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ine Zeitlang sprachen jene, die
hoffnungsfroh in die digitale Zu-
kunft blickten, vom Wunder der
Schwarmintelligenz. Über das
Gegenteil des Phänomens aber
sprach man kaum. Am 19. Dezember 2018
schließlich fragte ein anonymer Nutzer auf
der Diskussionsseite zum Wikipedia-Ein-
trag über Schwarmintelligenz: „Gibt es ei-
gentlich auch Schwarm-Unintelligenz?“
Ein anderer erwiderte: „Wird’s wohl ge-
ben.“ Dann riß die Diskussion ab.
Schwarmintelligenz war tatsächlich ein-
mal ein großes Versprechen: Das Internet
sollte ermöglichen, was ein Bienen-
schwarm leistet, nämlich die Kooperation
möglichst vieler zugunsten eines großen
Projekts. Der Einzelne und sein Beitrag
mochten klein sein – in der Summe waren
sie bedeutsam. Es war in den Nullerjahren,
als die Wikipedia zum Inbegriff eines
schwarmintelligenten Projekts wurde.
Mittlerweile aber droht ausgerechnet Wiki-
pedia selbst zum prominentesten Beispiel
der Schwarm-Unintelligenz zu werden.
Die Online-Enzyklopädie ist drauf und
dran, an ihrer Größe – also letztlich an ih-
rem eigenen Erfolg – zugrunde zu gehen.
Immer mehr Artikel sind veraltet, im-
mer weniger Autoren arbeiten mit, der
Frauenanteil unter den Beitragenden ist
mit geschätzt neun Prozent verheerend
niedrig. PR und ideologische Unterwande-
rung beeinflussen die Qualität der Einträ-
ge. Der Schwarm versagt. Wobei die Verant-
wortung dafür schwer zu verorten ist.
Denn für die kollektive Einfalt trifft zu,
was auch für kollektive Intelligenz gilt: Die-
se ist „unabhängig von der Intelligenz der
einzelnen Mitglieder“, so die Definition
wiederum auf Wikipedia; und so entwi-
ckelt sich auch Schwarmdummheit unab-
hängig davon, dass viele Wikipedianer
klug, wohlmeinend und umsichtig sind.
Die Fehler liegen im System.
Gegründet wurde die Wikipedia vor 18
Jahren in den USA vom Medienunterneh-
mer Jimmy Wales. Sie war ein utopisches
Projekt. Das Wissen der Welt
sollte jedem jederzeit kostenlos
zur Verfügung stehen, erreich-
bar mit nur wenigen Klicks. Die
Infrastruktur dafür ist bis heute
über Spenden finanziert. Im Vor-
dergrund stand nicht der Profit,
sondern die Idee der Kooperati-
on: Die (unentgeltliche) Zusam-
menarbeit vieler sollte den Ein-
zelnen klüger, besser, effizien-
ter machen. Es war eine grandio-
se Idee, inspiriert vom Geist der
Aufklärung: der Ausgang des
Menschen aus seiner selbst ver-
schuldeten Unmündigkeit – mit-
hilfe der neuen medialen Mög-
lichkeiten.
Utopisch war die Wikipedia
auch deshalb, weil sie nie fertig
würde. Sie sollte wachsen und
wachsen, ein ewiges Verspre-
chen. Das Projekt war nicht auf
seinen baldigen Abschluss, son-
dern auf Dauer angelegt und damit der In-
begriff von „Mitmach-Internet“, eben Web
2.0.
Doch das Internet hat sich seit 2001 wei-
terentwickelt, in eine andere Richtung.
Heute wirkt die Idee der Wikipedia manch-
mal wie aus der Zeit gefallen. Nicht die Er-
weiterung des kollektiven Wissens oder
die altruistische Kollaboration stehen nun
im Vordergrund, sondern Imagepflege
und Selbstdarstellung. 2004 wurde Face-
book gegründet, 2006 Twitter, 2010 dann
Instagram. Die Anziehungskraft dieser so-
zialen Medien ist enorm, der Unterschied
zwischen ihnen und der Wikipedia ekla-
tant: Während in der Online-Enzyklopädie
die Autoren mehr oder weniger anonym ge-
meinsam an einem Projekt arbeiteten, bas-
telt in den sozialen Medien jeder an seinem
eigenen Auftritt und bekommt dafür un-
mittelbare Belohnung: möglichst viele Li-
kes. Dass das Gehirn auf solche Gratifikati-
on ähnlich reagiert wie auf Drogen, ist wis-
senschaftlich gut untersucht.
