Berliner Zeitung - 05.10.2019

(Marcin) #1
Berliner Zeitung·Nummer 231·5./6. Oktober 2019–Seite 29
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Feuilleton


„WirwarenmittendrininderganzenScheiße.“


Kraftklub-FrontmannFelixKummerüberdieNacht,dieseineHeimatstadtChemnitzbekanntgemachthat.Seiten 30 und 31


D


anielBarenboimbeginnt
die Ouve rtürezuO tto
Nicolais „Die lustigen
WeibervonWindsor“am
Donnerstag in derStaatsoper mit
größterDelikatesse.Streicherzittern
inderHöhe,dieCellisteigenhinauf
undwiederhinab,melodischeKon-
tur als Außenseite eines eigentüm-
lichleeren,abergeradedadurchaus-
gezeichneten Klangs,der sich nach
und nach mitBläsernfüllt, belebt
und Farbe gewinnt.Zauberhaft.Bei
SichtungdesStaatsopern-Jahrespro-
grammsdurftemansichfragen,wie
Daniel Barenboim und der nur be-
dingt genial zu nennendeOtto Ni-
colai zusammenpassen–sie finden
sichüberdieFarbe.


GedämpfteVitalitätimGraben

UnterdenvielenAufnahmenBaren-
boims sindvorallem die frühen
Wagner-Opernbemerkenswert,weil
Barenboim deren Klangwelt nicht
vonder späteren Schwereher ver-
steht, sondernvon Mendelssohn
aus,den Wagner auch imHass zu-
tiefst bewunderthat. Solche Klänge
hörtmanauchhier.Wenndie Ouve r-
türeins Allegrotritt, fragt man sich
allerdings: Muss das nicht etwas
schneller sein, etwas spitzer im
Rhythmus?Auch nach dem Öffnen
desVorhangs–wennwirinzweiRei-
henhaus-Gärten schauen samtWä-
schespinne undKugelgrill undFrau
Fluth undFrau Reich in Bademän-
teln undPuschelpantoffeln feststel-
len,dasssievonJohnFalstaffdensel-
ben Werbebrief erhalten haben –
auch dann wirddie Musik liebevoll,
aberübervorsichtigangefasst.
WenndieersteHälftediesesPre-
mierenabends zu lasten beginnt,
dannnichtzuletztwegendereigen-
tümlich gedämpften Vitalität aus
dem Graben. Immer,wenn es klin-


genmuss,wennBarenboimmitder
Staatskapelle zaubernkann, wenn
die Musik gewissermaßen ihre
„deutschen“Phasenhat–ind erBal-
lade vomJäger Herneoder in der
Mondszene–ist die Interpretation
spannend; benötigt sie italienische
oder Mozart’sche Lebendigkeit,
bleibtsiezahm.
„Die lustigenWeiber“ in derVor-
stadt also,unter Spießern. Frau
Reich muss wirklich ein bisschen
schluchzen, als sie erfährt, dass das
SchmachtenFalstaffsnichtihrallein
gilt, dennoch will sie auchTochter
Anna in eine langweilige Ehe mit
dem FranzosenDr.Cajus drängen,
währendVater Reich den Klapprad
fahrendenPullunderträgerSpärling
bevorzugt und den weichlich
schmachtenden Kandidaten beim
Steak-undWürstchen-Wendenüber
seine Aussichten beruhigt. Anna
selbst aber will mitFenton ausbre-
chenundrenntShakespeareimO ri-
ginal rezitierend herum wie eineFi-
gur aus demGrips-Theater,inH ot-
pants,schwarzenNylons und
schwarzemT-Shirt.
Falstaff selbst betritt die Bühne
als formlos fetterPenner,dem die
Wampe untermbekleckertenShirt
herausschaut, fettigeHaare, fettiger
Bart.Ind iesen Zustand hat er sich
aufderRückseitederBungalowsam
PoolmitibizenkischemKomasaufen
durch Schlauch undTrichter ge-
bracht. DassHerrFluthdieserindis-
kutablen Gestalt gegenüber etwas
wie Eifersucht empfinden soll, das
istwirklichpathologisch.
„Die lustigenWeiber“ sind im
wiedervereinten Berlin –von einer
Hochschulproduktion abgesehen –
noch nicht aufgeführtworden, die
letztenInszenierungenstammenauf
beiden Seiten derMaueraus den
mittleren 80er-Jahren.UndDavid

