Freitag, 20. September 2019 MEINUNG &DEBATTE
Starker Franken, Rezessionsängste undGeldpolitik
Jetzt wäre die Politik gefordert – und nichtdie SNB
Es ist eine verrückteWelt: Die US-Notenbank ver-
sucht,Präsident DonaldTrump zu beruhigen,indem
sie ihren Leitzins trotz erfreulicherWirtschaftslage
«als Versicherung» aufVorrat senkt. Und EZB-
Chef Mario Draghi kündet zum Abschied tiefere
Zinsen und ein ganzes Massnahmenpaket an, an-
geb lich um die Inflation auf knapp 2 Prozent zu
katapultieren. InWirklichkeit setzt es vor allemAn-
reize, damit sich Staaten undBanken weiter ver-
schuldenkönnen und Anleger noch risikoreicher
investieren. Die nächste Krise ist so vorgespurt.
VordiesemHintergrundisteserfreulich,dassdie
Sch weizerische Nationalbank (SNB) Unabhängig-
keit von der EZB bewiesen hat und sich nicht zu
einer weiteren Zinssenkung hinreissen liess. Mehr
noch, sie ist den unter den Negativzinsen ächzen-
den SchweizerBanken entgegengekommen,indem
siekünftigderenFreibeträgeetwasgrosszügigerbe-
rechnen wird.Das sollte es erlauben, Sparer und
kleinereFirmen,dieihrenLiquiditätsbedarfaufdas
Notwendigstebeschränken,nichtgrossmitNegativ-
zinsen zu belasten.Allerdings gehört der Leitzins in
der Schweiz mit –0,75 Prozent weltweit zu den am
stärksten negativen. Die Nationalbankkönnte ihn
vielleicht noch um 25 bis 50Basispunkte senken,
doch würden dabei auch die schädlichen Neben-
effekte grösser. Dazu gehört neben den Preisblasen
an den Immobilien- undWertpapiermärkten auch,
dassbalddieGrenzeerreichtseindürfte,anderAn-
leger lieber inBargeld oder bargeldähnliche Instru-
mente flüchten, als ihr Geld auf derBank zu halten.
Auch denDevisenmarktinterventionen sind
Grenzen gesetzt. Einerseits, weil es politisch hei-
kel ist, wenn die SNB zu einem immer grösseren
Investor in ausländische Staatsanleihen undAktien
wird. Und andererseits,weil es trotz allen Beson-
derheiten imAusland schwer zu vermitteln ist,
wieso die SNB mit Milliardenbeträgen denFranken
schwächt,solange dieWirtschaft einigermassen gut
läuft, die Arbeitslosigkeit tief ist und derAussen-
wirtschaftssektor hohe Leistungsbilanzüberschüsse
erwirtschaftet. Es ist zwar unklar, was passieren
würde, sollte die US-Regierung dieSchweiz als
«Währungsmanipulator» brandmarken, aber eine
willkommene Entwicklung wäre das sicher nicht.
Die Unsicherheiten um den Brexit und die ex-
trem lockerePolitik der EZBkönnten den Druck
auf denFranken absehbar durchaus nochmals er-
höhen. Andersals nach derAufhebungder Wech-
selkursuntergrenze wäre das für grosseTeile der
Exportindustrie nicht so einfach zu verkraften.
Denn heute ist das gesamtwirtschaftliche Umfeld
wenigrosig.SubstanzielleTeile des Maschinenbaus
leiden bereits unter ausbleibenden oder stornierten
Aufträgen und tiefen Margen.
Nach derFinanzkrise war es die SNB, die mit
ihrerPolitik derWirtschaft half, Schocks zu absor-
bieren. Nun ist diePolitik gefordert.Dabei geht es
nicht um grosse Subventions- und Stimulierungs-
pakete. Mit der überfälligenVerständigung mit der
EU auf einRahmenabkommen, das dieFortset-
zung des bilateralenWegs und günstigen Markt-
zugangs garantiert,wäre den meistenFirmen schon
viel geholfen.Freihandelsabkommen wie dasjenige
mit dem Mercosur sollten schnell in Kraft gesetzt
werden. Statt weitere Überregulierungenkönnten
bürokratische Entlastungen helfen, genauso wie
eine Politik, welche die Arbeitskosten nicht dau-
ernderhöht,sonderndenArbeitsmarktflexibelhält.