Wer in der Wikipedia Artikel verfasst, er-
hält dafür keine Likes. Stattdessen droht
Kritik, wenn andere Nutzer Fehler oder
auch nur vermeintliche Fehler gefunden
haben. Es folgen Diskussionen, die sich
manchmal zu sogenannten Edit-
Wars hochsteigern, langwieri-
gen Auseinandersetzungen
über einzelne Formulierungen
oder die Interpretation der Fak-
ten. Es gibt zwar eine Communi-
ty, die sich austauscht und auf
die Schultern klopft, ihre analo-
gen Stammtische in vielen Städ-
ten wirken aber geradezu ana-
chronistisch. Dass irgendein Le-
ser sich auf der Diskussionssei-
te für einen gut geschriebenen,
fundierten Artikel bedankt,
kommt vor. Aber es ist äußerst
selten.
Anders als die sozialen Medi-
en befriedigt Wikipedia nicht
unmittelbar das grundsätzliche
psychologische Bedürfnis des
Menschen nach Anerkennung.
Man schreibt und korrigiert,
verbringt Feierabend um Feier-
abend mit Recherchen – aber
meist ohne dafür gelobt zu werden. Für die
durchschnittliche Psyche eine recht unbe-
friedigende Situation. Erst recht für die
der Instagram-Generation, die sich auch
deshalb unerwünscht fühlt in der Wagen-
burg der Alteingesessenen. Die fehlende
Willkommenskultur ist, zusammen mit
dem komplizierten Regelwerk für neue
Einträge und Bearbeitungen, die Hauptur-
sache für den Mitarbeiterschwund bei Wi-
kipedia, wie eine US-Studie herausfand.
In den Anfangsjahren vermochte die
Online-Enzyklopädie noch Tausende zum
Mitmachen motivieren, aber damals wa-
ren das Internet und seine Möglichkeiten
andere als heute. In jenen Jahren entstand
eine Vielzahl der bestehenden Artikel in
der deutschsprachigen Wikipedia. Damals
schrieben pensionierte Schaffner über
Bahnstrecken in Thüringen, Studenten
brachten von ihren Rucksackreisen nach
Asien Fotos von seltenen Schmetterlings-
arten mit und stellten sie online. Aus jener
Zeit stammt auch der Eintrag zum Begriff
„Schwarmintelligenz“, er wurde am 25. Au-
gust 2004 vom User kku angelegt.
Inzwischen prangt auch über diesem
Text wie über vielen anderen ein Warnhin-
weis: „Dieser Artikel bedarf einer Überar-
beitung.“ Diese Warnung steht nun über et-
wa 5000 Artikeln. Verglichen mit der Ge-
samtzahl von 2,3 Millionen Artikeln in der
deutschsprachigen Wikipedia mag das we-
nig erscheinen. Aber mit jedem weiteren
als überholt markierten Text, mit jedem
Nachweis der Manipulation bleibt das Lexi-
kon hinter den Ansprüchen vieler Nutzer
zurück. Zumal, wenn Fehler zwar mar-
kiert, nicht aber korrigiert werden.
Auch die Strukturen der Wikipedia be-
dürfen einer Überarbeitung. So sehen es
kritische Beobachter wie der Medienrecht-
ler Johannes Weberling, der die Arbeitsstel-
le Wiki-Watch an der Europa-Universität
Viadrina Frankfurt (Oder) gegründet hat.
Er konstatiert vor allem drei gravierende
Probleme: den rapiden Schwund aktiver
Autoren, die daraus resultierende Über-
macht der verbliebenen Wikipedianer und
die sinkende Qualität der Inhalte.
An der Wikipedia lässt sich ablesen, wie
sehr sich das Netz in den vergangenen Jah-
ren verändert hat. Vom utopischen Mit-
mach-Web der Nullerjahre ist wenig übrig.
Gleichzeitig aber hat sich Wikipedia als ei-
ne der beliebtesten Webseiten etabliert.
Fast jeder Internetnutzer besucht sie, man-
che fast täglich, andere seltener und dafür
oft ausgiebiger. Man liest sich fest, folgt
den Links von Artikel zu Artikel, gelangt so
vom Kinofilm, den man gerade gesehen
hat, auf die Seite über die Hauptdarstelle-
rin bis zum Eintrag über die Heimatstadt
von deren Großeltern.
Andere konsultieren die Wikipedia, als
wäre der Wissensspeicher eine Art Erweite-
rung des eigenen Gehirns, ob im Biergar-
ten oder abends in der Kneipe. „Man muss
Dinge nicht mehr wissen, man muss wis-
sen, wo man sie nachschaut“, lautet ein oft
zitierter Spruch an deutschen Unis. Und
was wäre bequemer, als am ohnehin griff-
bereiten Smartphone die Wikipedia-App
oder direkt die Seite aufzurufen?
