Ein Klassiker:
das „städtische
Brause-und
Wannenbad“ in
Haidhausen, in dem
sich heute eine Kita
befindet (rechts).
In der ehemaligen
Gaststätte zum
Tatzelwurm ist heute
eine Anwaltskanzlei
(oben).
FOTOS: CATHERINA HESS,
FLORIAN PELJAK
Die Zeichen
der Zeit
Wenn der Milchladen zum Fotografenbüro wird:
An manchen Fassaden prangen Beschriftungen,
die längst nicht mehr aktuell sind
von anna hoben
M
oment, irgendwas stimmt
da nicht. „Butter Milch Kä-
se“, steht an dem Schau-
fenster des kleinen La-
dens in der Unteren Wei-
denstraße in Untergiesing, und: „Molke-
reiprodukte“. Was man allerdings nicht
sehen kann, wenn man einen Blick
durchs Fenster wirft – genau: Butter,
Milch oder Käse. Stattdessen: Bücher, mo-
derne Kunst, Designerstühle. „Hand
Werk Kunst“ heißt der kleine Laden, das
sieht man beim zweiten Blick auf das
Schaufenster. Es ist ein Phänomen, das ei-
nem beim Gang durch die Stadt immer
wieder auffällt: Schriften an Hausfassa-
den, die auf etwas verweisen, das gar
nicht da ist – nicht mehr. Ein Thai-Massa-
gesalon, über dem „Metzger“ steht. Eine
Schmuck-Manufaktur, die augenschein-
lich für „Obst“ und „Gemüse“ wirbt. Oder
ein Büro von Fotografen, über dem in
schnörkellosen Lettern nur ein Wort
steht: Milch.
Ein Anruf bei Sebastian Arlt. Vor etwa
einem Jahr ist der Fotograf in das Büro ge-
zogen, das er sich mit vier weiteren Kolle-
gen und einem Webdesigner teilt. Müsse
schon länger her sein, dass da ein Laden
für Milchprodukte gewesen sei, sagt er.
Dass sie die Schrift entfernen, habe nie
zur Debatte gestanden. „Wir fanden das
alle super.“ Ihm gefällt, dass man sieht,
was da mal war. „Außerdem ist es schön
geschrieben und schaut gut aus.“ Bevor
seine Bürogemeinschaft einzog, hatte
der Münchner Getränkehersteller Aqua
Monaco hier seinen Sitz, davor war ein
Modelabel drin. Während des Renovie-
rens – sie haben viel Arbeit in den Raum
gesteckt – legten die Fotografen die Origi-
nalfliesen des Milchladens frei. All das
sieht man von draußen freilich nicht.
Man sieht auch nicht, was sich jetzt hin-
ter dem Schaufenster verbirgt. Einige
Topfpflanzen, so neutral, wie es neutra-
ler kaum geht; eine kleine blaue Gießkan-
ne; ein „Fake-WM-Pokal“ in der linken
Ecke. Arlt lacht. All das vor einer unauffäl-
ligen weißen Gardine – eine perfekte Fas-
sade. Und mit der „Milch“-Ansage über
der Tür auch perfekt verwirrend.
Das ist es wahrscheinlich, was den
Charme dieser Überbleibsel aus einer an-
deren Zeit ausmacht. Es sind irritierende
Momente, die den Passanten kurz aus
dem Alltag reißen und die Geschichte des
Hauses sichtbar machen. Eine Vergangen-
heitsschicht, die in diesen Fällen nicht un-
ter der Gegenwartsschicht liegt, sondern
direkt daneben – und die sich auf lässige
Weise mit ihr vermischt. Palimpseste, bei
denen die ursprüngliche Schrift sichtbar
geblieben ist. Sie zeigen, wie Räume in ei-
ner Stadt mit der Zeit neu, anders genutzt
und mitunter auch gentrifiziert werden.
In der Zenettistraße etwa kann man sich
ausmalen, wie das einst gewesen sein
könnte, als die Nachbarn sich jeden Mor-
gen hier ihre Milch geholt haben.