Gelingen wird das nur, wenn es genügendVer-
ständnis und Interesse dafürgib t, wie Unterneh-
men funktionieren undArbeitsplätze schaffen,und
was diese in Bedrängnis bringt.Daran mangelt es
derzeit, angefangen vom Bundesrat bis in vielePar-
teien hinein,besorgniserregend.Soll es der Schweiz
weiter gut gehen, müsste sich dies ändern – und
nicht die Geldpolitik.
Mit der überfälligen
Ve rständigung mit der EU
auf ein Rahmenabkommen,
das die Fortsetzung
des bilateralenWe gs und
günstigen Marktzugangs
garantiert, wäre den meisten
Firmen schon viel geholfen.
Umstrittener Bundesanwalt Michael Lauber spaltet das Parlament
Bei einer Wiederwahl bleiben blinde Flecken
Wer in der Debatte um MichaelLauber die Über-
sicht verloren hat, steht vermutlich nicht allein da.
In unzähligen Stellungnahmen haben sich zuletzt
Befürworter und Gegner für odergegen den amtie-
renden Bundesanwalt ins Zeug gelegt, quer durch
die Parteienlandschaft.Wenn amkommenden Mitt-
woch die 246 Mitglieder der Bundesversammlung
ihre Stimme abgeben, ist ein knappesResultat zu
erwarten. Doch egal, wie dieWürfel fallen – die
Gemüter dürften sich auch nach demWahltermin
nicht so schnell beruhigen.Dafür hat Bundesanwalt
Lauber in den vergangenenWochen und Monaten
schlichtweg zu viel Geschirr zerschlagen.
Eine kritischeRekapitulation der Ereignisse
beginnt mit dem Strafverfahren, das die Bundes-
anwaltschaft im März 2015 im Zusammenhang mit
der Vergabe derFussball-WM an Katar eröffnet
hat.Im Raum stehtbis heute derVerdacht,dieVer-
gabe an den kleinen, aber unendlichreichen Golf-
staat sei mithilfe von Schmiergeldern erfolgt.
DiesesStrafverfahrenist,wierundzweiDutzend
weitere imKomplexWeltfussball,noch immer hän-
gig. Fo rmaljuristisch mag dieFifa als Geschädigte
in all diesenVerfahren Privatklägerin sein. Doch
zumindestim Fall der strittigen WM-Vergabe sitzt
die Fifa mitKatar im selben Boot: Sollten die Er-
mittlungen der Bundesanwaltschaft dereinst erge-
ben, dass die Mitglieder derWahlbehörde tatsäch-
lich bestochen worden sind, hat nicht nur Katar als
Austragungsort, sondern auch dieFifa alsVeran-
stalterderFussball-WMeingröberesProblem.Man
darfdeshalbgespanntsein,obdasVerfahren–unter
welchem Bundesanwalt auch immer – noch vor der
AustragungderWM-Endrunde2022abgeschlossen
wird. In diesemäusserst heiklenKontext hatLau-
berdenFifa-PräsidentenGianniInfantinogetrof fen
- nicht einmal, nicht zweimal,sondernvermutlich
dreimal. Die nicht protokolliertenTreffen fanden
nicht etwa in einem Sitzungszimmer der Bundes-
anwaltschaftstatt,sonderneinmalineinemZürcher
Restaurant und zweimal in einem Berner Hotel.
BundesanwaltLauber spricht in diesem Zusam-
menhang von unabdinglichenKoordinationstref-
fen, bei denen er sichergestellt habe, dass dieFifa
weiterhinkooperiert. Doch dieseKooperation war
zu jenem Zeitpunkt gänzlich unbestritten: Olivier
Thormann, Abteilungsleiter in der Bundesanwalt-
schaft, und MarcoVilliger , LeiterRechtsdienst in
der Fifa, waren schonlängst in permanentemAus-
tausch. DerenKooperation war sogar so eng, dass
Lauber im vergangenen Herbst gegen seinenAbtei-
lungsleiter ein Strafverfahren wegen Begünstigung
in dieWege leitete und ihn unverzüglich freistellte.