80 Prozent der deutschen Internetuser
ab 14 Jahren nutzen die Online-Enzyklopä-
die, wie eine repräsentative Befragung des
Digitalverbands Bitkom 2016 ergab. Beson-
ders hoch ist der Anteil der Wikipedia-Nut-
zer bei den Jüngeren: Bei den 14- bis
29-Jährigen beträgt er 92 Prozent. Und die
wenigsten Nutzer haben Zweifel an der Se-
riosität: Vier von fünf Wikipedia-Nutzern
halten die Lexikon-Artikel größtenteils für
verlässlich. So wandern die Informationen
aus dem Online-Lexikon in Zeitungsarti-
kel, Schulreferate und studentische Semi-
nararbeiten.
Gerade dieser Erfolg, ihre scheinbare Zu-
verlässigkeit und vermeintlich annähern-
de Vollständigkeit, wird für die Wikipedia
nun aber zunehmend zum Problem. Denn
wer das Online-Lexikon nutzt, tut dies
meist gedankenlos und selbstverständlich
als reiner Konsument und Leser. Dass es ur-
sprünglich aber auch darum ging, selbst
Beiträge zu schreiben, zu kritisieren und
zu verbessern, ist den meisten Besuchern
kaum noch präsent. Die Wikipedia wird
mittlerweile genutzt, als sei sie ein verita-
bles Lexikon. So war sie aber nie gemeint.
Dennoch hat sie ihre Konkurrenz, vom
Brockhaus bis zur Encyclopaedia Britanni-
ca, verdrängt. Zur historischen Einord-
nung: Der erste vollständige Brockhaus-
Band erschien 1809, nach fast 200 Jahren
erschien 2006 die letzte Auflage.
Während immer mehr Menschen die
Wikipedia konsultierten, sank die Zahl der
aktiven Schreiber. Von 2001 bis 2009 war
sie steil gestiegen, seitdem fällt sie stetig.
Von ehemals 1200 Usern, die in der deut-
schen Wikipedia pro Monat mindestens
100 Textveränderungen vornehmen, sind
nur noch etwa 900 übrig. Und auch von die-
sen sind die meisten bloße Häckchenma-
cher, die formale Korrekturen vornehmen.
Nur ein verschwindender User-Anteil trägt
zum inhaltlichen Ausbau und zur Qualitäts-
erhaltung der Enzyklopädie bei.
Der Schwarm wird kleiner, die Macht
der wenigen Aktiven wächst. Medienrecht-
ler Weberling nennt sie „Power-User“. Die-
se Hardcore-Wikipedianer, meist sind es
Männer, haben mittlerweile großen Ein-
fluss. Denn die 188 Administratoren – qua-
si das Führungspersonal der deutschen
Community, das Konflikte schlichtet, Re-
gelverstöße ahndet und renitente Benut-
zer sperrt – werden von den angemeldeten
Usern gewählt. An den Wahlen nehmen al-
lerdings meist nur einige Dutzend Benut-
zer teil; so können sich Seilschaften bilden,
die Gleichgesinnte in die Position von Ad-
ministratoren befördern und dort halten.
Diese sind dann bei Konflikten
gleichzeitig Untersuchungsfüh-
rer, Ankläger und Richter. Eine
fatale Machtkonzentration.
So verkommt die Wikipedia
mehr und mehr zu einem Verein
von Insidern – was es wiederum
neuen Autorinnen und Autoren
umso schwerer macht, einzustei-
gen. Auch viele Pioniere sind
frustriert. So wie jener User, der
den Eintrag zur „Schwarmintel-
ligenz“ angelegt hat: Kku arbei-
tet seit Herbst 2002 an der Wiki-
pedia mit, hauptsächlich an Tex-
ten zu Musikthemen, verrät sei-
ne Benutzerseite. Im wirklichen
Leben heißt „kku“ Kai Kumpf
und ist promovierter Bio-Infor-
matiker, Spezialgebiet naturwis-
senschaftliche Systemtheorie.
An der Wikipedia mitzuarbeiten
begann er mit 38 Jahren, da war
Kumpf gerade von der Hoch-
schule in die freie Wirtschaft gewechselt.
„Die Idee Wiki war für mich eine Sensati-
on. Wer hier mitarbeitet, tut es aus anderer
Motivation, als wenn er sein Facebook-Pro-
fil aufbrezeln würde: Das Ich tritt in der
Wikipedia in den Hintergrund“, erzählt
Kumpf.
Doch auch Kumpf ist heute kaum noch
auf de.wikipedia.org aktiv, schreibt und
korrigiert stattdessen in der englischspra-
chigen Version des Lexikons. Die sei freier
und vielfältiger. „Die deutsche Wikipedia
ist eine freudlose Angelegenheit gewor-
den“, sagt er. „Steht man den geschlossen
auftretenden Wikipedianer-Cliquen als
Einzelner gegenüber, zieht man in Diskus-
sionen tendenziell den Kürzeren.“
Studien belegen, dass es in der deutsch-
sprachigen Wikipedia einen inneren Zirkel
von Schreibern gibt, die seit Langem dabei
und überdurchschnittlich aktiv sind. Nicht
selten kennen diese Autoren sich auch per-
sönlich, oft betrachten sie sich als Herren
über einzelne Themenbereiche. Änderun-
gen an den von ihnen betreuten Artikeln
verstehen sie als persönliche Angriffe –
und machen sie wieder und wieder rück-
gängig.
