Vatikanstadt –So vielböser Streit war
schon lange nicht mehr im Vatikan. Sogar
von der Gefahr eines Schismas in der ka-
tholischen Kirche ist die Rede. Wenn der
Papst an diesem Sonntag die dreiwöchige
Sondersynode zu Amazonien eröffnet,
kommt dem dramatischen Schicksal des
Regenwalds am Ende jedoch nur eine bei-
geordnete Rolle zu. In konservativen Krei-
sen glaubt man, dass unter dem Deck-
mantel einer „Ökotheologie“ die Kirchen-
lehre unterwandert werde, das Zölibat et-
wa, oder die Rolle der Frau. Eine „Häre-
sie“ sei das, sagte Kardinal Raymond Bur-
ke, Wortführer der Traditionalisten und
Gegenspieler des Papstes. Die angebliche
„Irrung“ könne zur Spaltung führen.
Als der Papst vor zwei Jahren be-
schloss, eine Synode einzuberufen, die
seiner Umwelt- und Sozialenzyklika
„Laudato si“ einen praktischen Rahmen
gibt, konnte er nicht ahnen, wie aktuell
die Frage sein würde zum Tagungster-
min. Greta Thunberg reiste damals noch
nicht mit Zug und Segelboot durch die hal-
be Welt. Jair Bolsonaro war noch nicht
Präsident Brasiliens. In diesem August
brannte der Regenwald am Amazonas.
In seinen jüngsten Auftritten hörte
man Franziskus eindringlich warnen.
„Die Entwaldung Amazoniens bedeutet,
die Menschheit zu töten“, sagte er. Der
Ton war so kämpferisch, dass sich die bra-
silianische Regierung wehrte. „Die Bi-
schöfe wollen uns den Amazonas wegneh-
men“, wetterte Bolsonaro. Die Kirche gibt
jetzt ganz undiplomatisch zurück. „Uns
gibt es im Amazonas schon seit mehr als
vier Jahrhunderten“, sagte Kardinal Clau-
dio Hummes, Erzbischof von São Paulo.
Zum Treffen sind 185 Teilnehmer gela-
den, dazu gehören 17 Vertreter der drei
Millionen Indigenen aus den neun Län-
dern Amazoniens. Die Sondersynode
steht unter dem Titel „Amazonien – neue
Wege für die Kirche und für eine ganzheit-
liche Ökologie“. Debatten lösen die theolo-
gischen Passagen im Arbeitsdokument
aus, ein Büchlein, 140 Seiten dünn, in
dem alle Ideen gesammelt sind, die in der
Vorbereitung zusammenkamen. Ein Vor-
schlag aus der Basis in Amazonien: Um
dem Priestermangel zu begegnen, soll ge-
prüft werden, ob in entlegenen Gebieten
ältere, gläubige und angesehene Famili-
enväter zur Priesterweihe zugelassen
werden könnten, so genannte Viri proba-
ti. Für Konservative ist das ein Versuch,
das Zölibat zu verwässern und einen Prä-
zedenzfall im Amazonas zu schaffen. Der
frühere deutsche Kurienkardinal Ger-
hard Ludwig Müller sprach von einer
„Kopfgeburt von Sozialromantikern“.
Während der Synode wird auch dar-
über diskutiert, ob die Rolle der Frau „ein
bisschen mehr institutionalisiert“ wer-
den soll, wie es Kardinal Lorenzo Baldisse-
ri beschrieb. Wie genau ein solches Rol-
lenmodell aussehen könnte, sagte Baldis-
seri nicht. Die Erkenntnisse fließen in ein
Schlussdokument. Der Papst kann sie
übernehmen oder eigene Schlüsse zie-
hen. Danach sollte man wissen, ob Fran-
ziskus als Reformer in die Geschichte ein-
geht. oliver meiler
von florian hassel
Schowanka– Sergej Schawabanow und
seine Mutter Wera glaubten, das
Schlimmste hinter sich zu haben. Schließ-
lich wurde ihr kleines Haus schon 2015
von Granatsplittern getroffen, kurz nach
Beginn des Krieges im Osten der Ukraine.
Die Schawabanows blieben trotzdem im
Dorf Schowanka, direkt an der Front zwi-
schen der ukrainischen Armee und den
von Moskau organisierten Separatisten.