Ein anderer führender Mitarbeiter widerspricht
Lauber diametral. Der damalige Leiter derFifa-
Verfahren sagte gegenüber dem Bundesstraf-
gericht, weder 2016 noch 2017 – als die dreiTreffen
mit Infantinostattfanden – habe es einenKoordi-
nationsbedarf gegeben,den er alsVerfahrensleiter
nicht selber hätte lösenkönnen.
Es besteht also weiterhin Erklärungsbedarf. Die
Aufsichtsbehörde (AB-BA) versucht, imRahmen
eines Disziplinarverfahrens Licht in die Affäre zu
bringen. DochLauber zeigt wenigKooperations-
bereitschaft.Zuletzt lud dieAB-BA zwei Mitarbei-
terderBundesanwaltschaftzurBefragungein.Lau-
ber intervenierte. Faktisch habe der Bundesanwalt
seinen Mitarbeitern untersagt, an Befragungen der
Aufsichtsbehörde teilzunehmen, teilte die AB-BA
vergangeneWoche mit. Bei einem dieser Mitarbei-
ter dürfte es sich umAndré Marty handeln.Der In-
formationschef der Bundesanwaltschaft begleitete
LauberansmutmasslichdritteTreffenmitInfantino.
Wie sei nVorgesetzter kann sichauch Marty nicht
an das Meeting erinnern. Seit mehreren Monaten
istderInformationschefnichtmehröffentlichinEr-
scheinunggetreten. Er sei aber weiterhin in seiner
Funktiontätig,heisstesvonderMedienstelle.Wieso
Lauber die Befragung Martys durch dieAufsichts-
behörde torpediert, ist nicht bekannt.
All das trägt wenig dazu bei, das verloreneVer-
trauen zurückzugewinnen.Auch Laubers forsches
Vorgehen gegen Kritikerlässt sich nur schwer mit
seinemAmt als oberster Ankläger vereinbaren.
Wie schwer die Unterlassung wiegt, dieTreffen mit
Infantino nicht protokolliert zu haben,ist d abei zu-
nehmend in den Hintergrund getreten. Matchent-
scheidend ist vielmehr, ob Lauber nach denWirren
in den vergangenenWochen und Monaten in der
Öffentlichkeit noch genügendRückhalt hat.Dass
sich keiner derTeilnehmer an das ominöse dritte
Treffen mit Infantino erinnern kann, widerspricht
jegl icher Lebenserfahrung und trägt deshalb we-
nig zurVertrauensbildung bei.
Die blinden Flecken jedenfallskonnten bis dato
nicht beseitigt werden. Sie würden auch mit einer
WiederwahlLaubers nicht einfach verschwinden.
Vielmehr würden sie eine dritteAmtszeit von vorn-
herein belasten. Die Chance auf einen Neuanfang
bietet nur die Nichtwiederwahl des amtierenden
Bundesanwalts.
DieReden des deutschen BundespräsidentenFrank-Walter Steinmeier
Der Präsident der Phrasen
Frank-Walter Steinmeier, 63 Jahre alt und seit 20 17
Inhaber des höchsten Amts der Bundesrepublik,
hat in seinem Leben noch kaum einen Satz formu-
liert, an den man sich erinnernkönnte. Menschen,
die ihnkennen, bezeichnen ihn als klug, sogar
humorvoll.Aber sobald er öffentlich spricht, wirkt
es, als würde er seiner Muttersprache den Krieg er-
klären. Neben einem stark ausgeprägten Hang zu
Floskeln und Phrasen ist das, was Steinmeier inhalt-
lich sagt, auf eineWeise überraschungsfrei, dass es
fast komisch wirkt.Wollte man eineKomödie über
einen biederen Beamten drehen, der irrtümlich ins
höchste Staatsamt purzelt und versucht, es irgend-
wie auszufüllen: Er wäre die Idealbesetzung.