Welche Formulierungen im Text akzep-
tiert werden, welche Informationen als re-
levant zu gelten haben, das entscheidet die
Mehrheit der an der entsprechenden Dis-
kussion beteiligten User. Doch lassen sich
wissenschaftliche Erkenntnisse nicht nach
dem Geschmack zufälliger Mehrheiten for-
mulieren, sondern nur auf der Grundlage
von Sachkompetenz. Kritiker monieren,
dass sich eine Mehrheit von Ignoranten ge-
gen eine Minderheit von Kompetenten
durchsetzen kann.
Kai Kumpf war von 2003 bis 2007 sogar
Administrator, dann flog er raus. Auf sei-
ner Profilseite fasst er seine Frustration in
dem Kapitel „Ernüchterung“ zusammen:
„Inzwischen herrscht die politik und die
metadiskussion über inhaltsfragen. ent-
sprechend ist kku teilweise vom produzen-
ten zum konsumenten mutiert.“ Es ist
ein Rückzug, der typisch für viele ist. Und
symptomatisch für die strukturellen Pro-
bleme, die alte Autoren verprellen und
neue, die gewollt und dringend nötig sind,
seriöse Fachautoren nämlich, abschre-
cken. Nur wenn die Autorenschaft wieder
vielfältiger wird, lässt sich auch der Ein-
fluss von PR und ideologisch gefärbten Bei-
trägen eindämmen.
Dass es solche Unterwanderungsversu-
che, ob von links oder rechts oder aus der
Wirtschaft, gibt, lässt sich aufgrund der Of-
fenheit der Wikipedia kaum verhindern,
muss auch Weberling zugeben. Wissensbe-
stände waren zu allen Zeiten durch die je-
weiligen Herrschaftsverhältnisse determi-
niert. Ein größeres Ungleichgewicht zu-
gunsten einer bestimmten Welt-
sicht könnte nur der Schwarm
der Mitarbeitenden ausglei-
chen – wenn er ausreichend
groß ist.
Kai Kumpf, alias kku, ist
skeptisch, was die Zukunft an-
geht: „Wird eine kritische Gren-
ze an Autoren unterschritten,
ist das Projekt tot.“ Es brauche
eine repräsentative Auswahl
von Vertretern unterschiedli-
cher Wissensdomänen und
Weltsichten, so der Experte für
komplexe Systeme. Das Pro-
blem liege in der Dominanz der
Wikipedia, die Konkurrenten
verdrängt hat: Wenn die Utopie
kippt, gefährde das nicht weni-
ger als das Wissen der Welt.
Die gängigste Idee zur Ret-
tung der Wikipedia ist indes so
simpel wie herausfordernd:
Aus reinen Konsumenten müss-
ten Produzenten werden. Im Sinne der Auf-
klärung verlangt die Wikipedia das Enga-
gement einer kritischen, aktiven Öffent-
lichkeit. Es ist ein emanzipatorischer An-
spruch, Teilhabe darf sich auch im Netz
nicht auf das Sammeln und Verteilen von
Likes beschränken.
Der Wikipedia jedenfalls würde es gut-
tun, sie wieder als unfertig zu betrachten,
als großes Versprechen. Wie jede Utopie
darf auch eine Enzyklopädie nie als abge-
schlossen gelten. Was sonst passiert, da-
von erzählt Borges’ Kurzgeschichte „Die Bi-
bliothek von Babel“: Sobald der Erzähler
verkündet, dass die Bibliothek von Babel
nun sämtliche Bücher umfasse, gehen die
Bibliothekare aufeinander los.
DEFGH Nr. 230, Samstag/Sonntag, 5./6. Oktober 2019 11
BUCH ZWEI
Wer auf
Wikipedia
fleißig
Artikel
verfasst,
erhält
dafür
keine Likes
Die Zahl
der Autoren
nimmt ab,
die Macht
der
wenigen
Aktiven
wächst
Wie Staaten, die die Meinungsfrei-
heit unterdrücken,mit Wikipedia
umgehen Seiten 12 und 13
Weltwissen
Die Besserwisserei
AlleWelt schreibt mit an einem Online-Lexikon –
und alle Welt erhält kostenlos Zugang zu Informationen. Tolle Idee. Doch 18 Jahre nach
ihrer Gründung droht Wikipedia an ihrem eigenen Erfolg zugrunde zu gehen
text: karin janker und thomas urban, illustrationen: stefan dimitrov