Vom Schlachthofviertel nach Haidhau-
sen, von der Zenettistraße in die Kirchen-
straße. Dort kann man sich vorstellen,
wie es war, als sich in dem Haus mit der
schwungvollen grünen Aufschrift „Zur al-
ten Kirche“ tatsächlich noch ein Wirts-
haus namens „Zur alten Kirche“ befand,
das, man ahnt es schon, gegenüber der al-
ten Kirche stand. Ist noch gar nicht mal
so lange her, wie man von Johann Schleh-
huber erfahren kann, der immer mit der
Kirche verbunden war und sich in dieser
Gegend bestens auskennt, weil er seit 76
Jahren hier wohnt – seit seiner Geburt al-
so. Etwa zehn Jahre sei es her, dass das
Wirtshaus verschwunden ist, erzählt er.
Zuletzt sei da ein türkisches Lokal gewe-
sen, das zur Fußballweltmeisterschaft ei-
ne große Leinwand aufgebaut habe. „Da
sind wir dann vom Pfarrfest aus rüberge-
gangen und haben geschaut, wie es
steht.“
Schlehhuber kennt auch noch Anekdo-
ten von ganz früher. Aus der Zeit, als das
Haus gebaut wurde, um 1900. Auch da-
mals sei da ein Wirtshaus gewesen, und
man erzähle sich, die Männer seien sonn-
tags statt in die Kirche erst einmal zum
Frühschoppen gegangen. Wenn die Pre-
digt vorbei war, läutete der Mesner eine
Glocke, und dann gingen die Männer rü-
ber zu ihren Frauen in die Kirche. Heute
ist in dem Haus in der Kirchenstraße die
deutsch-englische Kindertagesstätte
„Little Daisies“ untergebracht, die einem
finnischen Erziehungskonzept folgt.
Dass an einem Haus noch eine alte Wer-
beschrift prangt, könne mit dem Denk-
malschutz zu tun haben, sagt Harald
Scharrer von der städtischen Denkmal-
schutzbehörde. In einigen Fällen wolle
aber auch einfach der Hauseigentümer
die Schrift erhalten. Manchmal passt die
Vergangenheit sogar ganz gut zur Gegen-
wart, weil die Nutzungsarten eine gewis-
se Verwandtschaft aufweisen. Zum Bei-
spiel, wenn das alte Schild über einem
neuen Café verkündet: „Lebensmittel“.
Oder wenn über der Bar Centrale noch
die Überreste der alten Konditorei geblie-
ben sind, die jedoch ein paar Buchstaben
lassen musste: „Ko--itorei Café Schm-d“.
Einen Kilometer entfernt, am Stachus,
ließ die Firma Osram vor Kurzem ihre Re-
klameschrift entfernen. Es folgte: ein
nostalgischer Aufschrei, der deutlich
machte, wie sehr mancher an den Schrift-
zügen aus der Vergangenheit hängt.
Wo einst in
Haidhausen
Lebensmittel verkauft
wurden, ist heute ein
Lola’s Eckcafé (oben).
Statt
Molkereiprodukten
gibt es in Untergiesing
Kunst und schöne Dinge
(links). Und die Bar
Centrale in der
Innenstadt war
früher eine
Konditorei (unten).
Noch immer verweist
die Schriftin der
Kirchenstraße
in Haidhausen auf die
Gaststätte „Zur alten
Kirche“ – auch wenn
dort heute eine Kita
beheimatet ist (links).
Für den Fotografen
Sebastian Arlt und seine
Kollegen im Büro
kam es gar nicht in
Frage, das
„Milch“-Schild zu
entfernen (rechts).
An der Fassade des Café
Marais im Westend
prangt der Name des
früheren
Bekleidungsgeschäfts
Hans Mier (unten).
GRUSS AUS DER VERGANGENHEIT
Die Stadt wandelt sich ständig, und oft lässt das Neue das Alte ganz schnell vergessen.
Wergenau hinschaut, entdeckt aber immer wieder Überbleibsel aus früheren Jahrzehnten
„Außerdem ist es
schön geschrieben
und schaut gut aus.“
R2 THEMA DES TAGES Samstag/Sonntag, 5./6. Oktober 2019, Nr. 230DEFGH