Berliner Zeitung - 21.09.2019

(Ron) #1
Berliner Zeitung·Nummer 220·21./22. September 2019–Seite 25*
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Feuilleton


„Ach,dersogenanntefreieMarkt...“


DerKulturwissenschaftlerJosephVoglübereinendergrößtenIrrtümerderWirtschaftsgeschichte.EinInterviewSeiten 26 und 27


E


sistnochnichtlangeher,
dabatBruceSpringsteen
seine Mutter Adele zum
Tanz. DieBand in einem
kleinen Klub in NewJersey spielte
„EightDaysAWeek“vondenBeatles.
Springsteen führte Adele behutsam
durchdenSong,tratvoneinemBein
aufs andereund achtete darauf, die
alte Dame nicht zu überfordern. Es
warihr93.Geburtstag.DieSzeneist
aufeinemHandyvideofestgehalten.
Nunkönntemansagen,dassdie-
serprivateMomentnichtfürdieÖf-
fentlichkeitbestimmtist, anderer-
seitshatteerseineMutterbeiande-
rerGelegenheitauf die Bühne des
NewYorkerMadisonSquareGarden
geholt,ummitihrvor20000Leuten
„ass shaking“ abzurocken. Diese
Gabe,sich die Intimität des Augen-
blickszubewahren,istbezeichnend
für SpringsteensLeben als Musiker,
Rockstar und Human Being, wie es
im Englischenso schön heißt, als
menschlichesWesen.
Vorwelchem Publikum er auch
auftritt,obesachtzigLeutesindoder
achtzigtausend, immer bekommt
man es bei ihm mit dem Menschen
hinterdemMythoszutun.Klingtzu
pathetisch?Hallo? Es geht hier um
BruceSpringsteen!DerhatdiePop-
pathetikerfunden.Dadarfmanihm
zu seinem Siebzigstenam Montag
schonmaletwaszurückgeben.


DurchdieFliegengittertür

Wasalso wäredie Welt ohne Bruce
Springsteen?Undohne Hazy Davy,
Spanish Johnny,Diamond Jackie,
Wild Billy,Jimmy the Saint, Magic
Rat, Crazey Janey,Rosalita, Sandy,
Kate,Doreen,Wanda,Sherry,Wendy,
Kitty,LeahundwiedieSchöpfungen
seinerFantasiealleheißen?Nichtzu
vergessenMarynatürlich,diedurch
seinefrühenTräumegeistert,seitsie
in „ThunderRoad“ mitwehendem
Kleid durch die Fliegengittertür
rauschte,umm it ihm abzuhauen.
Unddas,obwohlerihrgeradenoch
nachsagte,keine Schönheit zu sein,
aber,„hey,dub istganznett“.
Istjad annauchnichtsausihnen
geworden.In„TheRiver“treffenwir
diebeidenAusreißerwieder.„Alldie
Sachen,diesowichtigzuseinschie-
nen. Na ja, Mister,haben sich ir-
gendwie inLuft aufgelöst.Ichtus o,
als ob ich mich an nichts erinnern
könnte.Und Mary tut so ,als ob ihr
allesegalwäre.“Danngehensierun-
ter zumFluss,aber der Fluss ist
längstausgetrocknet.EsisteinJam-
mer,aber so laufen dieDinge nun
mal. Ohne Geschichten wie diese
wäredieWelteintrostloserOrt.
Dassagt sich so,aber es geht bei
Springsteen tatsächlich um Trost,
Barmherzigkeit,Mitgefühl.Undes
geht umTrotz. Rock ’n ’Roll reimt
sichbeiihmaufTrotzund Trost.
Beim feierlichen Nachdenken
überBruceSpringsteenkommtman
kaum umhin, seine künstlerische
Persönlichkeit wie eineGeburtstags-
torteaufzuteilen.DerSongschreiber,
Sänger,Musiker,Bandleader,Perfor-
mer–dazuinjüngererZeitnochder
Buchautor und Bühnenkünstler.Für
sein Einpersonenstück „Springsteen
on Broadway“ hat er immerhin den
Tony-Awar dgewonnen.DasWunder
seiner Karrier e, die weder richtig
schlechtenPlatten nochPeinlichkei-
tenandererArtkennt(abgesehenvon
den Muskelshirts derAchtziger), ist
nun allerdings dieHomogenität des
Phänomens„Bruce“.Eristimmerdie
Summe seiner selbst, ob alsSolist
oder mit derBand, ob er den Clown
gibt oder denPrediger,erist beharr-
lich leidenschaftlich und herzlich,
einnehmendundverausgabendund


gibteinemimPublikumnochaufdie
größteDistanzeinGefühlvonNähe.
DasmachtihnalsMassenkünstlerim
Musikgeschäfteinzigartig.
Bruce Springsteen ist alt,weiß
und heterosexuell, nach allem, was
man weiß. Er spielt sehr breitbeinig
Gitarreund schwitzt auf der Bühne
wieeinPferd.Damitwidersprichter
allem und jedem, was heutePop
ausmacht.Aber er ist populär.Laut
Statistik haben seitBeginn unserer
Zeitrechnung 34387903Menschen
seine Konzerte besucht.Er ist auf

eine Weise wirklich, wie es das bei
KünstlerndieserhistorischenGröße
nichtgibt.BobDylan?Unberührbar.
NeilYoung?Verschroben.DieRolling
Stones? Zirkus.Bruce Springsteen
zählt„One,two,three ,four“,schiebt
den Unterkiefervorund drischt auf
seineTelecasterein.Zwischendurch
wuschelt erKindernüber den Kopf,
die vonihren Elternauf die Bühne
gehobenwerden.Familiekannman
sich aussuchen,Bruce Springsteen
nicht. Hatere inen amHaken, wird
manihnnichtwiederlos.Schongar

nicht beimAutofahren. „Wann im-
mericheinenHighwayentlangrase,
kann ich nicht nicht an Bruce
Springsteen denken“, sagt Lady
Gaga.ErhatdiegrößtenSongsüber
die Straße geschrieben, dabei hatte
derMann,bisereinundzwanzigwar,
nicht mal einen Führerschein.Von
einemAutogarnichtzureden.
Er hat auch nie in seinem Leben
gearbeitet, jedenfalls nicht so,wie
sein Vater Douglas es verstanden
hätte,der sein Geld als Wachmann,
Lastwagenfahrer undFabrikarbeiter

