Süddeutsche Zeitung - 02.10.2019

(avery) #1
Hans-Joachim Watzke, Geschäftsführer
vonBorussia Dortmund,
über Spielstil-Debatten  Seite 36

von benedikt warmbrunn

D

as feineste Zuspiel des
Abends kam dann doch von
Thiago Alcántara. Ein Blick
nach vorne, dann spielte er
den Ball aus dem Fußgelenk
heraus mit viel, viel Gefühl, der Ball flog
fast über das halbe Spielfeld. Leicht wie
ein Handkuss flog er dahin, genau in den
Lauf von Serge Gnabry flog. Dieser nahm
den Ball genauso gefühlvoll an, legte ihn
sich selbst vor, ein cooler Abschluss.
Es war das schönste Tor des Abends.
Und das siebte. Das letzte war es nicht.
In der 83. Minute der Partie des FC Bay-
ern bei Tottenham Hotspur hatte Gnabry
das 5:2 erzielt, es trafen noch Robert Le-
wandowski (87.) sowie zum vierten Mal an
diesem Abend Gnabry (88.), es war eine
spektakuläre Schlussphase. Es war der
würdige Abschluss eines Abends, der oft
die Richtung gewechselt hatte, doch in all
dem Hin und Her hatten die Bayern meis-
tens die Ruhe bewahrt. Sie waren bei die-
sem 7:2 (2:1) auch getragen von der Über-
zeugung in ihre eigenen Fähigkeiten. Und
von der Überzeugung, dass sie ihre Fähig-
keiten gut kombinieren konnten.
Geprägt hatte diese Kombination Trai-
ner Niko Kovac, schon mit seiner Aufstel-
lung. Vor die Abwehr ins Mittelfeld stellte
er Joshua Kimmich, den er offensichtlich
zunehmend als Mittelfeldspieler sieht,
nicht als Rechtsverteidiger. Neben Kim-
mich aber spielte Corentin Tolisso. Und da-
mit nicht Thiago, dieser vielleicht feinste
Zuspieler im Kader der Bayern. Thiago je-
doch hatte zuletzt auch hin und wieder ris-
kante Pässe gespielt, für den Sicherheitsfa-
natiker Kovac war das wohl zu viel an Risi-
ko. Er habe sich für „die offensivere Varian-
te“ entschieden, sagte der Trainer vor dem
Anpfiff, Thiago passte deswegen nicht in
sein Konzept, da er „ein klassischer Sech-
ser“ sei. Schon am Montag hatte Kovac an-
gedeutet, dass er mit Thiago zuletzt nicht
immer zufrieden gewesen sei; es war da-
her eine in sich stimmige Entscheidung.

Es war aber auch eine riskante. Gegen den
schärfsten Konkurrenten in der Gruppe
setzte er auf ein Duo im Maschinenraum
des Spiels, das dort kaum aufeinander ein-
gestellt ist.
Dass sich dann ein äußerst unterhaltsa-
mer Fußballabend entwickelte, lag auch
daran, dass Tottenham früh erkannt hat-

te, wo zunächst die Schwachstelle im Spiel
der Bayern zu finden war. Der Gastgeber
spielte schnell und direkt nach vorne, be-
vorzugt passte er sich dabei durch die Mit-
te. Denn dort fehlte zunächst ein Spieler-
typ: ein klassischer Sechser. (Wobei zu er-
örtern wäre, ob dieses Stellenprofil auf
Thiago überhaupt zutrifft.)

