1010 21./22. SEPTEMBER 201921./22. SEPTEMBER 2019
Gutsch
Leo
Komm mit ins
Mauer-Disneyland
A
mTag des großenJubiläums bin ich im
Urlaub.Thailand.EsistkeineFlucht,nur
einZufall,aberichbindochfroh,weitwegzu
seinam30.JahrestagdesMauerfalls.
Ichhabe mit dem 9.November und den
Mauerfall-Feierlichkeiten schon immer ge-
fremdelt.ZumerstenJubiläum,1990,konnte
ich die FernsehbildervomMauerfall kaum
ertragen. ÜberallOstler in verschossenen
Anoraks ,die wie vonSinnen in denWesten
rannten.
Damals wünschte ich mir,man könnte
den Mauerfall irgendwie wiederholen.Und
diesmal schlendernwir weltmännisch und
würdevollüberdieGrenze.ImmernochOst-
ler.Aber eben lässigeSuper-Ostler.Spätes-
tensab Mitteder90er-Jahrewurdeim Herbst
dannimmerGeschichteaufgearbeitet.Stasi,
Doping,Ausländerfeindlichkeit,Unrechts-
staat-Debatte.
Manchmal wurde den frustriertenHalb-
wildenausderZoneauchüberdentraurigen
Kopfgestreichelt.WegenderganzenArbeits-
losigkeit.Oder es wurde politisch gemahnt
und geschimpft.Weil der Ostler mal wieder
ostalgischwaroderunzufriedenoderdieDe-
mokratienichtverstehenwollteoderdiefal-
schenParteienwählte.
Zum25.Jubiläum,imHerbst2014,stand
ichdannzufälligindenPotsdamer-Platz-Ar-
kaden, einemBerliner Einkaufszentrum, in
dem das gesamteErdgeschoss zu einer Art
Mauerstreifenumgebautwar.Originalgetreu
mitStacheldraht,Gewehren, Warnschildern,
Armeefahrzeugen undSoldatenpuppen der
NationalenVolksarmee.Ichliefhindurch,als
wäreichineineFilmkulissegeraten.Oderzu
Besuchim Mauer-Disneyland.
DasAnstrengendsteandiesenJubiläenist
aber,dassmeinTelefonklingelt,undichmal
wieder denOsten erklären soll.So als wäre
Ostdeutschland noch immer irgendein fer-
nes,fremdes Land, irgendwo in Zentral-
afrika. DieUnkenntnis über denOsten und
dieOstdeutschenistseit30Jahrennichtklei-
nergeworden.Leider.
Vorkurzemfragte mich einKollege,der
beieinergroßenüberregionalenZeitungar-
beitet, wo eigentlichDresden liegt.Im Nor-
den oder im Süden?Ichdachte,esi st ein
Witz.AbereswarnuraufrichtigesDesinter-
esse,eine Ost-Gefühlslage,die ich imWes-
ten,vorallemunterJournalisten,sehroftan-
getroffenhabe.
Dieanderewar Unverständnis–die na-
türlicheFolgedes Desinteresses.Icharbeite
seitfast15Jahrenals ReporterbeimSpiegel,
undich weißnicht,wieoftichindieserZeit,
wenn im Osten mal wieder irgendwas
schieflief, denSatz gehörthabe: „Jochen,
was ist denn da los bei euch imOsten?“
Dann schauten mich alle an.Wieeinen
Afrika-Experten.
Matthias Platzeck, derVorsitzende der
Regierungskommissionzu30JahreMauer-
fall,sagtekürzlich,dassmander„deutsch-
deutschenEntfremdung“ entgegenwirken
müsse.DasistsichereinschönerAnsatz.Er
kommtnuretwasspät.
VonJochen-Martin Gutsch
Mirwürde es ja schon helfen,wenn der
Mauerfall nicht mit jedemJubiläum noch
mehr mitHeldenpathos aufgeladen und
einbalsamiertwerden würde.Und damit
immermärchenhafterwird.
Zum25.JubiläumwarichauchzuFeier-
lichkeiten in Leipzig.Im Gewandhaus spra-
chen damals derBundespräsident und an-
derePersönlichkeiten.Undalle sprachen
überFreiheit.EswardergroßeJubiläumshit.
Freiheitswille,Freiheitswunsch, Freiheits-
kampf, Freiheitsbewegung.Wohin sind die
Ostdeutschengerannt?IndieFreiheit!
In diesemAugenblickwünschteichmir,
dasseinaufrechterFestredneransMikrofon
trittundineinerwahrhaftigenGedenkrede
sagt: Sicher,wir Ostdeutschen dachten da-
malsandieFreiheit.Aberwirdachtenauch
vielans Einkaufen.AnMarlboro,Jeans,Cor-
nettoNussunddenGolfGTI.Hättemanim
Westennichtsoschöneinkaufenkönnen–
vielleichtwürdedieMauerheutenochste-
hen.
