Neue Zürcher Zeitung - 20.09.2019

(Ron) #1

Freitag, 20. September 2019 GESELLSCHAFT59


IN JEDERBEZIEHUNG


Wenn Linke


Machos lieben


Von Bi rgit Schmid


Die Liebe ist stärker als jede politische
Überzeugung. Das sieht man nicht nurrech-
tenMännern an, dieAusländerinnenbegeh-
ren. Sondern genauso wundere ich mich
über linkeFrauen, diesich inMänner aus
patriarchalenKulturen verlieben.
Im Kreis 6 in Zürich,woich einst ge-
wohnt habe, gab es um die Ecke einen Klub.
Das Hochschulquartier zeichnet sich durch
eine linkeWählerschaft aus, man wählt SP
oder grün, Lehrerinnen leben hier,Ärztin-
nen und Architekten. Den Klub besuchten
viele junge MännerausNordafrika. Gut ver-
treten waren auchFrauen zwischen dreissig
und vierzig, ein – ich muss es so sagen – ganz
bestimmterTyp. Alternativ, weltoffen, etwas
einsam.Frauen, wie man sie auch an Afro-
Festivals sieht, wo dieVölkerverständigung
als Klischee zelebriert wird. Die einen such-
ten, die anderen fanden.Paare entstanden.
Was ich schon damals beobachtet habe,
zeigt auch die jüngere Statistik. Heiraten
SchweizerinnenAusländer, dann häufig
Männer aus Marokko undTunesien. So war
es letztesJahr: Afrikaner folgten an vier-
ter Stelle hinter Deutschen, Italienern und
Kosovaren. Die meisten deutschenFrauen,
wenn sieAusländer wählen, gingen 20 17
Ehen mitTürken ein.Auch hierstehenVer-
bindungen mit Marokkanern weitvorn.
Solche Ehenkönnen sicher glücken.Das
Anderssein ist bereichernd, man lernt von-
einander, da man sich gern hat. Beide sind
emanzipiert und aufgeklärt. Gleichwertig.
Oftmals gibt es aber eine Diskrepanz
zwischen der feministischen Gesinnung der
Frauen und der Mentalität ihrer ausländi-
schenPartner. Den Männern merkt man
an, dass sie in Gesellschaften sozialisiert
wurden, in denenFrauen wenigerRechte
haben.Die abwertende Sicht aufFrauen
äussert sich in einem Machogebaren, das
die Männer in die Beziehung tragen.
Das kann subtil sein,Aussenstehenden
tut es weh: mitanzusehen, was an sich selbst-
bewussteFrauen erdulden, wie gutgläubig sie
sind,wie blind. Es ist halt seineKultur, sagen
die dann, noch immer fasziniert vom Exoti-
schen. Und halten die Erniedrigungaus.
Bei einemPaar, das ich entferntkenne,
hat sich der Mann seit der Hochzeit zurück-
gezogen. Er verbietetihr zwarnicht, Alko-
hol zu trinken. Aber er stört sich daran und
lässt sie das spüren. Und sie? Sie gibt ihm
erneut«eine zweiteChance». Imandern
Fall hat der Mann, der ebenfalls aus dem
arabischenRaumkommt, weitereFrauen,
ohne dass er daraus ein Geheimnis macht.
SeineFrau und das Kind leiden still.
DieFeministinnen, Letztereeine Islam-
wissenschafterin, tolerieren imPrivaten, was
sie ausserhalb bekämpfen. Sonst gehen sie
gegen Sexismus vor, wozu auch einmal ein
dummerSpruch von Männern gehört, deren
Zeit sowieso abgelaufen ist. Sie streiken für
Gleichstellung inFamilie und Beruf und nen-
nen die Schweiz diesbezüglich ein Entwick-
lungsland. Gerechtigkeit sehen sieerst mit
dem Gendersternchen erreicht, das sie mehr
beschäftigt als Mädchenbeschneidungen in
demLand, aus dem ihr Geliebter stammt.
Und was sind nun die Gründe für die
Konstellation?Wennrechte MännerRus-
sinnen wählen, weil sie in ihnen noch «rich-
tigeFrauen» sehen – was zieht dann linke
Frauen zu Machos hin?Vielleicht wollen die
Frauen Entwicklungshilfe leisten, indem sie
dieseMänner lieben. Sie wollen erziehen,
formen, verbessern,retten.Vielleicht leben
sie aber auch aus, was sie sonst verdrängen:
die eigeneVerletzlichkeit, dasWeiche und
Weibliche. Das spüren sie durch einenPart-
ner mit stereotyp männlichemVerhalten
umso stärker. Under darf ja, da er kultur-
bedingt angeblich nicht anders kann.Nur so
ist Unterwerfungerlaubt – dann aber richtig.