Für immer in Blue Jeans: Bruce Springsteen in seiner Lieblingsgarderobe. SONY MUSIC

verdiente.Aber derSohn kann gut
beobachten und sich einfühlen, er
kanndenFrustunddieWut,diesei-
nen Vater für ihn oft unerreichbar
macht, zu Erzählungen über die
MühsaldesAlltäglichenverdichten.
Wenn seine italienischstämmige
Mutter Adele ihm die heitereSeite
mitgegeben hat, dasHerumalbern,
den Sex-Appeal, die Lebenslust, so
hat er vonden irischenVorfahren
seinesVatersDougdieDüsternisdes
Gemütsgeerbt.StrammeKatholiken
sindsiebeide,undsostehtdieSuche

nachErlösungbeiihmganzobenauf
demPlan,malinSchönschrift,mal
gekritzelt. In seiner Autobiografie
„BorntoRun“hatBruceSpringsteen
ausführlichvonseiner Depression
gesprochen,dieihnfrüheröfterüber
denRandder Verzweiflunghinüber-
zuziehen drohte und der er heute
mit Therapien,Medikamenten und
Konzerttourneenbegegnet.
Springsteen war schon in jungen
Jahren einIllusionist, ein Künstler,
dersichselbstausdemZylindersei-
nerÄngstezaubert.Unddasisterin
gewisserWeisegeblieben,wennerin
denSchmerzenseinerSeeleundden
VerwerfungenseinerHeimatein Ver-
sprechenfürdieZukunftsucht.
„Sein Themenkreis rückt ihn
durchausindieNäheeinesamerika-
nischenHomers wieJohnny Cash“,
erklär tHeinz-RudolfKunzeima ktu-
ellenRollingStone.Kunzehatfürdas
soeben imReclam-Verlag erschie-
neneBuch„LikeaKillerintheSun“
vonLeonardoColombati hundert
Textedes Songwriters übersetzt.Er
istim Springsteen’schenFlow,wenn
er die Topoi vondessen Werk auf-
zählt:„SöhneundVäter,Einsamkeit,
die nahezu kosmischeWeite des
Landes,dieHärteundUngerechtig-
keitdesLebensderschwerarbeiten-
den, einfachen Menschen, Autos,
Motorräder,StraßenausdemNichts
ins Nichts unddas unlösbare(aber
beimVersuch,eszulösen,immerer-
lösende)GeheimnisderLiebe–und
dasallesmitdemdräuendenUnter-
ton vonSchuld, Sühne und der un-
bestimmtreligiösenSehnsuchtnach
Vergebung, die aus jedem typisch
amerikanischen Songschreiber ein
Stückweiteinen Gospelsänger
macht.“Besser ka nn man es nicht
sagen–kürzerauchnicht.

JederSongein Film
Springsteen schreibtSongs,wie an-
dereFilme drehen.Jeder Vers eine
Szene ,jede Zeile eineKameraein-
stellung.Erwechseltdie Perspektive,
dieBlickwinkel, die Objektive. Mal
zoomters ichganzdichtheran,mal
zieht er dasBild bis zumHorizont
auf. Er schreibt Songs,wie andere
Romaneverfassen.ErfindetCharak-
tereundbegleitetsiedurcheineZeit
ihresLebens.Erh ältseine Handüber
sieund weißdoch,dassersiegehen
lassenmuss,seiesinihrUnglück.Er
schreibtaberauchSongswieandere
Songs schreiben, WoodyGuthrie
etwa oder ChuckBerryoderJames
Brown,dieeralleangezapfthat.
Aufder langenReise durch das
Land seinerTräume und Alpträume
gibteseinpaarHaltepunkte,diefür
sein Werk vo nzentralerBedeutung
sind,„Bor nintheU.S.A.“zähltdazu,
seinKlageliedfürdieVietnamvetera-
nen, oder„Nebraska“, jenes Album,
mit demSpringsteen dem dunklen
AmerikaeineStimmegibt,undauch
das unterschätzte „Tunnel of Love“
in seinerHinwendung zuPrivatis-
men.SeinSpätwer kbeginntimJahr
2002mit„TheRising“,indemerdie
Leerenach den Anschlägen vom
11.Septembe rheraufbeschwört.
Gegen Trumpsingt er keine Lieder.
Springsteen erwähnt ihn nicht mal.
Schondaswärezuv iel.
Durchsein gesamtes Schaffen
ziehtsichdieromantischeIdee,dass
Musiknicht nurseineigenes Leben
rettenkönnte,sondernauchdassei-
nesPublikums.Wassollmansagen?
AnmanchenTagenhaterrecht.

Frank Jung hänel
fühlt sich in Springsteens
Songs gut aufgehoben.

DerguteAmerikaner


Zum70.GeburtstagvonBruceSpringsteen


VonFrankJunghänel


Das fliegendeAuge:
Eine Reihe mit
von Frank BorzagFilmen
e
Seite 28
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