48 WOCHENENDE Freitag, 18. Oktober 2019
von den Grossbanken abwenden und
sich lieber einer genossenschaftlichen
Bank anvertrauen. Ohne diesen Chef,
der dieRaiffeisen zu einem zugkräfti-
gen Brand geführt hat,wäre dieBan-
kengruppe aber fraglos nie so erfolg-
reich, wie sie ist.
So sieht man PierinVincenz auch
nach, dass seine neuePartnerin und
spätere Ehefrau, die fähige Juristin
Nadja Ceregato, zur «Abteilungsleite-
ri n Legal»in derRaiffeisen-Zentrale
befördert wird. Sie ist ihm zwar nicht
direkt unterstellt, aber gleichwohl wäre
dieseKonstellation in einer Grossbank
undenkbar. Vincenzkontert den An-
griff. «Klar, für absolute Corporate-
Governance-Freaks ist das nicht zuläs-
sig.Aber ich bin stolz darauf, dass wir
das beiRaiffeisen noch mit gesundem
Menschenverstand anschauen. Denn
wer müsste andernfalls gehen?Wie-
der einmal dieFrau», sagte er 2013 dem
«Magazin». Dass dieKonstellation pro-
blematisch ist, zeigt sich auch daran,
dass Vincenz zwar denRaum verlässt,
wenn die Geschäftsleitung über die
Lohnerhöhung derRechtschefin ab-
stimmt.Dagegen zu stimmen, getraut
sich aber niemand.Unterdessen hat sich
das Paar getrennt.
Er wählt sich seinen Präsidenten
Wie bei derRaiffeisen-Gruppeüblich,
darf Pierin Vincenz selber vorspu-
ren, wer ihn nach demRücktritt von
Franz Marty im Jahr 2011 künftig
kontrollieren soll. DemVerwaltungs-
rat präsentiert er schliesslichJohan-
nes Rüegg-Stürm, einen liebenswürdi-
gen HSG-Professor, der ausgeklügelte
Managementmodelle an der Univer-
sität entwickelt undVorlesungen über
Public Governance hält, aber allesan-
dere als einBankenspezialist ist. Der
neue Präsident,berichtenAugenzeugen,
mag es offenbar gern gemütlich.An den
Geschäftsleitungssitzungen am Diens-
tagmorgen, bei denen er jeweils an-
wesend ist , zieht erschon einmal die
Schuhe aus. Rüegg-Stürm hat offenbar
jede MengeVertrauen inVincenz, aber
nie die Kraft, jenem Mann ernsthaft die
Stirn zu bieten, dem er eine halbe Mil-
lion Franken zu verdanken hat.ProJahr.
Für ein 50-Prozent-Pensum. Es ist rund
das Doppelte seinesVorgängersFranz
Marty. Mit diesem üppigen Honorar,
sagt einKenner der Umstände, habe
Vincenz seinen Präsidenten, freundlich
ausgedrückt, «neutralisiert».
Ähnlich präsentiert sich die Situa-
tion in derGeschäftsleitung. Die wichti-
gen Traktanden seien vomA-Team vor-
besprochen gewesen,erinnert sichein
Befragter.Zu diesem engen Kreis ge-
hörtenVincenz,Patrick Gisel und der
Finanzchef Marcel Zoller. Die anderen,
das Team B, hatten es schwer, eigene
Themen durchzubringen.Vincenz sei
nie ein Manager,er sei einPatron ge-
wesen, der alle Entscheide selbst vor-
gespurt habe, urteilt einWeggefährte.
Details und dieFührung der Gruppe
imAlltag habe er jeweils der Geschäfts-
leitung überlassen.Vincenz sei zudem
ein ausgezeichneter Chefgewesen, der
den Leuten, in die erVertrauen hatte,
seh r viel Freiraumgew ährt habe, lobt
der Weggefährte weiter.
In diesenJahrenreift PierinVin-
cenz zum Medien-Vollprofi. Mit seinen
publikumswirksamenAuftritten schafft
er sich viele Anhänger, aber auch
immer mehrFeinde, gerade bei den
Vermögensverwaltern. So, als er völlig
überraschend dasBankgeheimnis für
Die erste Karte läuft überAduno, deren
Präsident er ist und die jährlich bis zu
fünfstelligeRechnungen bezahlt. Die
zweite stammt von Leonteq, einer Zür-
cher Finanzboutique, an d er sichRaiff-
eisen 2013 auf DrängenVincenz’ betei-
ligt und wo er ebenfalls das Präsidium
übernimmt. Dort wird bemerkt, dass
er privateAufwendungen mit derFir-
men-Kreditkarte bezahlt,ohne es so zu
deklarieren. Prompt muss er diese zu-
rückbezahlen.Weiter ärgert man sich
im Leonteq-Kader drüber, dass ihr so
spesenfreudiger Präsident selbst kleinste
Ausgaben wie den Preis für eineTram-
fahrt in Zürich für 1Franken 90 zur Ab-
rechnung einreicht.