BESONDERE KENNZEICHEN


Statt zur Kirche ins All


Keine andere Europäerin hielt sich bi sher so la nge im


Weltraum auf wie Samantha Cristofo retti. Diese 200 Tage


fern der Erde machten die Italienerin aber nicht zu einem


weniger rebellischen Menschen. VON MARC ZOLLINGER


Samantha Cristoforetti denkt gerade viel über den
Mond nach, in dessen Orbit die Nasa dereinst ihre
Raumstation Lunar Gateway kreisen lassen will.
Dafür bleibt sie aber auf dem Boden. Zusammen
mitKollegen arbeitet sie im EuropäischenAstro-
nautenzentrum inKöln an technologischenFra-
gen des internationalen Projekts. Selbst dieAus-
sicht, den Stützpunkt vielleicht auch einmal bewoh-
nen zukönnen, lässt die Astronautin nicht abheben.
«Mein grössterTr aum hat sich bereits erfüllt», sagt
die 42-Jährige amTelefon.
Darüber hat die Italienerin ein Buch geschrie-
ben, das soeben auf Deutsch erschienen ist («Die
langeReise», Penguin-Verlag). Cristoforetti, die
fliessend und akzentfrei Deutsch spricht, erzählt,
wie sich der Plan zu dieser langenReise bereits
festsetzte, als sie alsTeenager während einesAus-
tauschjahrs in den USA war, «demLand vonSpace-
shuttle und ‹StarTr ek›». Der Berufswunsch Astro-
nautin mutete damals noch eher kühn und utopisch
an. Aber das Mädchen war willensstark.


Aus 7500Bewerbern ausgewählt


Wases dann alles brauchte, um die «letzte Grenze
der Menschheit» zu überschreiten,wieCristoforetti
es nennt, ist enorm.Das zeigt allein dasAuswahl-
verfahren für das europäische Astronautenkorps:
Zu Beginn waren es 7500 Bewerberinnen und Be-
werber, von denen 10 00 selektioniert wurden; im
nächsten Schritt waren es noch192, dann 45, 22 und
zuletzt 10. Der Countdown liest sich in Cristofo-
rettis Buch wie ein Krimi, auch wenn das Happy
End für den Lesenden von Anfang an feststeht.
Als der zukünftigen Astronautin schliesslich die


freudige Botschaft überreicht wurde, war sie über-
wältigt. «Ich juble nicht, ich lache nicht, ich weine
nicht», schreibt sie. «Einen Moment lang steht das
ganze Universum still und blickt mich wohlwol-
lend lächelnd an.»
Eine Astronautin zu sein, ist das eine. Doch
Cristoforetti, der 216. Mensch, der sich Astronaut
nennen darf, wollte auch für eine Mission ausge-
wählt werden.Das ist lange nicht jedem Astronau-
ten vergönnt. Um mit den besten Qualifikationen
imRennen zu bleiben, liess sie nichts unversucht
und absolvierte alle möglichenWeiterbildungen.
Dabei halfen ihr dieFähigkeiten, die sie sich bei
derAusbildung zur Pilotin bei der Luftwaffe er-
worben hatte:«Disziplin, Demut, Resilienz,realis-
tische Selbsteinschätzung.» Sie schaue aufsDetail,
könne gut imTeam arbeiten, aber auch führen.
Dass es dann ausgerechnet die Mission Nr.42
der InternationalenRaumstation (ISS) war,an
der Samantha Cristoforetti teilnehmen durfte, be-
zeichnet sie als «freakiges Detail» ihrer Karriere.
Wer wie sie «Per Anhalter durch die Galaxis» von
DouglasAdams gelesen hat und das Buch liebt,
weiss, dass die Zahl 42 die Antwort ist auf die
«Frage allerFragen – nach dem Leben, dem Uni-
versum und dem ganzenRest».
DerKultbuchautor erlaubte sich damiteinen
Scherz. Doch für die Astronautin begann die
42 .Mission tatsächlich mit einem erhabenen
Moment:Als sie aufdemWeg zur ISS warund
von der Sojus-Rakete aus zum ersten Mal ihr zu-
künftiges Zuhause erblickte, glühte dieRaum-
station orange auf – von der Sonne erleuchtet,
und zwar in den wenigen Sekunden des Über-
gangs vomTagzur Nacht.