„Ich habe nicht geglaubt, dass es uns noch
einmal treffen könnte“, sagt Wera Schawa-
banowa, eine 77 Jahre alte Dame im weiß-
geblümten Sommerkleid und weißem
Kopftuch über den ergrauten Haaren.
Zwei Kriegsjahre später hagelten wie-
der Dutzende Raketen und Granaten auf
Schowanka nieder, Mutter und Sohn flüch-
teten in den Kartoffelkeller im Garten. Als
sie Stunden später wieder nach oben stie-
gen, stand ihr Haus in Flammen. Nur die
Außenmauern blieben stehen. Wera Scha-
wabanowa konnte eine Handtasche mit
ein paar Dokumenten retten. Für einen
Wiederaufbau haben die Schawabanowas
kein Geld. Sergej, ein 49 Jahre alter Eisen-
bahner, verlor seinen Job, als der Bahnhof
wegen der Nähe zur Front geschlossen
wurde. Seit dem Feuer vor zweieinhalb Jah-
ren wohnen Mutter und Sohn in ihrer von
Petunien umwucherten Sommerküche.
Sie leben von Hühnern und Enten, ihrem
Gemüse und einer Rente, die weniger als
hundert Euro ausmacht.
Fast fünfeinhalb Jahre dauert der Krieg
im Donbass mittlerweile, fast so lange wie
der Zweite Weltkrieg. 3,9 Millionen Men-
schen sind betroffen, sagen die UN. Mehr
als 13 000 Menschen ließen ihr Leben,
mehr als 27000 wurden verletzt oder zu In-
validen. Allein in Donezk – der zweiten Re-
gion neben Luhansk – wurden 13 000 Häu-
ser beschädigt oder zerstört. Vom Wieder-
aufbau ist wenig zu sehen.
Sterben und Zerstörung gehen weiter.
An der Front ist keine Ruhe eingekehrt:
nicht, nachdem Kiew und Moskau Anfang
September Kriegsgefangene und Geiseln
ausgetauscht hatten; auch nicht, nachdem
Vertreter der Ukraine und Russlands am
1.Oktober die „Steinmeier-Formel“ für
Wahlen und einen Sonderstatus für die
Ostukraine unterschrieben haben. Bald
soll unter Vermittlung von Bundeskanzle-
rin Angela Merkel und Frankreichs Präsi-
dent Emmanuel Macron über ein Ende des
Krieges geredet werden.
Doch der Friede ist fern. Die Organisati-
on für Sicherheit und Zusammenarbeit
(OSZE) meldet, dass der Stellungskrieg
mit Granaten und Raketen, Minen und
Scharfschützen wieder aufgeflammt sei.
Allein am 2. Oktober zählten die OSZE-Be-
obachter entlang der 427 Kilometer lan-
gen Front rund 400 Explosionen und 1000
weitere Verletzungen der Waffenruhe.
Der Weg zur Front im Dorf Schowanka,
15 km nördlich der Kleinstadt Horliwka,
führt durch die sanfte Hügellandschaft
des Donbass. Abgeerntete Weizenfelder
glänzen schwarz in der Spätsommerson-
ne; Sonnenblumenfelder wachsen schier
endlos in den Horizont, die Ernte steht
noch aus. Allein in der Straße der Schawa-
banowas stehen etliche Hausruinen, aus-
gebombt, verkohlt. Die Front läuft mitten
durchs Dorf. Sergej und Wera Schawaba-
now leben im nördlichen, von Kiew kon-
trollierten Teil. Zwei Straßen weiter und
nur wenige hundert Meter südlich haben
die Kämpfer der von Moskau organisier-
ten „Volksrepublik Donezk“ die Kontrolle.
„Kaum eine Nacht vergeht, in der wir nicht
irgendwo den Lärm von Explosionen hö-
ren“, sagt Wera Schawabanowa.