Der Ruhm
Weil dieses Jahr auch der 50. Jahrestag der ersten
Mondlandung begangen wird, drängen sichParallelen
auf. Vorallem diese: dass derWettlauf zweier Großmächte
um dieVorherrschaft in derWelt die Horizonte erweiterthat.
Erst derWunsch des spanischen Königs, den Rückstand zum
portugiesischen Konkurrenten aufzuholen, hat Magellans Expe-
dition überhaupt ermöglicht. Damalsgalt die Reise freilich als
Fehlschlag,sie eröffnetekeine neue Handelsroute, Magellan
starb bei einemwenig heldenhaften Angriff auf eine –
heute–philippinische Insel. Dennochgebührtihm
der Ruhm, diese kaum glaublicheFahrtins Un-
gewisse begonnen zum haben. Er war
der Neil Armstrong seiner Zeit.
Dasganze Rund derWelt
Vor500JahrenstichtderPortugieseFerdinandMagellaninSee.Erwirdnienach
HausezurückkehrenunddennochalsersterWeltumseglerindieGeschichte
eingehen–unddenBeweiserbringen,dassdieErdeeineKugelist
VonMartin Dahms
DerAufbruch
NiemandhattesicheineErdumrundungvorge-
nommen.MagellanwollteaufdemWestwegzuden
Molukken,imSüdostenderbekanntenWelt.Abersein
KönigManuelI.winkteab:WozuinsUngewissesegeln?Zu
denMolukkenkonnteerjaseineSchiffeaufdemkürzlichge-
fundenenOstwegschicken.AlsogingMagellanmitseinemPlan
nachSpanien–undfandGehör.NachderEntdeckungAmeri-
kasdurchKolumbus 1492 hattePapstAlexanderVI.dieWelt
kurzerhandaufgeteilt:denOstenfürPortugal,denWestenfür
Spanien.Wenn die Molukken auf demWestweg zu errei-
chen wären, kalkulierte der spanische König KarlV.,
danngehörten sie ihm.Also schickte er denPor-
tugiesen Magellan los. Den Globus um-
segeln sollte er nicht.
Die Heimkehr
DieReise Magellansist eine Heldengeschichte,ge-
schrieben aus Blut und Dreck. Kaum einer überlebte sie.
Vonden 247Männern,die am 20.September 1519 unter
Führung des damals39-jährigen portugiesischenKapitäns in
fünf kleinen SchiffenvonSanlúcardeBarrameda im Südwesten
Spaniens aufbrachen, kamen drei Jahre später an Bordder
„Victoria“ganze18wieder im selben Hafenan–darunterauch
ein ausAachenstammenderdeutscherKanonier.Ihr spani-
scher Kapitän,Juan Sebastián Elcano, schrieb seinem
König und Kaiser KarlV.:„Wirhaben dasganzeRund
derWelt entdecktund umrundet, indemwir gen
Westengefahren sind und aus dem Osten
zurückkehrten.“
Der Pazifik
„Ichglaube wahrhaft, dass eine solche Reise niemals
wieder unternommen wird“, schriebAntonio Pigafetta.Fast
vierMonatewar die kleine Flotte über diesesgewaltige, unbe-
kannte Meer gesegelt, ohneLand zu sehen. DieBesatzung litt
Hungerund Durst. „Wir aßenZwieback, derkein Zwiebackmehr
war, sondernZwiebackstaub,vollerWürmer,die sich darüberher-
gemachthatten, und der stark nach Rattenurin roch.Wir tranken
gelbes, seit vielenTagenfauligesWasser.“Selbst hiervon konn-
ten viele nichts zu sichnehmen,weil ihnender Skorbut den
Mundverschwollen hatte. Sieverreckten, sprangen im
Wahn vonBord. Ein kleiner Restder Expedition
aber warnach über 100Tagen auf Seeauf
der anderenSeite derWelt.
Der Durchbruch
Der SpanierNúñez de Balboa hatte 1513 als erster
Europäerden Ozean imWestenAmerikaserblick tund
„Südsee“genannt–aber wie dortmit dem Schiff hinzugelan-
genwäre,war noch ein Geheimnis. Und wieweit wärewohl der
Wegüber die Südsee bis nachAsien?AlsMagellan nachlangem
Suchenden Durchbruch fand–Magellanstraße heißt diePas-
sageheute zu seinen Ehren–stieß er hinaus in einen immensen
Ozean, den er den friedlichen, den pazifischen, nannte,weil
kein Sturmihm das Fortkommenerschwerte–aber auch
keinWind es ihm erleichterte.Der italienischeChronist
an Bord,AntonioPigafetta, fand kaumWorte für
das Grauen, das diese Reise ins Ungewisse
für die Seeleute bedeutete.
Die
Weltumsegelung
íonFerdinand
$agellan und
Juan SebastiEn
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IMAGOIMAGES/LEEMAGE
6.3.1521
Landung auf
den Marianen
28.11.1520
Durchquerung der
Südwest-Passage
6.9.1522
Ankunft in
Sanlúcar
20.9.1519
Aufbruchin
Sanlúcar
27.4.1521
TodMagellans auf
Mactan
(Philippinen)