Gleichgültiges Universum


In jenem Moment habe sie das Gefühl gehabt,
schreibt sie in ihrem Buch, «dass das Universum,
dieses Universum, das gegenüber den Gescheh-
nissen der gesamten Menschheit, geschweige denn
einer einzelnenPerson,völlig gleichgültig ist, mir in
dieser Nacht einGeschenkmachen wollte».
Der Anblick der Erde löste in ihr dann wieder
ganz andere Gefühle aus. Sie trafen sie nicht wie
ein Blitz aus heiterem Himmel; es war mehreine
sich stetig vertiefende Liebesgeschichte.Wie alle
ISS-Astronauten verbrachte auchCristoforetti fast
jede freie Minute ihrer insgesamt 200Tage im All
in der sogenannten Cupola,einem kuppelförmigen
Raum mit sechs im Kreis angeordnetenAussenfens-
tern undeinemRundfenster, das zur Erdoberflä-
che ausgerichtet ist – «ein1. -Klasse-Logenplatz mit
Sicht auf den Planeten», sagt die Astronautin. Im
Buch hält sie fest:«Wer wie ichkeine Kirchen,Syn-
agogen, Moscheen oderTempel besucht, sollte zu-
mindest dem Himmelsgewölberegelmässig seine
Aufwartung machen.»
Etwas mehr alsachtzig Minuten genügen, um im
400 Kilometer weit entfernten Orbit einmal um die
Welt zu kreisen.Für ihre Heimat Europareichen
zehn Minuten. «Es ist vielleicht paradox», sagt sie,
«man gehört zu den einzigen sechs Menschen, die
gerade nichtauf dem Planeten sind, aber gleichzeitig
gibt es niemanden, der eine engereBeziehung zur
Erde hat als dieses Grüppchen.» Der blaue Planet
werde einem zum persönlichenVorgarten. Klar, dass
man dort oben auch merkt, wie fragil unser Planet
ist. Doch man müsse nicht zwingend in denWelt-
raumreisen, um sich der drohendenZerstörung be-
wusst zu sein, sagt Cristoforetti. Sie wehrt sich des-
halb, wennman sie zur Sprecherin des Umweltschut-
zes machen will, wofür sich andere Astronauten gern
einspannen lassen. «Aber vielleicht bin ich auch ein-
fachRebellin geblieben. Ichreagiere allergisch, wenn
man mir eine bestimmteRolle aufdrängen will.»
Alle Aktivitäten im Alltag in derRaumstation
erachtet sie als gleich wichtig: ein Experiment
durchführen, dieToilette warten, mit der Boden-
stationkommunizieren. Selbst als sie anWeih-
nachten über eineVideoschaltung mit dem italie-
nischen Staatspräsidenten sprach, war es einfach
eine Sache, diezu tun war.
In Italien erhält Astrosamantha, wie sie genannt
wird, viel Bewunderung. Schulen und Universitäten
laden sie ein, damit sie über ihre Erfahrungenredet.
Die jungen Menschen, die in ihremLand wegen
der anhaltenden Krise wenigAussichtauf eineauch
nur halbwegs so ruhmreicheLaufbahn haben, fra-
gen sie dann oft nach dem Geheimnis ihres Erfolgs.
Cristoforetti, inzwischen Mutter eines dreijähri-
gen Mädchens, antwortet, dass eskeine Geheim-
tipps gebe.Aber dreiFaktoren seien unabdinglich:
Talent, dann müsse man hart arbeiten und schliess-
lich sehr viel Glück haben. Den letzten Punktver-
gässen dieJugendlichen gern, sagt sie. Deshalb er-
innert sie sie: «Du kannst talentiert sein, hart arbei-
ten, zielstrebigvorangehen,aber das Glück kannst
du nicht planen.»Damit will sie sagen, dass es auch
so etwas Altmodisches wie Demut brauche, um
nach oben zu gelangen.

Cristoforetti verbrachte fast jede freie Minute in der Cupola, dem1.-Klasse-Logen-
platz mit Sicht auf die Erde. ESA/LAIF

«Man gehört zu den


einzigensechs Menschen,


die gerade nicht auf dem


Planeten si nd, aber gleichzeitig


gibt esniemanden,


der eine engere Beziehung


zur Er de hat.»

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