Ludmilla Pachomowa, eine pensionier-
te Grundschullehrerin, kümmert sich als
ehrenamtliche Dorfvorsteherin um die
126 Menschen, die von den einst 800 Ein-
wohnern geblieben sind. „Die meisten
sind Rentner wie ich, die ihre Häuser nicht
verlassen wollen oder niemanden haben,
zu dem sie ziehen könnten“, erzählt Pacho-
mowa mit einem Schulterzucken. „Häuser
werden nicht wieder aufgebaut, weil die
Kämpfe weitergehen. Hilfsorganisationen
kommen höchstens für ein paar Stunden
hierher. Die Wasserleitungen sind zer-
schossen, was für uns nur deshalb keine
Katastrophe ist, weil die Hälfte der Häuser
eigene Brunnen hat. Vor zwei Jahren wa-
ren wir dreizehn Monate ohne Strom. Und
Gas gibt es schon seit 2014 nicht mehr.“
Die Front in der Ostukraine gehört zu ei-
nem der am stärksten verminten Gebiete
weltweit. Die Minenräumgruppe Halo
Trust zählte im Donbass bis Juli 2054 Men-
schen, die durch Minen starben oder zu
Krüppeln wurden. Auf das Sammeln von
Holz zum Heizen oder Kochen in den na-
hen Wäldern verzichten die Dorfbewohner
deshalb lieber. Viele Felder sind gesperrt.
Hilfe kommt oft von internationalen
Spendern, doch deren Aufmerksamkeit
wird längst durch andere Kriege und Ka-
tastrophen beansprucht. Die UN haben bis-
her nur ein Drittel des Geldes eingesam-
melt, um im Winter wenigstens Nothilfe
leisten zu können. Ludmilla Pachomowa
hat immerhin schon im August vier Ton-
nen Kohle vom Roten Kreuz in Empfang
genommen, bevor Herbstregen, Schnee
und Eis den einzigen Feldweg ins Dorf un-
sicher oder unpassierbar machen.
Die einzige asphaltierte Straße nach
Schowanka verläuft auf russisch kontrol-
liertem Gebiet. „Auch Schule und Kinder-
garten, Bücherei und Kirche liegen in der
Dorfhälfte der Separatisten – ebenso wie
beide Lebensmittelgeschäfte und das Ge-
meindehaus“, seufzt Pachomowa. Und so
dient das leer stehende Haus eines geflohe-
nen Dorfbewohners als „Humanitäres Zen-
trum“. Der Wagen, der einmal pro Woche
frisches Brot ins Dorf bringt, macht hier
ebenso Station wie die drei Ärzte, die zu-
mindest im Sommer jeden zweiten Mitt-
woch im Monat samt Röntgengerät und gy-
näkologischem Stuhl ins Dorf kommen.
Auch wenn es ein Priester nach Schowan-
ka schafft, lädt er ins „Humanitäre Zen-
trum“. Der letzte Gottesdienst ist aller-
dings schon 16 Monate her.
Schowanka Nord und Schowanka Süd
leben seit Jahren getrennte Leben. „Wir al-
le haben drüben Eltern, Kinder oder Enkel
- aber keinen Kontakt“, sagt Pachomowa.
Ihr 32 Jahre alter Sohn Jewgenij und die
beiden Enkelkinder wohnen im südlichen
Dorfteil, nur 900 Meter entfernt, doch ge-
trennt durch die Front und Minenfelder.
„Es ist zwei Jahre her, seitdem ich Jewge-
nij und meine Enkel zuletzt gesehen habe.“
Früher brauchte Ludmilla Pachomowa
für den Weg zu ihrem Sohn ein paar Minu-
ten, heute müsste sie einen Umweg von
17Kilometern nehmen, der sie durch Kon-
trollposten ukrainischer Grenzschützer
und der Separatisten führt. „Selbst ohne
lange Schlangen wäre ich fünf Stunden un-
terwegs“, sagt Pachomowa, „und mit mei-
nen proukrainischen Ansichten habe ich
Angst, nach drüben zu fahren.“
Allein auf ukrainischer Seite müssen
den UN zufolge rund 70000 Menschen an
der Front überleben. Wer von Schowanka
vier Autostunden gen Süden fährt, kommt
35 Kilometer nordöstlich von Mariupol ins
Dorf Tschermalik. Dort ist selbst der Weg
zu den Toten versperrt. Das Dorf liegt am
aufgestauten Kalmius-Fluss, auf der ande-
ren Seite liegen die Stellungen der Separa-
tisten. Seit Kriegsbeginn darf man weder
fischen noch baden, der Zugang zum Fried-
hof ist verboten. Wenn dort ein neues Grab
ausgehoben werden muss, vereinbaren
ukrainische Armee und Separatisten un-
ter Vermittlung der OSZE zwei Tage Feuer-
pause. Nach orthodoxem Brauch muss ein
ausgehobenes Grab vor der Beerdigung
über Nacht ruhen.
