Die WebseiteVoxEU.orgist in der Finanz-
krise groß geworden. Im Juni 2007 ging die
Seite live, wie bestellt begann kurz darauf
die weltweite Finanzkrise. Viele suchten
nach ökonomischen Erklärungen, was da
gerade passiert.Voxlieferte. „Bis etwas in ei-
nem wissenschaftlichen Journal erscheint,
dauert es fünf Jahre“, sagt Chefredakteur
Richard Baldwin. „Diese Lücke schafft die
Nachfrage nach unserer Arbeit.“Voxwurde
zu einer Anlaufstelle für Regierungs-
beamte, Journalisten und Wissenschaftler.
„Unsere Artikel sind kürzer als Beiträge in
einer Thinktank-Zeitschrift. Und sie sind
immer geschrieben von den Leuten, die die
entsprechende Forschung betrieben ha-
ben“, sagt Baldwin. Er schätzt, dass bislang
7000 bis 8000 Ökonomen aufVoxver-
öffentlicht haben.
Betrieben wird die Seite vom Londoner
Forschungsinstitut Centre for Economic
Policy Research (CEPR), seit 2018 ist dort
Beatrice Weder di Mauro Präsidentin, einst
Mitglied im „Rat der Wirtschaftsweisen“.
Pro Monat erscheinen laut Baldwin aufVox
75 bis 100 Beiträge. Viele Autoren visualisie-
ren ihre Daten. „Eine Grafik überzeugt die
Leser mehr als eine Regressionstabelle“,
sagt Baldwin. Die meisten Leser fand ein
Vergleich der Finanzkrise 2008 mit der Welt-
wirtschaftskrise von 1929 („A tale of two de-
pressions“), mehr als eine Million Menschen
klickten den Beitrag an. Auf Plattformen für
wissenschaftliche Publikationen sehen die
Zahlen sonst anders aus. „Ich kenne es ja als
Akademiker, du bekommst die Nachricht:
Oh, dein Paper gehört zu den zehn am häu-
figsten heruntergeladenen des Monats.
Herzlichen Glückwunsch: 120 Downloads“,
sagt Baldwin. „Wenn beiVoxam ersten Tag
weniger als tausend Leute draufschauen,
ist das ein Misserfolg.“ Normal seien 2000
bis 4000 Leser in den ersten Tagen, manche
Stücke erreichen auch 10 000. „Viele Öko-
nomen wollen, dass sich ihr Artikel weit
verbreitet, das ist viel demokratischer.“ An-
fangs schrieben fast nur bekannte, etablier-
te Ökonomen für das Portal. Baldwin änder-
te das. Jeder Forscher solle eine Chance be-
kommen: „Wenn es angemessen relevant
ist, versuche ich, ein Stück zu machen.“ BBR
von bastian brinkmann
N
ach einer halben Stunde holt
Richard Baldwin die Kuh raus. Er
zeigt auf ein Schaubild, das er nun
einblendet. Eine Diagonale symbolisiert,
wie die Menschen sich technischen
Fortschritt vorstellen: Schritt für Schritt,
vorwärts im immer gleichen Trott wie ein
Spaziergang auf einen sanft ansteigenden
Berg. Diese Wahrnehmung bestimmt
unsere Sicht auf die Zukunft. Fährt in drei
Jahren jeder zweite Lkw autonom? „Da
nimmt doch keiner den Taschenrechner
zur Hand“, sagt Baldwin. „Dein Instinkt
sagt dir: Das ist nicht möglich.“ Ist es aber
vielleicht doch: Der echte Fortschritt – die
zweite Kurve des Schaubilds – schleicht
sich anfangs an, er ist langsam, Menschen
träumen jahrzehntelang von fliegenden
Autos, ohne dass etwas passiert. Doch
plötzlich ist der technische Durchbruch
da, mit dem Fortschritt geht es nun
schnell. Die Realität überholt die Erwartun-
gen exponentiell. Das ist der Moment der
Kuh. Baldwin nennt das den „Holy-Cow-
Moment“. Solche Momente, sagt er, wür-
den die Menschen bald häufig erleben: Die
Globalisierung werde deutlich an Fahrt
gewinnen, und noch viel krasser werden
als alles Bisherige.
