Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

von Neghelli, schließlich Verbündeter des grausamen Invasors. Doch es war
nicht enttäuschend, ihn so nervös, krank, würdelos zu sehen. Attilio
beobachtete den Prozess ja nicht, um seine Jugendträume platzen zu sehen,
und auch nicht, um über zwanzig Jahre falscher Mythen nachzudenken. Zehn
Jahre waren vergangen, seit er nach Italien zurückgekehrt war, Abebas Land
war fast so fern wie die Erinnerung an sie. Der Grund, warum er jeden
Morgen zum Gerichtshof im Viale delle Milizie fuhr, waren die Furcht und
gleichzeitig die Hoffnung, noch einmal all die Namen zu hören: Abessinien.
Addis Abeba. Godscham.
Die aber niemals fielen. Marschall Rodolfo Graziani wurde zu achtzehn
Jahren Haft wegen »militärischer Kollaboration mit dem deutschen Invasor«
verurteilt, aber vier Monate nach dem Schuldspruch wieder freigelassen. Wie
Embailé Teclehaimanot es vorhergesagt hatte, wies England den
Auslieferungsantrag des Negus ab. Für seine Taten in Abessinien und auch in
Libyen musste er sich niemals vor einem Militärgericht rechtfertigen.
Das bedeutete, dass auch Attilio Profeti oder jeder andere niemals
aufgefordert wurde, zu erklären, was er in den Kolonien getan hatte. Niemand
erkundigte sich, ob er einen Mischlingssohn dort gelassen hatte. Keiner
forderte Rechenschaft von ihm für einen blockierten Flammenwerfer. Mit
dem Ende von Grazianis Prozess verspürte er eine frostige Erleichterung:
Seine Jugendjahre waren von den Geschichtsbüchern ausgelöscht worden.


Attilio erzählte Marella nie, dass er den Prozess am Militärgericht verfolgte.
Es gab so viele Sachen, die er ihr verschwieg. Nach ihrem ersten Mal hatte
sie sich an ihn gekuschelt und war mit der Fingerkuppe über die Narbe an
seinem Arm gefahren.
»Was hast du denn da gemacht?«
»Da haben die Faschisten auf mich geschossen«, hatte er ihr geantwortet.
»In einem Wald im Apennin.«
Marella hatte sich bewundernd auf einen Ellbogen gestützt und ihm ihre
Brüste entgegengereckt wie ein Geschenk. »Du warst Partisan!«
Da es keine Frage war, fühlte Attilio sich nicht verpflichtet, mit ja oder
nein zu antworten. »Der Krieg ist vorbei«, hatte er stattdessen gesagt und die
Unterlippe vorgeschoben, als seien die alten Geschichten es nicht wert,
aufgewärmt zu werden. Dann hatte er sie wieder an sich gezogen, ihre großen
Brüste plattgedrückt zwischen ihnen beiden.

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