Neue Zürcher Zeitung - 18.10.2019

(Barry) #1

Freitag, 18. Oktober 2019 REISEN 57


Wie lebenswert!

Zum zehnten Mal in Folge gilt Wien dieses Jahr als die Stadt mit der höchsten Lebensqualität. Zürich liegt auf


Platz zwei. Zu diesem Schluss kommt die jährlic h durchgeführte Mercer-Studie. Ein Vergleich. VON CLAUDIO RIZZELLO


Um 17 Uhr 15 ...


...treiben sich an einemFreitag auf dem
St ephansplatz inWien vor allemTouris-
tengruppen aus Asien, eilige Geschäfts-
menschen undTauben herum.Vor dem
beeindruckenden Dom stehen etwa
zwanzig Pferde mit ihrenKutschen.Eins
davon wiehertlaut und kackt dann. Es
regnet in der vermeintlich lebenswertes-
ten Stadt derWelt. Bis zu der nächsten
öffentlichenToilette sind es etwa vier
Gehminuten, für ihre Benutzung wer-
den 50 Cent fällig.Von den drei Pissoirs
ist eines defekt. Die Einrichtung ist aus
dunklem Holz.
...an einem anderen Freitag laufen
auffallend elegant angezogene Men-
schen über den Sechseläutenplatz in
Zürich.Andere sitzen, zur Sonne gerich-
tet, in den Stühlen, die dort netterweise
stehen.Vor der Oper tanzenJugend-
liche einstudiert, hinten glänzt der See.
DieToiletten sind näher und moderner
als inWien – und gebührenfrei.
Zwei schöne Plätze!Fairerweise muss
erwähnt werden, dass es am Sechse-
läutenplatz manchmal auch nach Kacke
riecht.Das liegt dann an denAusschei-
dungen der Kamele, die jeweils imFrüh-
ling am dort gastierenden Zirkus Knie
engagiert sind. Zürichs Sechseläuten-
platz ist etwas sauberer,Wiens Ste-
phansplatz charmanter:Unentschieden.


Velowege...


...sindinWien oft grünbemalt, wegen
des geschmeidigen Asphalts angenehm
zu befahren, verlaufen zwischen schö-
nen, hohenBäumen und an prächtigen,
geschichtsträchtigen Gebäuden vorbei.
Die Innenstadt lädt zumFahrradfahren
ein. InternationalerTop-Wert Wiens: Nur
29 Prozent allerWege legenWienerinnen
undWiener mit dem PKW zurück.
...sind in Zürich verbesserungs-
würdig.Wer auf demTr ottoir fährt, weil


dieVelowege nicht auszumachen sind
oder weil dieTr amspuren bedrohlich
durcheinander mäandern, kann die Uhr
danach stellen, bis er angeschrien wird:
«. ..dass man auf demTr ooottttoooiiirrrr
nicht fahrendarf!» In dieserBeziehung
müssen die Bürgerinnen und Bürger der
Stadt Zürich wirklich sehr empfindlich
sein. Abgesehen davon bekommt man
alsAussenstehender den Eindruck, dass
in Zürich 70 Prozent allerWegein einem
SUV zurückgelegt werden.
Da verliert Zürich wichtigeSympa-
thiepunkte.1:0 fürWien.

Studierende...


...die im Innenhof der Universität liegen
und lesen, überlegen lange, wenn man sie
fragt, was sie anWien störe. Sieseienmit
den öffentlichenVerkehrsmitteln sehr
zufrieden. Mit demKulturangebot auch.
Einige sagen, dass ihnen wirklich nichts
Negatives überWien einfalle, was selt-
sam anmutet, gehören Studierende doch
zu einer Gruppe, die immer irgendetwas
auszusetzen hat. «DasWetterkönnte bes-
ser sein», sagt eineStudentin. EinKom-
militone verweist auf die schwierige poli-
tischeLage in Österreich.Das war’s dann
aber auch.
...in Zürich bedauern, dass es gar
keinen richtigen Uni-Campus gebe.
Dass der Apéronach denVorlesungen
für viele nicht bezahlbar sei und dass es
zu wenigVelowege gebe.
Diese jungen Menschen feiernWien!
2:0.

Romantik...


...lässt sich in Städten gut an dem Ort
ermitteln, an dem die Liebesschlösser
hängen. Meist befestigen sie diePärchen
am Gitter vonirgendwelchen Brücken,
die, mal besser und mal schlechter gele-
gen, eineAussicht auf etwas Schönes of-
fenbaren. Irgendwo in derFerne spielt

einTasteninstrument oder eineTr om-
pete «Que sera»oder –Pech! – «De-
spacito». Den Schlüssel wirft dasPaar
weg,Küsschen, unten fliesst im Ideal-
fallWasser.In Wien gravierenVerliebte
wie «Spatzl&Zwergl» ihre Liebe auf ein
rosaVorhängeschloss der MarkeAbus.
Sie hängen es in den alten Stadtpark, an
einer Stelle ohne erkennbareAussicht
über einen kleinen, schmutzigen Fluss.
Vielleicht ist das eine der hässlichsten
Liebesschlossbrücken.
...wird in Zürich auf dem Mühlesteg
zelebriert.Das ist auf jedenFall schö-
ner als inWien. Zumindest wenn man
sich nicht mit BlickrichtungBahnhof
und Coop-Supermarkt die ewige Liebe
schwört, sondern Richtung See. Dann
kann es halten.
Zürich holt mit Hilfe der Liebe auf.
2:1.

