Freitag, 20. September 2019 GESELLSCHAFT61
Odyssee der weiblichen Lust
Frauen entdecken ihren Körperneu,auchdankkäuflichemSex.Welchen Einflusskönnte dieweiblichePotenz
auf gesellschaftlicheMachtstrukturen haben?Ein Gedankenspiel. VONVALERIE ZASLAWSKI
Frauen lernenschon als kleine Mäd-
chen, was ihreAufgabe ist: Sie werden
zu «lächelnden Maschinen» erzogen.
DassagtdieehemaligeProstituierteIlan
St ephani. Später sollen sie sich–imBe-
ruf, im Alltag, im öffentlichenRaum –
um die anderen sorgen,unan genehme
Situationenauffangen.Sietundiesunbe-
wusst. Und:stets mit einemLächeln. Die
tief verankerte Disziplinierung, wonach
Frauen mehr auf das Gegenüber achten
als auf sich selbst, hat aber auchAuswir-
kungenaufihreSexualität.Wiesosollten
sie ihreRolle im Schlafzimmer einfach
abgelegen?Sodenkenauchheutenoch–
Jahrzehnte nach der sexuellenRevolu-
tion in der zweiten Hälfte des 20.Jahr-
hunderts – vieleFrauen weniger an das
Begehren des eigenenKörpers als an
ihre Performance. Die Befriedigung des
Partners steht dabei oft imVordergrund,
die eigenekommt zu kurz.
Mit dieser passivenWahrnehmung
der weiblichen Sexualität dürfte es aller-
dings baldvorbei sein,erhält die egoisti-
scheErotikderFrauderzeitdochstarken
Auftrieb.Trotz – oder vielleicht gerade
wegen – derForderungen vonPopulis-
ten nach einerkonservativenFamilien-
politik, zu der beispielsweiseauch Ab-
treibungsverbote gehören, formiert sich
eine breite solidarische Bewegung, viel-
leicht eine neueWelle desFeminismus.
Sie denkt das weibliche Begehren neu,
denktesaktivundpositiv,wievonSvenja
Flasspöhler in ihrer Schrift «Die potente
Frau» gefordert. Nicht das Nein wird
demnachgestärkt,sonderndieweibliche
Potenz. Und zwar durch vielseitige und
vielschichtigeAngebote.
So bringt beispielsweise die in Zürich
wohnhafte «Sexpertin» MaggieTapert
Frauenbei, wie sie mit umgeschnallten
DildosMänner penetrieren und damit
dominantesAuftreten lernenkönnen,im
Sexuellen wie im Existenziellen.Tapert
benutzt Sexualität, wie sie sagt, um
Frauen zu «ermächtigen». Frauen soll-
tenlernen, ihreYang-Energie zu leben,
Männer ihreYin-Energie. Es gehe ihr
darum, Frauen zur Aktivität zu ermuti-
gen. Dabei werde die weibliche Sexua-
lität zwar auf-, die männliche Sexualität
aber nicht abgewertet.
Wenn Frauen für Sex zahlen
Die Beschäftigung mit der eigenen Lust
scheint unmittelbareFolgen zu haben.
Frauen werden selbstbewusster, verlie-
ren Hemmungen und,nun ja:kaufen laut
einer Studie der technischen Universi-
tät von Queensland (2017)auch häufiger
Sex.DasForschungsteamuntersuchtedas
Online-Sex-Angebot international und
kam zum Schluss, dass das Angebot an
Escort-Services von Männern fürFrauen
und Pärchen zunimmt. InDeutschland
seienesbereits42ProzentallerAngebote,
im VereinigtenKönigreich, in Uganda
und Argentinien sogar über 50 Prozent.
Für die Schweiz gibt eskeine Zahlen.Die
Studie liefert denn auchkeine Erklärung,
wiesodasAngebotindengenanntenLän-
dern derart gross ist.
Auch die lesbische Prostitution be-
ginnt zu boomen.Das weiss die femi-
nistische Sexarbeiterin Kristina Marlen
aus Berlin. Sie zählt mittlerweile 40 Pro-
zent Frauen zu ihrerKundschaft. Mar-
len arbeitet im Bondage-Bereich (ero-
tischesFesseln) und bietet tantrische
Intimmassagen an; sie bezeichnet sich
auch als Domina. Es habe sieJahre ge-
kostet, Frauen alsKundinnen zu gewin-
nen , sagt sie. Sie musste viel Sensibili-
sierungsarbeit leisten. Nun trägt ihr Ein-
satz Früchte.
In einem anderen Bereich, im Escort,
arbeitet die Berliner Luxusprostituierte
SaloméBalthus .Auch sie verzeichnet
einen Zuwachs an weiblicherKund-
schaft.Anders als Marlen istBalthus im
HochpreissegmenttätigundmussFrauen
in derRegel keine Preisermässigungen
aufgrund des Gender-Pay-Gap anbieten.
Frauen seien denn auch mehr Arbeit:
«Ein Orgasmus ist nicht das Ende, nach
dem ichFeierabend habe, sondern erst
der Anfang.» Anders gesagt: Die Lust
der Frauen ist zielloser und ausschwei-
fender. Sind sie einmalgekommen, wol-
len sie mehr und mehr.Und mehr.
