Lugo aushingen, boten eher grobe Zeithinweise, und die meisten Reisenden
wussten das. Natürlich wusste es auch Ernani, doch ein einfacher
Bahnhofsvorsteher konnte da nicht viel machen. Die Ursachen waren
grundlegende Mängel im italienischen Schienennetz. Zu viele Verbindungen
hatten nur ein Gleis, der Maschinenpark war – bis auf wenige, stolz
präsentierte Ausnahmen – zu alt, marode die Infrastruktur. Doch in der
Zeitung, die Ernani beim zweiten Morgenkaffee im Aufenthaltsraum des
Bahnhofs durchblätterte, war oft die Rede von der exzellenten Pünktlichkeit
der italienischen Züge, als Frucht der neuen Ordnung, die der Faschismus
gesät habe. In dieser triumphierenden Propaganda steckte wenig Wahrheit,
und Ernani las sie und hatte im Bauch das Gefühl zu fallen, während in
schneller Folge die Gesichter des mazzinischen Großvaters, des anarchischen
Vaters Toleriertnicht und das von Rizzatello Beniamino an ihm vorbeizogen,
der von den Schwarzhemden weggezerrt wird. Von diesem schwarzen Gefühl
erzählte er niemandem, Viola schon gar nicht.
Sein Schweigen wurde nicht schlecht entlohnt. Mussolini hatte begriffen,
wenn die Eisenbahner den Bauch voll hatten, würden sie sich nicht noch
einmal wie 1919 hinter die Arbeiter stellen. Viola hob weiterhin mit der
Schaumkelle das erkaltete Fett von der Brühe und bewahrte es in einer Kanne
auf, um später das Gemüse darin zu dünsten. Doch war Ernanis Gehalt so
üppig, dass seine Söhne nach der Pflichtschule nicht arbeiten gehen mussten,
sondern sich als erste Generation der Familie Profeti an der Universität
einschrieben.
Otello wählte Ingenieurswesen. Auf dem Gymnasium war ihm
Mathematik leichtgefallen, und er hatte auch schon die Zeitschrift für
Eisenbahnwesen abonniert. Attilio entschied sich für Geschichte und
Philosophie; er war ein treuer Leser des Quadrivio. Die treffenden
Zusammenfassungen in den Artikeln des Herausgebers Telesio Interlandi
ordneten seine Weltsicht, gaben ihm das angenehme Gefühl zu verstehen,
was sich jenseits der Fakten verbarg. »Hinter der gierigen Raffhand der
internationalen Finanzwelt versteckt sich der semitische Kapitalismus«,
lautete dort eine Erklärung. »Dreihundert Männer, die sich untereinander
kennen, halten das wirtschaftliche Geschick der Welt in ihren Händen.
Manche dieser dreihundert Männer haben festgestellt, dass sie weniger
verdienen, weil Europa zerstückelt ist, und sie versuchen, die Grenzen
abzuschaffen, um bessere Geschäfte zu machen. Doch während die
jeff_l
(Jeff_L)
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