Die Zukunft kennt Baldwin natürlich
nicht. Aber er kennt sich aus. Er ist vermut-
lich einer der einflussreichsten und bele-
sensten Ökonomen der Welt. Baldwin ist
Chefredakteur der wichtigsten Webseite
der Zunft: Er leitetVoxEU.org, oder wie er
es nennt:Vox. Hier publizieren die Stars
der Szene ebenso wie junge Ökonomen ih-
re Forschungsergebnisse auf ziemlich les-
bare Weise. Wenn jemand ein neues wis-
senschaftliches Papier herausbringt, heißt
es an den Lehrstühlen mitunter nicht
mehr „Schick mir mal das PDF“, sondern:
„Ist das schon aufVox?“
Baldwin ist so etwas wie der Türsteher
der Seite. Er bestellt alle Beiträge persön-
lich, nichts erscheint, was er nicht geneh-
migt hat. Er prüft, ob das volkswirtschaftli-
che Modell eines Forschers – die Fachwelt
spricht von Working Papers – plausibel ge-
nug ist, um es zu veröffentlichen. Er weiß
also ziemlich gut Bescheid über den der-
zeitigen Stand der Volkswirtschaftslehre.
Vielleicht hat Baldwin den besten ökonomi-
schen Überblick der Welt.
Das macht seine Thesen zur weiteren
Entwicklung der Globalisierung so span-
nend. Er hat sie zusammengefasst in Vorträ-
gen, einen in Oxford etwa kann man sich
auf Youtube ansehen, und er hat ein Buch
geschrieben, das er „Globotics Upheaval“
genannt hat, denn das ist sein Hauptpunkt:
Künstliche Intelligenz (KI) und die Robote-
risierung werden der Globalisierung einen
enormen Schub verleihen, der zu großen
Verwerfungen führen kann. Denn KI und
Automatisierung verändern nicht nur die
Tätigkeit der schon gebeutelten Fabrikar-
beiter, sondern auch jene der Kopfarbeiter
und Büromenschen in den Industriestaa-
ten, die sich so sicher fühlen, weil sie bisher
von der Globalisierung verschont geblie-
ben sind oder sogar von ihr profitiert ha-
ben. Kurzum: Es trifft die Mittelschicht.
Als entscheidenden Faktor sieht Bald-
win maschinelle Übersetzungen. Sobald
die wirklich verlässlich seien, sagt er, wer-
de das die Arbeitswelt stark verändern. Ge-
schäftsfragen zum Beispiel könnten dann
ganz anders gelöst werden. Können wir das
Logo ein bisschen eckiger machen? Das
übernimmt ein Grafiker aus Bangladesch,
das Ergebnis zeigt er morgen früh per Vi-
deokonferenz, dank der Zeitverschiebung
ist dann schon alles erledigt. Wer analysiert
die neuen Verkaufszahlen, um zu sehen, ob
die Rabattaktion gezogen hat? Das macht
die Statistikspezialistin aus China.
Die neuen Konkurrenten auf dem heimi-
schen Arbeitsmarkt leben in Staaten, die
viel niedrigere Löhne haben. In vielen Län-
dern gehöre man mit einem Stundenlohn
von zehn Dollar schon zur anständigen
Mittelklasse, argumentiert Baldwin. Das
entspricht noch nicht einmal dem Mindest-
lohnniveau hierzulande. Außerdem gelten
dort ganz andere Sozialstandards, im Zwei-
fel nämlich keine: kein Kündigungsschutz,
keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall,
kein Elterngeld. Baldwin nennt die neuen
Kollegen „Telemigranten“. Sie könnten Mil-
lionen Arbeitsplätze in Europa und Nord-
amerika verändern oder ganz verdrängen,
was den Betroffenen hier noch gar nicht
bewusst sei: „Die Leute sind überhaupt
nicht darauf vorbereitet“. Ihr „Holy-Cow-
Moment“ stehe ihnen noch bevor. „Das
geschieht unmenschlich schnell und er-
scheint unglaublich unfair“, so Baldwin.
Das waren die schlechten Nachrichten.
Aber: Es wird natürlich nicht alles schlecht.