Solche kleinenPeinlichkeiten sind
das eine.Weit gr avierender ist ein ande-
rer Fall, der auf dasJahr 2005 zurück-
geht:Es geht um Commtrain,eine kleine
Firma, die neue Lösungen für bargeld-
loses Bezahlenanbietet. Mit seinem
Geschäftspartner Beat Stocker beteiligt
sich PierinVincenz privat an Comm-
train. ZweiJahre später kauftAduno,
deren Chef Stocker ist, dieseFirma.
Vincenz amtet zu jenem Zeitpunkt als
Raiffeisen-Chef und zugleichals Prä-
sident vonAduno. Doch ihre private
60-Prozent-Beteiligung an Commtrain
legen sie weder gegenüberAduno noch
gegenüberRaiffeisen offen. Beide ver-
dienen privat an derTransaktion zusam-
men fast 2,8 MillionenFranken.
Ein schlechtes Gefühl scheintVin-
cenz deshalb nicht zu beschleichen.
Jedenfalls kritisiert er bald darauf am
SchweizerFernsehen in seiner unnach-
ahmlichen Art als freundlicher und
ehrlicherPatriarch aus dem Bündner-
land die Grossbanker, die zu stark auf
die Rendite schauten und zu wenig auf
nachhaltiges Geschäften achteten.
Im Jahr 2009 droht die Commtrain-
Geschichte aufzufliegen.Aufgeschreckt
durch eine Presseanfrage, geben Präsi-
dent Marty und sein Chef eilig drei Gut-
achten inAuftrag. Diese kommen zum
Schluss,dass Vincenz’Vorgehen zwar
ausgesprochen heikel,rechtlichgesehen
aber doch inOrdnung war. Unter ande-
rem deshalb, weil dieRaiffeisen-Gruppe
nicht börsenkotiert ist. ErstJahre spä-
ter erfährt die neueAduno-Führung
von dieserTransaktion,reicht Straf-
anzeige gegenVincenz und Stocker ein
und bringt damit denFall Vincenz juris-
tisch insRollen.
MangelndeKontrolle
Die Frage stell t sich längstens:Warum
lässt man ihn derart gewähren? Und wo
bleibt die disziplinierendeWirkung der
Corporate Governance?
Der Verwaltungsrat vonRaiffeisen,
der in erster Linie darum besorgt sein
sollte, hat das offenbar nur sehr be-
dingt getan. Präsident Franz Marty
reagiert bei Commtrain ebenso gnädig
wie bei den Helikopterflügen.Viel zu
gut ist diePerformance ihres CEO, als
dass ihn derVerwaltungsrat aus solchen
Gründen fallenlassen würde. Denn Pie-
rin Vincenz hat nicht nurRaiffeisen zu
einer stolzenGruppe geformt, die nun
Marktführerin im Schweizer Hypothe-
kengeschäft ist, er hat auch ihren Ge-
winn bis 2009 verdreifacht und bis 20 15
sogar vervierfacht auf 808 Millionen
Franken.Das ist gewiss nicht nurVin-
cenz’Verdienst, dennRaiffeisen profi-
tiert stark von den vielenKunden, die
sich im Gefolge derFinanzkrise 2008
Alleinmit der Raiffeisen-
Kreditkarte begleicht er
jährlich einen bis zu
sechsstelligen Betrag.
Teuer istalles, was unter
Pflege und Akquise
von Kunden fällt.
Rüegg-Stürm hat
offenbar jede Menge
Vertrauen in Vincenz,
aber nie die Kraft,
jenemMann die Stirn
zu bieten,dem er eine
halbe MillionFranken
zu verdanken hat.
Sie haben PierinVincenz bei seinemAufstieg und
Fall begleitet: Lorenz Erni,Patrick Gisel,
Peter Spuhler,EvelineWidmer Schlumpf,
Nadja Ceregato undJohannes Rüegg-Stürm.
tot erklärt und der damaligenFinanz-
ministerin EvelineWidmer-Schlumpf
Ende 2012 Sukkurs leistet bei derLan-
cierung des automatischen Informa-
tionsaustausches mit der EU. Je mand,
der ihn sehr gutkennt, vergleicht Pie-
rin Vincenz mit dem früherenFormel-
1-RennfahrerJo Siffert: talentiert, intel-
ligent, beliebt; doch bei Siffert ist das
Auto zu schwach, und fürVincenz ist
die Bank zu klein.