Dafür sei die Arbeit spannender und
weniger vorhersehbar als mit einem
Mann, sagtBalthus. Die Frauen genös-
sen vor allem dieTatsache, dass sie für
einmal nicht performen müssten, son-
dern sich erlauben dürften, zu genies-
sen.Auch Sexarbeiterin Marlen erklärt:
«Ich adressieredie Sexualität derFrau
und nicht die Sexyness.» Es gehe darum,
herauszufinden, was gut für sie sei, was
ihr gefalle. Sie kreiere dafür einen «sex-
positiven» und «achtsamen»Raum. «Es
gibt hier eineWelt, in der sie für nichts
sorgen müssen», sagt sie.
Frauen lernen also allmählich, in den
Wortender«Sexpertin»Tapert,ihreYang-
Energien zu leben. Sie werden durch die
Beschäftigung mit ihrer Sexualität selbst-
bewusster. Und im bestenFall nehmen
sie–genausoselbstverständlichwieMän-
ner – auch einmal sexuelle Dienstleistun-
gen in Anspruch, durch die sie merken,
dass es neben Sexyness undPerformance
auch noch die eigeneLust gibt.
Das sollte ja eigentlich selbstver-
ständlich sein. Die sexuelle Emanzipa-
tion ist eine durchaus positive Entwick-
lung, gegen die niemand mehr etwas ein-
wenden kann. Alle profitieren davon,
Frauen und Männer. Und dochgibt es
weiterhin eine tiefe männlicheFurcht
vor der potentenFrau. Den Expertin-
nen der weiblichen Sexualität begegnet
sie jedenfalls täglich.
DieseFurcht gründet aber nicht nur
auf der Angst vor dem verlangenden
weiblichenGeschlechtsteil, in dem der
Phallus zu versinken droht.Oder inBal-
thus’Worten: «Die Angst des Mannes
vor dem weiblichen Begehren kommt
von derAngst,zu versagen.»Nein, Män-
ner fürchteten weibliche Selbstermäch-
tigung auch,so meint Marlen, weil sie
dadurch die Macht nicht mehr für sich
alle in hätten. So gehe es bei derKon-
trolle der weiblichen Sexualität auch
immer um den Erhalt von Macht. Ge-
mäss denFeministinnen leben wir nach
wie vor in einer Gesellschaft, die durch
und durch patriarchalisch geprägtist.
Was würde demnach die erstarkte weib-
lichePotenz für diese Strukturen bedeu-
ten? Würde, um im feministischenJar-
gon zu bleiben,durch dieRevolution im
Schlafzimmer dasPatriarchat gestürzt
und stattdessen ein Matriarchat instal-
liert? Und wäre das besser?
«Sexpertin»Tapert sagt, Ziel dürfe es
nichtsein,männlichesVerhaltenzukopie-
ren. Vielmehr brauche es ein Gleich-
gewicht zwischen den Geschlechtern,
die liegendeAcht, bei der beide Seiten
geschätzt würden.Auch Marlen möchte
nicht in Dichotomien denken.Sie spricht
bewusst von Männlichkeiten undWeib-
lichkeiten, wünscht sich einenrespekt-
vollen Begriff des Menschseins, eine
GleichheitderGeschlechter,auchsexuell.
Hurenfeindlichkeit
Doch das Gedankenspiel entbehrt nicht
einergewissenIronie:SoistauchdiePro-
stitution ursprünglich aus demPatriar-
chat heraus entstanden und diente dazu,
Machtstrukturen aufrechtzuerhalten;
kriselnde Ehen hatten oft auch wegen
käuflichen Sexes Bestand.Wenn sich
nun alsoFrauen vonFrauen bedienen
lassen, dannkommt laut Marlen dem
Patriarchateines derwichtigsten Instru-
mente abhanden: dieVerinnerlichung
von Frauen, sich gegenseitig zu diszipli-
nieren – werden sexuell aktiveFrauen
doch insbesondere vonFrauen gerne als
Schlampen bezeichnet. Die Disziplinie-
rung hat denn auch bis heute in der Hu-
renfeindlichkeitAusdruck gefunden.
Ändert sich da wirklich etwas, wird
Prostitution längerfristig anders wahr-
genommen und muss der gesellschaft-
liche Diskurs neu geführt werden – auch
von Feministinnen wie Alice Schwar-
zer. Man müsste das Geschlechterbild
aus dem19.Jahrhundert, das von einer
unbeflecktenFrau als Idealbild aus-
geht,revidieren. In der heutigen Erzäh-
lung über Sexarbeit gibt eskeine Prosti-
tuierten, die ihreArbeit gerne machen,
die nicht ausgebeutet oder traumatisiert
sind.Diese Interpretation sage viel über
die Wahrnehmung weiblicher Sexuali-
tät aus, so Marlen. Dies solle indes nicht
heissen, dass eskeine Zwangs- oder
Armutsprostitution gebe, die in Zeiten
prekärer Arbeitsverhältnisse unbestrit-
ten stattfinde. Dennoch: «Die sexuell
aktiveFrau ist einTabu!»
Falls die Sexarbeiterinrecht hat und
Frauen im Schlafzimmer nach wie vor
die passiveRolle innehaben, müsste
man anfügen: noch. Doch die weibliche
Sexualität ist im Umbruch. Und das Ziel
dieser Odyssee der Lust istkein gerin-
geres als deren Befreiung. Männer sind
natürlich eingeladen, mit an Bord zu
kommen, machen Entdeckungsfahrten
ge meinsam doch am meisten Spass.
Die sich neu formierende,breite solidarischeBewegung denkt dasweiblicheBegehren neu, denkt es aktiv und positiv. JEAN-CHRISTIAN BOURCART / GAMMA-RAPHO / LAIF
Ändert sich
da wirklich etwas,
muss der gesell
schaftliche Diskurs
über Prostitution
neu geführt werden –
auch von Feministinnen.