Baldwin ist Ökonom, und Ökonomen sehen
seit Hunderten Jahren einer Menschheit
zu, die immer wohlhabender wird. Baldwin
ist Optimist, trotz alledem. „Wir sind
einfallsreich genug, um auch künftig ge-
nügend Arbeitsplätze zu haben“, sagt er. KI
und Roboter würden die Menschen auch
produktiver und wohlhabender machen.
Die Arbeitnehmer der Zukunft würden das
übernehmen, was Computer nicht können:
„Teams leiten, Empathie, Ethik, Kreativi-
tät, auf vorher unbekannte Veränderungen
reagieren“.
Die sicheren Arbeitsplätze seien die, bei
denen Kollegen zusammen im selben
Moment in einem Raum sein müssen. „Die
Jobs der Zukunft sind menschlicher und lo-
kaler.“ Stumpfe Büroarbeit dagegen werde
entfallen. „KI wirkt egalisierend“, sagt Bald-
win. Denn KI befähige jeden, helfe beim Er-
kennen von Mustern und dem Abrufen von
Wissen, wofür bislang jahrelange Erfah-
rung und Studium nötig sind. „Jeder Durch-
schnittstyp wird viel schlauer werden“, sagt
Baldwin. Als Beispiel nennt er ein neues Ar-
beitsprofil irgendwo zwischen Pfleger und
Ärztin, das dank KI gute Diagnosen liefert.
„Das ersetzt keinen echten Arztbesuch,
aber man kann auf den Erfahrungsschatz
des gesamten Berufszweigs zugreifen.“
Damit sich die positiven Folgen von KI
und Automatisierung durchsetzen, sieht
Baldwin die Regierungen in der Pflicht.
„Plan A ist, den Angestellten dabei zu
helfen, sich anzupassen, und die Verände-
rungen so schnell wie möglich laufen zu
lassen“, sagt er. Aber das hat schon bei
Fabrikarbeitern nur mäßig funktioniert,
also hat er auch einen Plan B: „Regierungen
müssen darauf vorbereitet sein, die Dinge
auszubremsen, wenn die Lage ernst wird.“
Beschäftigung könnte per Gesetz geschützt
werden, um explosive Veränderungen zu
bremsen. Helfen könnten auch schärfere
Regulierungen für die Dienstleistungs-
branchen sowie höhere Auflagen in den
Bereichen Gesundheit, Privatsphäre, Da-
tenschutz. Das würde den Wandel verlang-
samen und so Arbeitnehmern helfen.
Baldwins Denken ist geprägt vom euro-
päischen Wohlfahrtsstaat. Zwar ist er ge-
bürtiger Amerikaner, hat am MIT promo-
viert, sein Doktorvater war Nobelpreisträ-
ger Paul Krugman, er ist bestens vernetzt
in der amerikanisch geprägten Ökonomen-
szene und hat bis 1991 für die Regierung
von George H. W. Bush gearbeitet. Doch
dann zog es ihn in die Schweiz, seit mehr als
27 Jahren, fast sein halbes Leben, wohnt
der heute 61-Jährige jetzt dort, genauer: in
Genf. Seine Frau ist Schweizerin, seine Kin-
der sind Schweizer, er spricht Französisch.
In Genf lehrt Baldwin Internationale Ökono-
mie am Graduate Institute, die Hochschule
zählt beispielsweise Kofi Annan zu den Ab-
solventen. „Ich mag die Schweiz sehr“, sagt
Baldwin. Er habe vor ein paar Jahren mit
seiner Frau darüber nachgedacht, in die
USA zurückzukehren, aber dann entschie-
den: Wir bleiben hier. „Die Schweiz ist eine
vernünftige Gesellschaft“, sagt Baldwin.
„Es herrscht ein ausgeprägter Sinn für
soziale Gerechtigkeit.“ Der gesellschaftli-
che Zusammenhalt sei stärker als in den
USA, Menschen hätten eine ähnliche
Vorstellung davon, was richtig sei und was
falsch. „Ich mag Europa insgesamt“, sagt
Baldwin. „Menschen ziehen nicht so häufig
um. Du behältst deine Freunde. Du gehst
zum selben Bäcker, der schon seit 20 Jah-
ren derselbe Laden ist.“
Auch in der Ökonomie sei die Lage dies-
seits des Atlantiks besser: Volkswirte in
Europa nähmen die politische Praxis viel
ernster. Hier gelte: „Mache Grundlagenfor-
schung und publiziere in den wissenschaft-
lichen Journals, aber wenn du ein echter
Professor werden willst, musst du auf dem
Markt der politischen Relevanz bestehen.