Das letzte Mal trug die Leute von Tscher-
malik Mitte Juli einen der Ihren zu Grabe.
Nikolaj Toki, 83 Jahre alt und auch im Som-
mer im grauen Anzug und einer blauen
Baseballkappe unterwegs, erzählt wie er
noch schnell auf einen Sprung zu einem
Nachbarn ging. Sein 49 Jahre alter Sohn
Iwan blieb zurück im Garten bei den Hüh-
nern und Ziegen. Kurz vor Sonnenunter-
gang schlug eine Granate neben dem Apri-
kosenbaum ein. 90 Minuten später war
Iwan tot. „Er war ein kräftiger, hübscher
Kerl“, sagt Nikolaj Toki und blickt müde
auf das Foto seines toten Sohnes, über das
er einen Trauerflor gezogen hat.
Die Familie gehört zu den Alteingesesse-
nen im Dorf. In der Sowjetzeit war Nikolaj
Toki ein halbes Jahrhundert Traktorist auf
der Ilitsch-Farm, Sohn Iwan trat in seine
Fußstapfen. Jeder kannte die beiden. Und
so gaben mehr als 200 Menschen Iwan bei
seiner Beerdigung das letzte Geleit. Zumin-
dest an diesem Tag ruhten die Waffen, an-
ders als im Februar als eine Trauergemein-
de trotz vereinbarter Feuerpause auf dem
Friedhof beschossen wurde. Fast drei Mo-
nate sind nun vergangen, „seitdem habe
ich das Grab meines Sohnes nicht mehr be-
suchen dürfen“, sagt Nikolaj Toki.
Auch Tschermalik ist durch den Krieg
vielfach getroffen. 80 Häuser sind beschä-
digt oder völlig zerstört. Auf dem Hof der
Dorfschule spielen statt wie früher 300
nur noch 97 Kinder. Viele Familien flohen
in andere Teile der Ukraine, nach Russ-
land oder Polen. Die Iljitsch-Farm musste
ebenso schließen wie die Schweinemast
und die Rinderzucht, das Dorf und seine
1500 Einwohner haben so 250 Arbeitsplät-
ze verloren. Doch wer Dorfvorsteherin Jele-
na Tabija nach dem größten Problem
fragt, dem antwortet sie: „der Friedhof.“
Das Gedenken an Verstorbene spielt in
der orthodoxen Kirche eine besonders gro-
ße Rolle. Hinterbliebene besuchen die Grä-
ber häufig, an Gedenk- oder Jahrestagen
stellen sie Essen aufs Grab. Doch Tscher-
maliks Friedhof wird seit fünf Jahren
nicht gepflegt. Die Grabsteine verwittern,
das Gras wächst mannshoch zwischen den
Gräbern. „Jeden Tag bitten mich Einwoh-
ner, den Friedhof wieder freizugeben“,
sagt Dorfvorsteherin Tabija. „Aber es geht
nicht. Wir wissen nicht, wo Minen und Gra-
naten liegen. Und so lange wir keinen Frie-
den haben, wird niemand den Friedhof
von Minen räumen.“
Nikolaj Toki bezahlt Ende September
im Gemeindehaus die Stromrechnung.
Der Friedhof bleibt gesperrt, doch Dorfvor-
steherin Tabija hat auch gute Nachrichten:
Eine Theatertruppe aus Mariupol wird im
Kulturzentrum des Dorfes ein Stück über
eine griechische Hochzeit aufführen. Und
Ende Oktober eröffnet ein kleiner Super-
markt, samt Apotheke und Postschalter.
Tokis 26 Jahre alte Enkelin Larissa, die vor
fünf Jahren nach Mariupol geflüchtet ist,
kehrte nach dem Tod ihres Vaters Iwan mit
ihrem Mann Artjom und dem sieben Mona-
te alten Alexander nach Tschermalik zu-
rück. Sie wollen sich jetzt um den Großva-
ter kümmern.
