National Geographic Germany - 10.2019

(vip2019) #1

Ein zwölf Wochen alter
Welpe streckt sich,
nachdem er von einem
frischen Moschus-
ochsenkadaver gefres-
sen hat. Die Welpen
sind jetzt groß genug,
um umherzuziehen.
Bevor der Winter
kommt, müssen sie
zunehmen und wich-
tige Techniken zum
Überleben lernen –
zum Beispiel Jagen und
andere Rudel meiden.


um Witterung aufzunehmen. Es war Anfang
September, bei minus drei Grad. Der kurze arkti-
sche Sommer war vorbei, auch wenn die Sonne
jeden Tag noch um die 20 Stunden schien. Bis
zur richtigen Nacht, der Polarnacht, die vier
Monate dauert mit Temperaturen von minus
50 Grad, blieben noch ein paar Wochen.
Ich war allein und unbewaffnet. Meine Freun-
de filmten gerade acht Kilometer weiter südlich.
Die Wölfe umzingelten mich wie Rauch. Die
unterschiedlichen Fellzeichnungen, nach denen
wir sie beim Filmen auseinanderhielten, sah ich
jetzt in Nahaufnahme: der männliche Jährling
mit den grauen Haaren am Nacken, ein Weib-
chen mit einem verletzten linken Auge, wohl
vom Kampf mit einem Moschusochsen. Die
Welpen mit den schwarzen Schwanzspitzen, die
bald weiß werden würden. Sie rochen nach dem
Moschusblut, in dem sie sich gewälzt hatten.

D


ie Welpen hoppelten mit
etwas Abstand vorbei,
noch ungelenk auf den
enormen Pfoten. Aber
die älteren Wölfe ka-
men dichter heran. Ein
Weibchen, vielleicht
zwei, drei Jahre alt, lief
forsch auf mich zu und
blieb eine Armlänge entfernt stehen. Die Augen
der Wölfin leuchteten bernsteinfarben, ihre
Schnauze war dunkel von getrocknetem Blut
oder verbranntem Müll von Eurekas Deponie,
wo die Wölfe manchmal vorbeischauten. Ich
blickte bewegungslos zurück, völlig entrückt.
Ich hörte das Gurgeln und Gluckern ihres
aufgewühlten Magens. Sie musterte mich und
zeichnete mit ihrer Schnauze in die Luft. Dann
drückte sie mir die Schnauze an den Ellenbogen.
Es fühlte sich elektrisierend an – und ich zuckte.
Die Wölfin sprang zurück. Sie blickte sich noch
einmal um und trottete zu ihrer Familie, die
schon die Gesichter zum Resteessen in den
Moschusochsen vergraben hatte.
Man ist versucht, Wölfe mit Hunden gleich-
zusetzen – gesellig, ziemlich einfach gestrickt
in Sachen Appetit und Neigungen. Aber meine
Begegnung hier auf Ellesmere verscheuchte
jeden Gedanken daran. Das Weibchen mit dem
Bernsteinblick hatte mir direkt in die Augen ge-
sehen, und fast war es, als hätte ich den Funken
einer brillanten Intelligenz erhascht, weit über
alles hinaus, was ich je bei einem Tier gesehen

ALLEIN UNTER WÖLFEN 143
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