Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

hat, dessen Sprache er nicht spricht und in dem er niemanden kennt. Denn in
Italien reicht es nicht, seine ganze Familie im Land zu haben, dreizehn Jahre
hier zur Schule gegangen zu sein und vor allem wie all seine Freunde Fan des
AS Rom zu sein, um als Staatsbürger zu gelten. Was zählt, ist allein die
Flüssigkeit, die in deinen Adern fließt, wie es das Ius sanguinis genannte
Gesetz besagt.
Der junge Äthiopier hat das eine Wort verstanden, das andere nicht. »Was
heißt ius?«
»Ich glaube ›richtig, gerecht‹, aber ganz sicher bin ich nicht. Ich war auf
der Handelsschule, da gab’s kein Latein.«
Der Junge schweigt. Eben das Gesetz des richtigen Blutes ist es, auf das
er seine Hoffnung setzt.


Als er endlich zum ersten Mal telefonieren kann, sind seit seinem
Verschwinden drei Tage vergangen.
Um zum CIE zu kommen, müssen Ilaria und Attilio den jüngsten
Kriegsschauplatz der römischen Bauspekulation durchqueren, die
Landflächen im Westen der Stadt, wo zwischen Resten von Weiden und den
unausbleiblichen Schafherden riesige Baustellen asiatischen Ausmaßes
aufragen. Dies ist die neueste Front im Kampf gegen die Regulierungspläne,
die seit dem letzten Jahrhundert von Baulöwen wie Casati immer wieder
eröffnet werden, und auch diese Schlacht werden sie wie die meisten zuvor
gewinnen.
Von außen betrachtet sieht das CIE Ponte Galeria wie eine Lagerhalle
aus. Was es ja auch ist, wenn auch nicht für Waren, sondern für Schicksale.
Vom nahegelegenen Flughafen Fiumicino donnern die startenden Flieger
über die Betonmauern und die Zäune aus Metallstreben, die die einzelnen
Sektoren voneinander trennen. Sie überfliegen die Gäste wie stählerne Engel,
die das gestrenge Wort der Abschiebung verkündigen.
Ilaria und Attilio hatten wenig Hoffnung, die Hofkäfige des CIE betreten
zu dürfen, sie wissen, dass das unmöglich ist. Sie wollen nur feststellen, ob
der Junge wirklich dort drinnen ist. Die Schlange vor dem Eingang ist lang,
ein Heer aus Männern und vor allem Frauen, die darauf warten, für wenige
Minuten ihre Angehörigen zu sehen. Viele von ihnen haben eine tagelange
Reise zurückgelegt. Sie wissen noch nicht, dass der Inhalt ihrer riesigen
Plastiktüten, die sie auf den sengenden Asphalt des Bürgersteigs gestellt

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