Anfang September durften die Tokis ihr
zweites Leben feiern. Großvater Nikolaj,
Enkelin Larissa und Urenkel Alexander wa-
ren zu Hause, als Arbeiter im Keller neben
dem Haus mit Hammer und Axt Trümmer
eines alten Granateinschlages kleinschlu-
gen. Im letzten Augenblick sahen die Arbei-
ter im Schutt eine nicht explodierte Rake-
te. „Wenn eine Axt die Rakete getroffen
hätte, wären wir alle in die Luft geflogen“,
klagt Larissa, dann steigt sie auf eine Lei-
ter und pflückt aus dem Laubengang ne-
ben dem Haus ein paar Weintrauben.
Nicht weit entfernt schlagen innerhalb we-
niger Minuten zwei Granaten ein. Von den
Tokis hebt keiner auch nur den Kopf.
München –Ein Kandidat hinter Gittern,
Ermittlungen wegen des Verdachts auf
Geldwäsche. Dubiose Geldflüsse an Lobby-
isten, Verträge, unterschrieben von einem
mysteriösen Mr. X: Der Begriff „Wahlkri-
mi“ bekommt im tunesischen Superwahl-
jahr 2019 eine ganz neue, ganz wörtliche
Bedeutung. Am Sonntag soll im Mutter-
land des sogenannten Arabischen Früh-
lings ein neues Parlament gewählt wer-
den, eine Woche später in einer Stichwahl
ein neuer Präsident. Die Schlagzeilen be-
herrschen in diesen Tagen jedoch inhaltli-
che Fragen, in Tunis wird ein Polit-Thriller
geschrieben, in dem jeder neue Akt noch
ein wenig schräger ist als der zuvor.
Die Parlamentswahlen wirken zunächst
eher nicht stringent auf Spannung ge-
trimmt. Zu verwirrend ist die Vorgeschich-
te, zu zerfasert das Feld der handelnden Fi-
guren: Um die 217 Sitze bewerben sich
über 15 000 Kandidaten, die für 1500 Par-
teien und unabhängige Listen antreten –
in einem Land mit etwas mehr als elf Millio-
nen Einwohnern. In Tunis scherzen man-
che, die hohe Zahl der Bewerber liege darin
begründet, dass selbst ein Job als Abgeord-
neter in der chaotischen Politik Tunesiens
noch krisensicherer sei als jede Position in
der schwächelnden Wirtschaft. In Wahr-
heit dürfte eher die Frustration der Tunesi-
er über die bisher im Parlament vertrete-
nen Parteien eine Rolle spielen – und eini-
ge Aspekte des Wahlrechts.
Die vergangene Amtsperiode des Parla-
ments war gekennzeichnet von häufigen
Fraktionswechseln einzelner Abgeordne-
ter, Zusammenschlüssen und, noch häufi-
ger, Spaltungen existierender Parteien.
Oft waren weniger inhaltliche Positionen
Auslöser für politisches Stühlerücken,
meist ging es eher um Posten und Persönli-
ches. Den einzig stabilen Machtblock stell-
te die moderat-islamische Ennahda, die
wieder hofft, stärkste Kraft im Parlament
zu werden – wirklich profitieren kann sie
von ihrer Geschlossenheit aber auch nicht:
Nach einer Umfrage haben 80 Prozent der
Tunesier kein oder wenig Vertrauen in die
Parteien.
Wie schon bei der Kommunalwahl 2018
werden unabhängigen Kandidaten große
Chancen eingeräumt, die Vertreter der eta-
blierten Kräfte zu schlagen. Eine Prozent-
hürde für den Einzug ins Parlament gibt es
nicht, und weil Unabhängige nur auf einer
Liste und nicht alleine antreten dürfen, ha-
ben manche Listen mit Scheinbewerbern
geschnürt, um die eigene Kandidatur zu er-
möglichen. Das neue Parlament dürfte des-
halb noch unübersichtlicher werden, als
das bisherige, das in vielen Fragen zu kei-
ner Einigung kam – was der nächsten Re-
gierung nicht unbedingt Stabilität verlei-
hen wird. Aus dieser schwierigen Gemen-
gelage machen die Entwicklungen um die
Partei Qalb Tounes schließlich einen Kri-
mi. Die Bewegung „Herz Tunesiens“ exis-
tiert erst seit Juni, dennoch erhofft sich ihr
Gründer, aus dem Stand die meisten Sitze
zu erobern. Nabil Karoui ist Werbemogul
und TV-Unternehmer. Nachdem sein Sohn
Khalil bei einem Autounfall gestorben
war, entdeckte er die Wohlfahrt für sich
und verteilte Nahrungsmittel in Armen-
vierteln, stets begleitet von Kameras sei-
nes Senders Nessma TV. Als Karoui auch
politische Ambitionen entwickelte, be-
gann die Justiz, seit Jahren bekannten
Geldwäsche- und Steuerhinterziehungs-
vorwürfen nachzugehen. Die erste Runde
der Präsidentschaftswahl erlebte der
56-Jährige in Untersuchungshaft und be-
endete sie dennoch auf dem zweiten Platz.