Sonst bist du nur ein Kind, das niedliche
Kreuzworträtsel veröffentlicht.“
Den Politikern konkrete Ratschläge an-
zubieten, die auf ökonomischen Daten und
Modellen basieren – das ist auch die Linie,
die Baldwin beiVoxgeprägt hat. „Ich habe
mich immer leidenschaftlich dafür einge-
setzt, dass Ökonomie genutzt wird, um die
Welt zu einem besseren Ort zu machen.“ Er
behandelt Gesprächspartner nicht arro-
gant, sondern wirkt vielmehr hilfsbereit,
konstruktiv, freundlich. Sogar auf Twitter
verbreitet er positive Stimmung, was auch
nicht jedem gelingt. „Voxist Teil meines
Lebens, jeden Tag kümmere ich mich dar-
um. Ich bekomme zehn bis 15Vox-E-Mails
pro Tag“, erzählt Baldwin. Er arbeite viel
mit vorformulierten Antwort-Mails, um
Zeit zu sparen. Automatisierung kann das
Leben auch schöner machen.
Volkswirtschaft für alle
Der Türsteher
der Ökonomie
Die Globalisierung wird sich noch deutlich beschleunigen
- und diesmal vor allem die Mittelklasse treffen,
sagt Richard Baldwin, der einflussreiche
Leiter des wichtigsten Portals der Volkswirtschaftslehre.
Aber er hat auch gute Nachrichten
D
as Bild wackelt, doch die Verbin-
dung steht, Bauer Dafei überträgt
live mit dem Smartphone von sei-
nem Hof in der zentralchinesischen Pro-
vinz Hunan. Früher ist der 28-Jährige ein-
mal Wanderarbeiter in der Küstenprovinz
Guangdong gewesen, hat in Fabriken ge-
schuftet für ein kleines bisschen Wohl-
stand, so wie Millionen andere Bauern
auch. Das ändert sich nun allmählich. Statt
in die großen Städten zu ziehen, die Fami-
lie zurückzulassen, in einem Werk anzu-
heuern, im Schlafsaal zu leben und genau
einmal im Jahr für zwei Wochen zum Früh-
lingsfest die eigenen Kinder zu Hause zu
besuchen, bleiben immer mehr Chinesen
daheim in ihren Dörfern. Die Digitalisie-
rung hat die letzten Winkel der Volksrepu-
blik erreicht.
Seit zweieinhalb Jahren wirbt Dafei für
seine Produkte per Livestream, seitdem
wohnt er wieder in seinem Heimatort, mit
seiner Frau und den beiden Kindern, das
dritte ist gerade unterwegs. Am 17.März
2017 war er zum ersten Mal online, man
sah seine älteste Tochter und die Oma, ge-
meinsam aßen sie vor der Kamera salzige
Snacks, Würste, getrockneten Tofu, Schin-
ken und eingelegtes Gemüse – all das, was
Dafei im Angebot hat. Zehntausende Chi-
nesen schauen ihm inzwischen jeden Tag
dabei zu.
„Jetzt möchte ich Ihnen unsere Rettich
präsentieren. Hochklassig und schmack-
haft“, sagt Dafei im breiten Hunan-Akzent,
wie ihn auch Staatsgründer Mao Zedong
sprach. Drei Mal muss er ansetzen, damit
ihn überhaupt jemand versteht. „Hey,
mein Hochchinesisch ist schlecht. Aber ich
nehme das locker“, sagt er. 28 Yuan möch-
te er für ein Glas eingelegten Rettich. „Wer
jetzt bestellt, bekommt einen Fisch-
schwanz dazu“, verspricht er. Nach gut ei-
ner Stunde ist die Verkaufsshow beendet.
„Letzte Chance etwas zu kaufen“, ruft Da-
fei.
