Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

damals war ich wirklich nicht ganz bei mir!«
Als Ilaria zwanzig und mit Piero am Meer war, beschloss Marella, alles
wegzuwerfen, was sie an ihren Ehemann erinnerte. Und das bedeutete nicht
nur sämtliche Geschenke, die Attilio Profeti ihr in über dreißig Jahren
gemacht hatte, und jedes Foto, das ihr Familienleben abbildete, sondern auch
den blauen Schrankkoffer, in dem das frühere Spielzeug und die Bücher ihrer
drei Kinder lagen. In einem verheerenden Wutanfall hatte sie zwei Tage
nichts anderes getan, als schwarze Müllsäcke zu füllen. Als Ilaria vom Meer
zurückkam, stellte sie fest, dass ihre Kindheit auf der Müllhalde gelandet war.
An jenem Abend schlief sie bei Lavinia und sollte niemals mehr zum
Wohnen zu ihrer Mutter zurückkehren.
»Sie lag auf dem Speicher, versteckt«, sagt Marella. »Ich habe sie vor
Jahren gefunden, als ich den Dachboden neu gemacht habe, aber ich habe nie
wirklich hineingeschaut. Jetzt hast du mich wieder an sie erinnert.«
Als Ilaria vom Haus ihrer Mutter wegfährt, fühlt sie, wie eine unerwartet
gute Laune sie durchströmt. Sie denkt an ihr Gespräch. An Marellas
Versicherung, es gebe nichts in der Erinnerung, wovor sie sich fürchten
müsse. An Marella, die bei der Erwähnung der Großen Zerstörung nicht wie
sonst sofort in die Defensive geht (»Ich wusste doch nicht, dass du so an dem
alten Kram hängst«) oder zum Gegenangriff ausholt (»Du hast mich ja auch
allein gelassen«). In ihren letzten Gesprächen schwang eine neue
Gelassenheit und Klarheit mit, ein gegenseitiges Wohlwollen. Das Alter einer
komplizierten Mutter kann eine süße, wenn auch faserige Frucht sein.


Nach ein paar Kreuzungen stößt Ilaria auf eine Straßensperre, die auf dem
Hinweg noch nicht da war. Ein Carabiniere bedeutet ihr, zu bremsen und
anzuhalten. Von den zwei Fahrbahnen kann abwechselnd nur eine genutzt
werden. Sie kurbelt das Seitenfenster hinunter.
»Was ist los?«, fragt sie und kann sich die Antwort schon denken: Es ist
nicht weit bis zur Libyschen Akademie, einem vergitterten Tor, vor dem
immer ein paar bewaffnete Polizisten stehen, und heute mehr denn je.
»Kommt Gaddafi?«
»Wenn es nur er wäre«, meint der Carabiniere. Er ist nicht mehr jung, hat
den Hängebauch und Lider des desillusionierten Römers und eines Lebens in
Uniform. »Die da kommen auch.«
Er zeigt auf einen großen Autobus, der gerade geparkt hat und aus dem

Free download pdf