Karoui ist immer noch nicht frei, am
Dienstag verweigerte ihm ein Gericht zum
vierten Mal die Freilassung. Der Wahl-
kampf zur Stichwahl der Präsidentschafts-
wahl startete also am Donnerstag ohne
den Kandidaten, die Kampagne für die Par-
lamentswahl ging am Freitag ohne ihn zu
Ende. Dafür tauchten am Donnerstag neue
Vorwürfe auf – nach denen noch unklarer
ist, wer in Tunis eigentlich gegen wen intri-
giert. Auf einer Internetseite des US-Justiz-
ministeriums, auf der alle in den USA für
Ausländer tätigen Lobbyisten ihre Verträ-
ge offen legen müssen, wurde ein Papier ei-
ner Beratungsfirma hochgeladen. Für eine
Million Dollar verpflichtete sich darin eine
kanadische Agentur, für Karoui Treffen
mit US-Präsident Donald Trump und Russ-
lands Staatschef Wladimir Putin zu organi-
sieren.
Nach tunesischem Wahlgesetz könnte
die Annahme von Hilfe aus dem Ausland il-
legal sein. Dass der Eigner der Beratungs-
firma ein israelischer Ex-Agent ist, kratzt
zudem am Image des Kandidaten. Karouis
Anwälte bestreiten, dass ihr Mandant et-
was mit dem Vertrag zu tun hat, beschuldi-
gen seine Gegner, gegen den „Nelson Man-
dela Nordafrikas“ zu intrigieren.
Wenn dem so wäre, hätte der Mann na-
mens Mohamed Bouderbala, der das Pa-
pier mit der kanadischen Firma unter-
zeichnete, nicht nur ein Faible für holly-
woodreife Wendungen, sondern auch ein
einem Blockbuster angemessenes Budget:
Ein Viertel der vereinbarten Lohns –
250000 Dollar – zahlte er schon bei Ver-
tragsabschluss. moritz baumstieger
haben in Amazonien an den
260 Informations- und Diskus-
sionsveranstaltungen teilge-
nommen, die die Kirche als
Vorbereitung der Synode
abgehalten hat. Das sei aussa-
gekräftiger als eine Umfrage,
sagte Claudio Hummes, Erzbi-
schof von São Paulo.
Am Ende der Sonnenblumen
Über 427 Kilometer erstreckt sich die Front im ukrainischen Donbass, der Krieg ist dort zum Alltag geworden.
Zehntausende Menschen harren unter Granatbeschuss auf Frieden, und der Tod ist immer präsent
Tunesischer Wahlkrimi
15 000 Kandidaten für 217 Sitze: Im Mutterland des „Arabischen Frühlings“ werden ein neues Parlament und ein Präsident bestimmt. Bislang regiert dieUnübersichtlichkeit
Mangel an Kandidaten gibt es nicht. Passanten gehen in Tunis an Wahlplakaten
vorbei. FOTO: FETHI BELAID / AFP
80000
Menschen
Mehr Frauen,
mehr Ökologie
Die Amazonas-Synode
könnte die Kirche spalten
DEFGH Nr. 230, Samstag/Sonntag, 5./6. Oktober 2019 HF3 POLITIK 9
Nikolaj Toki, 83, hält das mit
Trauerflor geschmückte Bild
seines toten Sohnes Iwan in
der Hand.FOTO: HASSE L
Asowsches Meer
RUSSLAND
Luhansk
Schowanka
Frontverlauf
Donezk
Tschermalik
Horliwka
Mariupol
20 km
SZ-Karte/Maps4News
UKRAINEUKR AINEUKRAINE
400 Explosionen an einem Tag:
Der Krieg trotzt der Politik
und legt keine Pause ein