Wer eine Frage hat, kann sie in einem
Feld schriftlich eintragen. Der Bauer ant-
wortet dann: „Das Fleisch war zu scharf?
Okay, das nächste Mal werde ich Oma bit-
ten, weniger Pfeffer zu nehmen.“ Ansons-
ten könne man alles online bestellen, per
Wechat, jener App, die in der Volksrepu-
blik fast jeder benutzt. Etwa eine Milliarde
Menschen haben den Dienst installiert.
Statt Telefonnummern tauscht man in Chi-
na häufig nur noch Wechat-Kennungen
aus. Zehn, zwölf Mal nennt Bauer Dafei sei-
ne eigene: DF763769. Dann sagt er: „Wir
müssen die Lieferung versenden. Wir se-
hen uns heute Abend um 18 Uhr wieder.“
Mit Sicherheit werden auch dann viele zu-
sehen.
Die Volksrepublik ist beinahe im Lives-
tream–Fieber. Überall im Land wird ge-
filmt. Im Bus, in der U-Bahn, in der Biblio-
thek, im Restaurant, ja selbst in Klassen-
zimmern richten Schüler ihre Smart-
phones aus. Knapp 400 Millionen schauen
sich diese Übertragungen an. Anfangs wur-
de vor allem gesungen oder gerappt, inzwi-
schen klicken immer mehr Chinesen auf Li-
veschalten von Landwirten, sie wollen wis-
sen, woher ihre Lebensmittel stammen
und wie sie zubereitet werden. Nach Schät-
zungen des führenden Plattformbetrei-
bers Kuaishou bewerben bereits mehr als
eine Million Bauern ihre Produkte per Vi-
deo. Etwa 19 Milliarden Yuan (umgerech-
net 2,4 Milliarden Euro) Umsatz haben sie
im vergangenen Jahr per Livestream ge-
macht.
Bestellt wird im Wesentlichen auf zwei
Kanälen: entweder per Wechat, wie bei
Bauer Dafei, oder über Taobao, der wich-
tigsten Plattform des Onlinehändlers Ali-
baba. 2003 als Ebay-Klon gestartet, gibt es
fast nichts, was man nicht bei Taobao kau-
fen könnte. Vom eingelegten Rettich, über
Hochzeitskleider bis hin zu kompletten Au-
tos.
Bezahlt wird stets mit Alipay, dem On-
line-Bezahlsystem von Alibaba. Statt eines
Bankkontos reicht ein Smartphone. Statt
eines Geschäfts in der Innenstadt genügen
einige Produktfotos und ein paar Zeilen
bei Taobao. Geliefert wird per Kurier. In-
nerhalb weniger Tage. Mehr als 50 Prozent
aller Pakete, die täglich in der Volksrepu-
blik verschickt werden, gehen auf eine Ali-
baba-Website zurück – es sind Millionen
Sendungen jeden Tag. In jeder chinesi-
schen Stadt kann man die Kurierfahrer um-
herkurven sehen, mit ihren verbeulten
Elektrodreirädern.
Angefangen hat alles 2006. Damals er-
öffnete im Dorf Dongfeng in der ostchinesi-
schen Provinz Jiangsu ein erstes Taobao-
Geschäft. Einen Kurierdienst gab es da-
mals noch nicht. Man musste mit dem Mo-
torrad fahren in den nächsten größeren
Ort– 60 Kilometer über bucklige Pisten.
Das Pro-Kopf-Nettoeinkommen betrug et-
wa 2000 Yuan im Jahr. Inzwischen sind
mehr 2000 Online-Shops in Dongfeng re-
gistriert, dazu knapp 400Möbelfabriken
und gleich mehrere Versandfirmen. Das
Durchschnittseinkommen beträgt heute
mehr als 25000 Yuan. Aus Dongfeng ist
ein sogenanntes Taobao-Dorf geworden.
4310 gibt es davon in China. Und das funkti-
oniert so: Ein Dorfbewohner gründet ein
kleines Unternehmen und vertreibt seine
Produkte auf Taobao. Der Bedarf steigt, im-
mer mehr Leute aus dem Ort finden Ar-
beit. Sie bleiben in der Heimat, statt wegzu-
ziehen. Das Handelsministerium in Pe-
king schätzt, dass bereits mehr als 30 Milli-
onen Chinesen auf dem Land von und mit
Taobao leben.