Sechste Minute: Kimmich rückte zu
weit nach rechts, Tolisso folgte ihm, es ent-
stand eine Lücke in der Mitte, durch die
dann Tottenham passte – schon stand Son
Heung-min vor Manuel Neuer, er scheiter-
te. Zehnte Minute: wieder ein Pass durch
die Mitte, Son mit einem Mix aus Flanke
und Torschuss, wieder scheiterte er an
Neuer. Ruhige Momente hatten die Bayern
in dieser Phase nicht. Bis dann in der zwölf-
ten Minute Tolisso den Ball vor dem eige-
nen Strafraum führte. Kein Gegner störte
ihn. Dann aber zögerte Tolisso. Und er zö-
gerte noch ein bisschen länger. So lange zö-
gerte Tolisso, bis Dele Alli angerannt kam.
Tolisso wurde hektisch. Dann ging alles
schnell. Fehlpass, ein kluges Zuspiel von
Moussa Sissoko, und dieses Mal scheiterte
Son nicht an Neuer.
Die Bayern stimmten sich schon bald
besser aufeinander ab, dem Schwung und
der Körperlichkeit von Tottenham setzten
sie eine Eigenschaft entgegen, die nur
Mannschaften unter Druck abrufen, die
ein tiefes Vertrauen in die eigenen Fähig-
keiten spüren. Der Sieg des FC Bayern an
diesem Abend war ein Sieg der Cleverness.
Nur drei Minuten nach dem Rückstand
glich Kimmich aus, durch einen wohl tem-
perierten Distanzschuss. Tottenham
stürmte und drängte noch ein paar Minu-
ten lang weiter, sie brachten die Bayern
auch in leichte Bedrängnis. Dann schlos-
sen die Gäste die Lücken in den eigenen
Reihen. Und die Momente, die die Bayern
vor dem gegnerischen Tor hatten, die nutz-
ten sie weiterhin cool. In der 45. Minute lei-
tete Robert Lewandowski eine Szene mit
der Hacke ein, es entstand ein Gewühl im
Strafraum, dann schnappte sich wieder Le-
wandowski an den Ball. Er traf mit einem
wohl temperierten Distanzschuss.
Zur Pause kam dann Thiago. Allerdings
gestand Kovac dadurch keinen Fehler.
Thiago kam für Linksverteidiger David
Alaba, er spielte nun neben Tolisso im Zen-
trum. Ob durch Thiago da nun ein klassi-
scher Sechser spielte oder nicht, erst ein-
mal war mehr Sicherheit im Spiel der

Münchner. Und die Lässigkeit, die blieb.
In der 53. Minute traf Serge Gnabry
nach einem Sololauf, bei dem allen der
Atem ausging, nur ihm selbst nicht. Zwei
Minuten später traf wieder Gnabry, nach
einem Zuspiel von Tolisso, der zuvor einen
schlampigen Fehlpass abgefangen hatte.
In der 61. Minute traf Harry Kane per
Foulelfmeter für Tottenham, die Gastge-
ber stürmten und drängten daraufhin ein
letztes Mal. Doch die Bayern blieben so
cool, dass sie sich nicht noch einmal verun-
sichern ließen. In der 72. Minute kam zur
Absicherung Javier Martínez, der unbe-
stritten ein klassischer Sechser ist. Und
dann spielte Thiago diesen feinen Pass
über das halbe Spielfeld hinweg, der Tot-
tenham endgültig die Überzeugung raub-
te, dass ihnen gegen diese Bayern noch et-
was gelingen könnte.

FOTO: SASCHA SCHUERMANN / AFP

von philipp selldorf

D


ie Bedeutung von Einwürfen im
Fußball werde unterschätzt, hat
Thomas Grönnemark der Profi-
branche in einem Gespräch mit der BBC
gesagt. Dass ausgerechnet Herr Grönne-
mark diese Feststellung getätigt hat, ist
nicht verwunderlich, denn der Däne ver-
dingt sich bei verschiedenen Fußball-
klubs berufsmäßig als Einwurf-Trainer.
Er beklagt also im eigenen Interesse die
Ignoranz der Gesellschaft, ähnlich dem
Betreiber eines Hundefrisiersalons,
wenn dieser kritisiert, dass die eminente
Wichtigkeit seines Gewerbes verkannt
werde. Grönnemark, den Jürgen Klopp
voriges Jahr in den Dienst des FC Liver-
pool aufnahm, kann angeblich aber zähl-
bare Erfolge vorweisen. Mehrere däni-
sche Teams sollen dank seiner Hilfe
durch Einwürfe zu Toren gelangt sein, in
Liverpool fällt der Verteidiger Joe Gomez
durch scharfe und weite Einwürfe auf.