Joggen...


...kann man inWien 5,2 Kilometer auf
der Ringstrasse, vorbei an Sehenswür-
digkeiten wie der Oper oder dem Burg-
theater, was schön wäre, wennman nicht
alle hundert Meter gegenTouristen-
gruppen laufen würde.
...ist in Zürich einTr aum. Selbst
wenn die Zürcher an sonnigenWochen-
enden im Chinagarten amrechten See-
ufer grillieren, als ginge es um ihr Le-
ben, undJugendliche mit ihren mobi-
len Boxen viel zu laut Musikhören,ent-
schädigt der Blick über den See hin zu
den mit Puderzucker bedeckten Bergen
alles – und zwar sofort.
Unentschieden.IstWienvielleicht
doch nicht so lebenswert, wie alleRan-
kings sagen? Gehört Zürich etwa doch
der erste Platz?

Essen...


...wird man in Wien natürlich ein
Schnitzel. Es heisst, dass es nur zweit-

besteWiener Schnitzel gebe. Niemand
könne ein bestes Schnitzel empfehlen,
ohne eine gastronomisch-diplomati-
sche Krise zwischen den stadtbekann-
ten Schnitzelrestaurants auszulösen.
...in Zürich: Zürcher Geschnetzel-
tes oder, auf Schweizerdeutsch, «Züri-
Gschnätzlets». KeinKommentar – essen
ist schliesslich Geschmackssache.
Kulinarisch gewinntWien:3:1.

ÖffentlicherVerkehr...


...funktioniert inWien.Es gibt sogar die
HaltestellePerfektastrasse. Anderseits
fährt die 71 zurFickeysstrasse. Den-
noch lohnt sich eineFahrt.Vor allem
mit dem rumpeligen, hier aber haltwie-
nerisch-charmantenTr am D nach Nuss-
dorf. 38 Prozent allerWege werden in
Wien mit öffentlichenVerkehrsmitteln
zurückgelegt.Auch das ist einTop-Wert
für den öffentlichenVerkehr.
...spielt in Zürich eigentlich nur
dann eineRolle, wenn man zum Flug-
hafen muss.Werkeinen SUV fährt, hat
vom Gefühl her in der Limmatstadtein-
fachverloren.
Während die beim Bremsen der
Strassenbahnentstehende Energie in
Wien direkt in ein Stromnetz einge-
speist wird, um damit dieRolltreppen
undAufzüge in denBahnstationen zu
versorgen, fährt Zürichweiter mit SUV.
4:1 fürWien.

Das Problem...


...anWienist der Kitsch. In den Strassen
laufenals Mozart verkleidete Menschen
herum, um sich mitTouristen fotografie-
ren zu lassen.Dann gibt es da natürlich
auch Klimt. Und «Sisi» in 100 verschie-
denen Schneekugeln. Die Kaffeehäuser.
Wenn die Maschine surrt,Tageszeitun-
gen ausPapier herumliegen, ein Pianist
zärtlich klimpert, derKellner Fliege und
Schnurrbartträgt, Sachen wie «Küss die

Hand» und «GnädigeFrau» sagt, der
Apfelstrudel süss riecht und die Gnä-
digeFrau vor Glück über ihr Dessert
gluckst wieRomy Schneider imFilm
«Sissi» – dann ist das für einen Ham-
burger einfach zu viel...
...an Zürich ist, dass Zürich aus-
sieht wie geleckt.Wie eineWohnung, in
der man nicht weiss, ob man überhaupt
etwas anfassen darf.Wie soll man an so
einem Ort leben?Das grösste Problem
aber ist, dass Zürich schon in einem
anderenRanking sehr verlässlich Platz
eins belegt: dem der teuersten Städte
Europas.
Wienräumt verdientermassen auch
in diesem Punktab.Zürich sollte smar-
terund schmuddeliger und vor allem bil-
liger werden. Endergebnis:5:1 fürWien.

Persönliches Fazit


Wien scheint tatsächlich die lebens-
wertere Stadt zu sein.Vielleicht aber
liegt der Unterschied zwischen der
lebenswertesten und der zweitlebens-
wertesten Stadt derWelt hauptsächlich
in den kleinen Dingen verborgen. Zum
Beispiel sind in Zürich Ampeln einfach
Ampeln. Sie sind grün, gelb oderrot. In
Wien sind auf einigen Ampeln Menschen
zu sehen. Und zwischen ihnen schwebt
ein Herz. Das schafft eine lebenswerte
Stimmung. Und eine sich ständig aktua-
lisierenderote Zahl in einer verspie-
geltenWand im HauptbahnhofWiens
gibtAuskunft darüber, wie viele Men-
schen in der Stadt gerade verliebtsind:
385 765. Eine beeindruckende, einerele-
vante Zahl, bei 1,9 Millionen Einwoh-
nern.Verliebtsein erhöht mit an Sicher-
heit grenzenderWahrscheinlichkeit die
Lebensqualität.Für Zürich liegen dazu
keine Zahlen vor.

Der Autorist Hamburger u nd lebte vorüber-
gehend in Züric h. Die Reise nach Wien hat
Österreich-Werbungermöglicht.

In Wien lebt es sichsogut, dass einem schwindligwerden kann–ein DebütantamWiener Opernball. CHRISTIAN BRUNA / EPA

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