Bösch, derRegisseur,scheint das
Stückauch in dieserZeit versauern
lassen zu wollen.ZumMangel an
Ambitionpasstdiereichlichäußerli-
cheVeranlassungderStaatsoperzur
Neuprodukt ion,dennhierwurdeNi-
colaisletzteOpervor170Jahrenur-
aufgeführt.Indes hätte derPremie-
rentermin amTagder Deutschen
Einheit doch auch Anlass sein kön-
nen, etwas anderesvorzuführen als
den deutschenSpießer,zumal der
Eindruck schwer abzuschütteln ist,
dassdiesernichtnuraufderBühne,
sondernvorallemimRegieteamUr-
ständfeiert.
Als Kunstwer kist Nicolais Oper
eine schier einmaligeDemonstra-
tion preußischer Weltoffenheit:
Nach der Vorlage eines englischen
Dichters schreibt ein jüdischer,in
Österreich lebender Autor das Li-
bretto für einen deutschenKompo-
nisten,derinItaliendasOpernhand-
werk erlernte und in seinerPartitur
deutsche,italienische und französi-
sche Einflüsse zusammenführt.
WäreNicolainichtkurznachder Ur-
aufführung 1849 gestorben, wäre

seinweiteres WerkvielleichteinGe-
genentwurfzum identitärenMusik-
drama RichardWagners geworden.
Auchwenndasnichtwahrscheinlich
ist –die Uraufführung war keinEr-
folg–,genügtdieVorstellungbereits
fürutopischeFantasiereisen.
Waswirdstattdessen geboten?
„Ich habe denEindruck, dieInsze-
nierungistinmeinerKindheitange-
siedelt,indenspätenSiebziger-und
frühen Achtzigerjahren.WirimR e-
gieteam sind ja alle drei aus einer
ähnlichen Generation und haben
eine emotionaleBindung zu dieser
Zeit“, sagt KostümbildnerFalko He-
rold im Programmheft.In solcher
Bemerkung artikuliertsich der
kleineGeistder Produktion.Erwür-
digt das Komödienpersonal im
Schreck vorder Identifikation zu
Pappkameraden herab,bevor er die
Komödienmechanik überhaupt in
Ganggebrachthat.
Szenisch läuft hier nichtsrund,
wichtig sind stoßweise inszenierte
Einfälle,die kein Gesamtbild erge-
ben. Wenn Bösch amEnde einen
detailliertenRiesenmondsamtKra-

Regisseur David Bösch siedelte die Geschichte unter Pullunderträgernvon vor vierzig Jahren an,Komasaufen inklusive. MONIKA RITTERSHAUS


ternundMeerenaufgehenlässt,ro-
tesLichtsowiegeflügelteElfenauf-
bietet und mit dem bis dahin herr-
schenden szenischen Ambiente
plötzlichvollkommen bricht, wirkt
das nicht fantastisch, sondernhilf-
los: Als wäreder Ansatz mit der
Spießeridylledochnichttragfähig–
dannmachenwirebenschnellwas
ganzanderes.
Dass es den einen oder anderen
Lacher gibt,weil irgendetwas „ent-
larvt“ wird, hat mitKomödie nichts
zu tun, sondernmit Karikatur,die
zudemharmlosbleibt,weilsich Vor-
stadtundReihenhausalsBrutstätten
intimer Katastrophen schon in den
Achtzigerntotliefen.DieInszenie-
rung einerKomödie benötigtDis-
tanzundÜbersicht–davonistinkei-
nemMomentetwaszuspüren.
Dasist schade,weil die Beset-
zung enormes Potenzial für eine
flüssige Inszenierung birgt. Dass
sich René Pape als Falstaff imFat-
suitüberdieBühneschleppenund
hier und daFragmentevonGröne-
meyer-Songs ablassen muss,Anna
ProhaskaalsAnnaundPavolBreslik
als Fenton ein paar halbgareAuf-
standsgesten samtLuftgitarrevoll-
führen,Michael Volle sich in be-
währte „Meistersinger“-Gesten
flüchtet,Mandy Fredrich alsFrau
Fluth eine graueMaus bleibt–all
das enttäuscht,weil in jedemMo-
ment deutlich wird, dass sie mehr
könnten. Beeindruckend, wie
Mandy Fredrich die Arie derFluth
zueinemvokalenGroßereignisvol-
lerFarbenundNuancenmacht,Mi-
chael Volle seineAutorität in den
Ensembles durchsetzt oder René
PapenochdurchdieVermummung
seines Kostüms zur musikalischen
Pointierung fähig ist. Ob AnnaPro-
haskaderrichtigeStimmtypfürihre
Rolleist,kannmanzartbezweifeln,