Ein typischer Steinmeier-Satz klingt so:«Wenn
Engagement für die Demokratie undRespekt
vor den Institutionen der Demokratie nicht mehr
selbstverständlich sind, sollten wir darüber nicht
zur Tagesordnung übergehen.» Oder so:«Wenn
wir die Demokratie gegen ihre Skeptiker verteidi-
gen wollen, werden wir wohl einen etwas längeren
Atem brauchen.»
Sicher, das Amt istkein einfaches. Wirklich
wichtig wird es nur, wenn die Machtverhältnisse
wackeln, etwa imFalle einer verlorenenVertrau-
ensfrage.DerAlltag besteht aus dem Empfang von
Botschaftern, der Pflege von Schirmherrschaften
und Glückwünschen zum 100. Geburtstag.Trotz-
dem soll vom Amt eine «geistig-moralischeWir-
kung» ausgehen, wie es dasVerfassungsgericht for-
muliert hat.Wie viele der bisher zwölf Präsiden-
ten diesem Anspruch gerecht geworden sind, dar-
über liesse sich lange streiten. Fest steht, dass keiner
an die Eleganzund die weltanschauliche Klarheit
des ersten StaatsoberhauptsTheodor Heuss heran-
gekommen ist.Als «Scholar and Gentleman» wür-
digte ihn die britische«Times» einmal. Kaum vor-
stellbar, dass Steinmeier zu solchen Ehrenkommt.
2016 bezeichnete erDonaldTrump als «Hass-
prediger». Steinmeier war da noch nicht Bundes-
präsident, aber er war ein erfahrenerPolitiker, und
seine Attacke war kein Ausrutscher. Sie steht sym-
ptomatisch für eine weitere Eigenschaft, welche
die rhetorische Schwäche ergänzt: Steinmeier war
und ist einFähnchen (heute eine Nationalfahne) im
Wind der Mehrheitsmeinung. Er hat schon immer
ausnahmslos Dinge gesagt, die man zuvor in zig
Kommentaren deutscher Leitmedien lesen, hören
oder sehenkonnte. In einem vor wenigenTagen
veröffentlichten «Spiegel»-Interview etwa sprach
er der AfD indirekt ab, eine bürgerlichePartei zu
sein .Die Aussage stimmt zwar, aber Steinmeiers
Vorschläge für den Umgang mit derPartei waren
eine einzige Ansammlung von Kalendersprüchen.
«Die Menschen» erwarteten,dass «diePolitik» ihre
Probleme adressiere, erklärte er. Demokratischer
Streit braucheRegeln. Gesellschaftlicher Zusam-
menhalt sei ohneKompromisse nicht zu haben.
Und so weiter.
«Der Bundespräsident darf, ja er muss vor der
rohen Bürgerlichkeit warnen», erklärte Heribert
Prantl dieseWoche mit feierlich gerolltem «R».
Ja, muss er?Was wäre, wenn er darauf verzich-
ten würde?Würde dieRepublik ohne Steinmeiers
Phrasen in dieRadikalisierung torkeln? Braucht
sie den Diskurs-Bademeister,der die geistig-mora-
lischenBahnen absteckt?
Das Organ des Bundespräsidenten ist an sich
eine sinnvolle Einrichtung. Ein neutralerWäch-
ter des geordneten Machtwechsels wird angesichts
der parteipolitischenVerhältnisse in Deutschland
künftig eher wichtiger werden. In dieserFunktion
könnte auch Steinmeier seinemLand noch Dienste
erweisen.Viel sagen muss er dafür aber nicht.
Steinmeier ist ein Fähnchen
im Wind der
Mehrheitsmeinung. Er hat
schon immer Dinge gesagt,
die man zuvor in
zig Kommentaren
deutscher Leitmedien lesen,
hören oder sehen konnte.
MARCEL GYR
MARC FELIX SERRAO