An die Kunst von Rory Delap reichte er
damit aber nicht heran. Der ehemalige iri-
sche Nationalspieler war in der Premier
League für seine enormen Einwürfe be-
kannt. Wenn er sich an der Seitenlinie be-
reitmachte, versammelten sich sämtli-
che Spieler im Strafraum, viele Kopfball-
tore fielen nach seinen Einwürfen, die
wie Flanken hereinzischten. Luiz Felipe
Scolari, damals Trainer des FC Chelsea,
kommentierte Delaps ballistisches Hand-
werk so: „Das ist vielleicht nicht schön,
aber wenn du dadurch Tore erzielst, ist es
schöner, als wenn du keine Tore machst.“
Diese Sentenz führt mitten hinein in ei-
ne Geschmacksdebatte, die es gibt, seit-
dem es Fußball gibt. Sind Tore nach sog.
Standardsituationen moralisch und äs-
thetisch weniger wert als Tore, die aus
dem Spiel vollendet werden? Standards
gelten anspruchsvollen Betrachtern als
Waffe der kleinen Leute, die mangels
Spielvermögen aufs Schema F zurück-
greifen müssen, zum Beispiel das Sche-
ma Ecke-Kopfball-Tor. Auch der Bundes-
trainer Jogi Löw hat die Möglichkeiten,
die Ecken und Freistöße bieten, jahre-
lang konsequent ignoriert. Immer wenn
er danach gefragt wurde, hat er den Trick
des Kneipenwirts angewandt, der seinen
Gästen täglich Lokalrunden suggeriert –
mit einem Schild, auf dem „Morgen Frei-
bier“ steht. Wäre es nach Löw gegangen,
hätte auf dem Trainingsplatz der Natio-
nalelf immer ein Schild mit der Auf-
schrift „Morgen Freistoß- und Eckentrai-
ning“ gestanden. Bis sich vor der WM
2014 die Fragen so häuften, dass er das
Thema an den Assistenten Hansi Flick de-
legierte. Mit Erfolg. Über das Freistoß-
Kopfball-Tor, das Mats Hummels im Vier-
telfinale zum 1:0 gegen Frankreich erziel-
te, soll sich auch Löw gefreut haben.
Nun gab es am vorigen Spieltag in der
Bundesliga ein Standardtor zu bestau-
nen, das Leipzigs Trainer Julian Nagels-
mann als „Weltklasse“ adelte, obgleich es
vom Gegner bejubelt wurde: Schalkes Ma-
scarell hatte am ersten Pfosten per Kopf
Oczipkas Eckstoß verlängert, Sané vollen-
dete per Kopf am zweiten Pfosten. Was
Nagelsmann faszinierte: dass der Ablauf
bis ins Detail einstudiert war. Am nächs-
ten Tag kam Bremen in Dortmund nach
gleichem Muster zum Ausgleich: Kopf-
ballverlängerung Sargent, Kopfball
Friedl, Tor. Eigentlich sollte Osako verlän-
gern und Moisander das Tor machen,
doch weil sie beide verletzt sind, übernah-
men Sargent und Friedl. Funktionierte.
Darüber könnte man hier und dort mal
nachdenken. Bayer Leverkusen kam neu-
lich gegen Hoffenheim auf 19 Eckstöße –
die Partie endete 0:0. Oder der 1. FC Köln:
In drei Spielen hintereinander hat er kein
Tor mehr geschossen, am Sonntag 0:4 ge-
gen Hertha verloren. Aber am Montag hat
der Trainer Achim Beierlorzer seinen
Spielern bis Mittwochnachmittag freige-
geben. Ein paar Überstunden wären viel-
leicht auch ganz nützlich gewesen: zum
Training von Freistößen und Ecken –
und der allseits unterschätzten Einwürfe.