Nach dem schmerzhaften Lohnknick
von 2009 nimmt die Machtfülle vonVin-
cenz weiter zu, so wächst die Zahl von
Beteiligungen rasant.Vincenz über-
nimmt weitereVerwaltungsratsmandate,
was seine starke Stellung in derBank
zementiert. Und er überschreitet er-
neut Grenzen mit einem immer selbst-
herrlicheren Gebaren. So hat er es im
Jahr 2011 auf dieBank Sarasin abge-
sehen, die noch im Besitz der nieder-
ländischenRabobank-Gruppe ist.Weil
Raiffeisen allein den Kaufpreis nicht
stemmen kann, trittVincenz gegenüber
den Niederländern mit einem nicht ge-
nanntenPartner als Bieter auf.Dieser
Partner istVontobel, nur weiss die Zür-
cher Bank nichtsdavon.Vincenz hat sie
eigenhändig zur Mitbieterin gemacht,
ohne vorher auch nur einWort mit den
Vontobel-Verantwortlichen zureden.
Schliesslich legt die in Südamerika ver-
wurzelte Safra-Gruppe 1 MilliardeFran-
ken in bar auf denTisch und sackt Sara-
sin ein.Das verhindert wohl, dass der
Eklat öffentlich wird.
Einen Monat späterkommt Vincenz
dann doch noch zu einer Privatbank.
Gleichsam über Nacht fälltRaiffeisen
Anfang 2012 die PrivatbankWegelin
(später Notenstein) in den Schoss. Die
amerikanischen Steuerbehörden haben
dem St. GallerTraditionshaus wegen
mutmasslicher Beihilfe zur Steuer-
hinterziehung im Geschäft mit ame-
rikanischenKunden eine Klage ange-
droht.Konrad Hummlers Anstrengun-
gen, eine Ostschweizer Seilschaft zum
Kauf derBank zu bewegen, schlagen
fehl, weil die Klagedrohung wie ein
Damoklesschwert überder Bank hängt
und die Zeit drängt. Ironie des Schick-
sals:Aus Angst, dassWegelin inte-
griert und als eigenständigeAdresse
verschwinden würde, lehnenKonrad
Hummler und Otto Bruderer einen
wesentlich lohnenderenVerkauf an die
in teressierteVontobel ab – aberJahre
spä ter wird Notenstein doch noch bei
der Zürcher Privatbank landen und in
ihr aufgehen.
Die «biederenRotmöntler»
Einfach ist es für PierinVincenz selbst
nach dem Kauf vonWegelin nicht, in die
sogenannt gute St. Galler Gesellschaft
aufgenommen zu werden,obwohl er die
Voraussetzungen dafür eigentlich hätte.
Er stammt aus einer wohlhabenden und
bekannten BündnerFamilie, er führt die
grössteSt. GallerBank schweizweit zu
neuen Höhenflügen, und er ist im per-
sönlichen Umgang äusserst einneh-
mend.Vincenz wird Mitglied im glei-
chenRotary Club wieKonrad Humm-
ler, doch die beiden gehen sich aus dem
Weg. Ein Platzhirschproblem.
Die ungeschriebenenRegeln zu be-
folgen, um in St. Gallen dazuzugehören,
behagtVincenz aber letztlich nicht. Die
eingesessenenFamilien stammen oft
aus der zurückhaltendenTextilbranche,
Diskretion und Bescheidenheit werden
vorausgesetzt, ebenso derWohnsitz. So
residieren vielereiche St. Galler inVil-
len auf demRotmontener Hügel, wo
auch die HSG thront.Just über sie
macht sichVincenz offenbar immer
wieder lustig. Die «biederenRotmönt-
ler» bezahlten in der Stadt viel zu hohe
Steuern, soll er gerne gesagt haben,um
dann anzufügen, dass er viel schlauer
sei, weil er im steuergünstigenTeu-
fen wohne. In St. Gallen, der Stadt der
Unternehmer, wirdVincenz als arro-
gant und unbescheiden wahrgenom-
men, zudem als Manager und damit als
einer, der Geld ausgibt, das eigentlich
Raiffeisen gehört. So bleibt der Mann,
der so vieleRunden in der Stadt spen-
di erthat, am Ende doch draussen.
Gleichwohl sieht man PierinVincenz,
mittlerweile 63-jährig, gelegentlich in
seinem Mercedes durch St. Gallen fah-
ren. Manchmal taucht er auch braunge-
brannt im Bündnerland auf und freut
sich auf einen Schwatz mit alten Be-
kannten. Er soll, so hört man,ers taun-
lich guten Mutes sein.