sie wirkt an einigenStellen etwas
forciert, PavolBreslikinderRolleih-
resGeliebtendafürunterfordert.
So oder so:DieluxuriöseBeset-
zung zeigt, dassBarenboim diese
Oper nicht auf die leichte Schulter
genommenhat.Dasistihmhochan-
zurechnen.DenApplaus desPubli-
kums hat das nicht hochgezogen.
Noch im Februar ,nach den ersten
KlagenundZweifelnanseinemFüh-
rungsstil,wurdeBarenboimvomPu-
blikum demonstrativ unterstützt.
Nun, nachdem sich eine weitere
ehemaligeStaatsoper-Mitarbeiterin
beklagthat,dassBarenboimsiekör-
perlich angegangen sei und derIn-
tendant Matthias Schulz ihreBe-
schwerde nicht ernst genommen
habe,bleibtderBeifalleigentümlich
zurückhaltend–selbst Bösch be-
kommt mehr und unwidersproche-
nenApplaus.

ÄrgernisdesJahres
DieVertragsverlängerungBarenbo-
ims als Generalmusikdirektor der
Staatsoperbis2027wurdeunterdes-
sen bei den „Oper Awards“ Ende
September als„Ärgernis desJahres“
ausgezeichnet. Es scheint wirklich,
als ob BarenboimsMachtp osition
zumindest als faktischer Alleinherr-
scherderStaatsoperallmählichero-
diert; wennder Publikumszuspruch
nachlässt, wirkt das als basisdemo-
kratischerVertrauensentzug.Baren-
boim wirkte ungewohnt freundlich;
wennnichtallestäuscht,hatersein
Publikum schon zurBegrüßung an-
gelächelt.Ungeheuerlich.Wenn das
malnichtderAnfangvomEndeist!

Peter Uehling
bedauertdas verschossene
Potenzial des Ensembles.

TEAM, BESETZUNG, TERMINE

Die lustigenWeiber vonWindsor
Komisch-phantastische Oper in drei Akten
(1849), Musik: Otto Nicolai, Libretto: Salo-
mon Hermann Mosenthal nach Shakespeare

Musikalische Leitung:Daniel Barenboim,
Inszenierung: David Bösch, Bühnenbild:
Patrick Bannwart, Kostüme:FalkoHerold,
Licht: Michael Bauer,Einstudierung Chor:
Martin Wright, Dramaturgie: Detlef Giese

Es singen:RenéPape (Falstaff), Michael
Volle (Fluth),Wilhelm Schwinghammer
(Reich),PavolBreslik (Fenton), Linard Vrie-
link (Spärlich), David Oštrek (Cajus), Mandy
Fredrich (Frau Fluth), Michaela Schuster
(Frau Reich), Anna Prohaska (Anna)

Vorstellungen:4., 9., 11., 13., 19. Okt.,
Karten und Anfangszeiten unterTelefon:
20354555 oder:staatsoper-berlin.de

Längstentlarvt


AmEinheitstagpräsentiertdieStaatsoper„DielustigenWeibervon Windsor“alsödeSpießerkarikatur


VonPeterUehling


ClausLöser
TV- und Kino-Füber die
ilme von
PeterLilienthal
Seite 32
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