZur Zeit

Messer ohne Klinge


Zwei schwarze Sessel vor einer
riesigen Bücherwand, die bei-
den Gesprächspartner sitzen
einander zugewandt und
haben die Beine auf der
Höhe der Fußgelenke über-
kreuzt. Der »liebe Ralph«
begrüßt die »Frau Bundeskanzlerin, lie-
be Angela« zu einem Gespräch, das er
ein »Interview« nennt. Der Ralph, das
ist der CDU-Politiker Ralph Brinkhaus.
Die Idee: es den Rezos dieser Welt ein-
mal wirklich zu zeigen. Dieser Influen-
cer hatte vor einigen Monaten einen
Film unter dem Titel »Die Zerstörung
der CDU« bei YouTube eingestellt, der
über 16 Millionen Mal angeklickt wur-
de. Aber die CDU/CSU-Bundestags-
fraktion hat auch einen YouTube-Kanal.
Dort steht der Film mit Ralph und
Angela. Er hat bei Redaktionsschluss
immerhin fast 3500 Klicks.
Eigentlich soll es um die deutsche
Einheit gehen, aber am besten, man
steigt als Mensch in so ein Gespräch ein.
Also erklärt Angela, warum sie nicht
zum Treffen mit der Fraktion kommen
konnte: »Mein Mann hat ein wissen-
schaftliches Symposium zu seinem


  1. Geburtstag, und an dem Abend -
    essen möchte ich gerne teilnehmen.«
    Na, das kennt doch jede. Irgendwo in
    diesem Satz hört Ralph ein Stichwort,
    denn er erklärt: »Da wollen wir gleich
    einsteigen«, und strahlt: »30 Jahre fried-
    liche Revolution, was ist eigentlich vor-
    her, was ist im Sommer 1989 in der
    damaligen DDR passiert?« Die Kanzle-
    rin erklärt nun alles geduldig, von der
    Kommunalwahl im Mai bis zu den Jubi-
    läumsfeiern der DDR im Oktober 1989,
    und sie würdigt die Rolle von Michail
    Gorbatschow, zitiert seinen berühmten
    Satz. Da hakt Ralph nach: »Du hast
    gerade Gorbatschow erwähnt, er hatte
    dann durchaus eine zentrale Rolle bei
    diesem Festakt, als er dann auch gesagt
    hat: ›Wer zu spät kommt, den bestraft
    das Leben.‹« Die Kanzlerin möchte
    nicht widersprechen. Sie fragt Ralph
    nach seinen Erinnerungen an den

  2. November 1989. Er war in Paris und
    hat nichts mitbekommen. Am nächsten
    Morgen dachte er sich dann: »Wow, das
    kann jetzt alles irgendwo nicht sein.«
    Man möchte ihm beipflichten.
    Dieses Interview ohne Neugier er -
    innert an die Erfindung von Georg
    Lichtenberg: das »Messer ohne Klinge,
    an welchem der Stiel fehlt«.


An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und
Elke Schmitter im Wechsel.

BEN ROTHSTEIN / NETFLIX
Paul in »El Camino«
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