Der große Gnabry


Anfangs kommt der FC Bayern schwer in die Gänge und gerät in Rückstand, aber dann bleibt Gastgeber Tottenham fast chancenlos.
Vor allem die Offensive der Münchner agiert gnadenlos und überrollt beim 7:2-Erfolg in der Champions League die überforderte Spurs-Abwehr

Mehr als schöner Fußball


Philipp Selldorf war dabei,
als diedeutsche Elf 2014
auch dank einiger Stan-
dards den WM-Titel holte.

Simone Biles, beste Turnerin der
Geschichte,konzentriert sich zur WM
auf Salti und Schrauben  Seite 38 Basketball-Meister FC Bayern nimmt Aufsteiger Hamburg
auseinander –wie gut die Münchner wirklich sind,
wird sich aber erst in der Euroleague zeigen Seite 39

DEFGH Nr. 228, Mittwoch/Donnerstag, 2./3. Oktober 2019 HMG 35


SPORT


Fünf Tore nach der Pause
Gruppe Bnach dem 2. Spieltag

ECKEN UND FREISTÖSSE

Erster Pfosten,


zweiterPfosten


In der Bundesliga gab es zuletzt


wiedereinige einstudierte


Standardtore zu sehen


Wenn ein Orkan tobt, ist
Windstärke 12.Wer hat sich
das ausgedacht? Seite 40

Zeitvertreib


Hart und präzise: Serge Gnabry erzielt an einem halben Dutzend Beinen vorbei das dritte Münchner Tor gegen Tottenham. FOTO: PAUL CHILDS / REUTERS

Keine Sorge, hier sind keine Wiesn-Opfer zu betrauern – Spieler des FC Bayern
feiern Robert Lewandowski rustikal für sein erstes Tor. FOTO: GLYN KIRK / AFP

Tottenham Hot. – Bayern München 2:7 (1:2)
Tottenham: Lloris– Aurier, Alderweireld, Vertonghen,
Rose – Winks (81. Lamela) – Sissoko, Ndombele (64. Er-
iksen) – Alli (71. Lucas) – Kane, Son. – Tr.: Pochettino.
FCB: Neuer – Pavard, Boateng (72. Martínez), Süle, Ala-
ba (46. Thiago) – Kimmich, Tolisso – Gnabry, Coutinho,
Coman (71. Perisic) – Lewandowski. – Trainer: Kovac.
Tore: 1:0 Son (12.), 1:1 Kimmich (15.), 1:2 Lewandowski
(45.), 1:3 Gnabry (53.), 1:4 Gnabry (55.), 2:4 Kane (60.,
Foulelfmeter), 2:5 Gnabry (83.), 2:6 Lewandowski (87.),
2:7 Gnabry (88.). – Schiedsrichter: Turpin (Frankreich).


  • Gelbe Karten: Ndombele, Kane – Gnabry. – Zuschau-
    er: 60 127.


Roter Stern Belgrad – Olymp. Piräus -:- (-:-)
0:1 Semedo (37.), 1:2 Vulic (62.), 2:1 Milunovic (87.), 3:1
Boakye (90.). – Gelb-rote Karte: Benzia (Piräus), wieder-
holtes Foulspiel (58.).


  1. Bayern München 2 2 0 0 10:2 6

  2. Roter Stern Belgrad 2 1 0 1 3:4 3

  3. Olympiakos Piräus 2 0 1 1 3:5 1

  4. Tottenham Hotspur 2 0 1 1 4:9 1
    22.10.: Tottenham – Belgrad, Piräus – FC Bayern München.


Weltstar in Stuttgart
FOTO: THOMAS KIENZLE / AFP

Lehrstunde für die Leichtmatrosen

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