Die Digitalisierung der ländlichen Ge-
biete, E-Commerce als Chance für struk-
turschwache Gebiete – chinesische Unter-
nehmenliegen da weit vorne. Ein Ge-
schäftsmodell, das sich auch in Indien, In-
donesien oder auf dem afrikanischen Kon-
tinent ausbreiten könnte. Ein Milliarden-
Markt, für den Facebook, Google, Apple
und all die anderen Konzerne aus dem Sili-
on Valley bislang nichts zu bieten haben.
christoph giesen
Frank Mastiaux, 55, der Chef von
EnBW, schenkt seinen Mitarbeitern vier
Freistunden für den Klimaschutz. Das
Personal des drittgrößten deutschen
Energieversorgers darf am Freitag also
an den „Friday for Future“-Demonstra-
tionen teilnehmen – im Gegensatz zu
den Angestellten der 30 Dax-Konzerne.
Allerdings müssen die EnBW-Mitarbei-
ter vorher ihre Vorgesetzten fragen. So
viel Ordnung muss sein beim Konzern,
der dem Land Baden-Württemberg so-
wie Landkreisen und Kommunen ge-
hört. EnBW-Chef Mastiaux(FOTO: DPA)ruft
in einem Rundbrief die Aktion „EnBW-
ler für den Klimaschutz“ aus und bietet
seinen Mitarbeitern an, vier Stunden
Arbeitszeit für „eine persönliche Klima-
schutz-Aktion“ zu nutzen. „Fühlen Sie
sich völlig frei, eine
für Sie passende
Aktion zu finden“,
schreibt Mastiaux.
Dass die Aktion
auch dem grünen
Image des Unter-
nehmens dient,
nimmt er billigend
in Kauf. stma
Bertram Kandziora, 63, Chef des Ket-
tensägenkonzerns Stihl, hat seine Umsät-
ze in den ersten acht Monaten des Jahres
wieder deutlicher steigern können. „Das
Plus ist vor allem zurückzuführen auf
eine stärkere Nachfrage nach höher-
preisigen Produkten“, sagte Firmenchef
Kandziora(FOTO: C. KEMPF/OH)in Waiblingen.
Der Umsatz stieg von Januar bis August
gegenüber dem Vorjahreszeitraum um
6,1 Prozent auf 2,8 Milliarden Euro.
Die Nachfrage nach Benzinprodukten
ging den Angaben zufolge leicht zurück.
„Wir lassen bei der Entwicklung von
Benzin-Geräten keinen Millimeter nach
und geben gleichzeitig Gas bei Akku-
Produkten.“ Knapp 80 Prozent der von
Stihl weltweit verkauften Geräte laufen
noch mit Verbrennungsmotor. Der
Verkauf von elektrischen Sägen und
Rasenmähern
wächst allerdings
zweistellig. Ihr An-
teil am Umsatz liegt
inzwischen bei gut
15 Prozent. Elektro-
geräte mit Kabel
spielen nur noch
eine untergeordnete
Rolle. dpa
Johann Jungwirth,genannt JJ, ehemals
Digital-Chef beim Volkswagen-Konzern,
wechselt zum Intel-Konzern. Wie das
FachblattAutomobilwocheberichtet,
wird der Manager(FOTO: OH)bei der Intel-
Tochter Mobileeye in einer leitenden
Funktion arbeiten. Das israelische Unter-
nehmen ist einer der wichtigsten Herstel-
ler von Kameras für Fahrassistenzsyste-
me, arbeitet etwa mit BMW zusammen.
Auch mit Hilfe dieser Bilder und der
dazugehörigen hoch entwickelten Soft-
ware können Autos immer mehr Stre-
cken autonom zurücklegen. Jungwirth
wurde vor einigen Jahren von Apple
abgeworben und hatte eine für VW-Ver-
hältnisse bemerkenswert unkomplizier-
te Art und Aufgabe: Visionen für die
digitale Zukunft. Als Herbert Diess in
Wolfsburg die Macht übernahm, musste
Jungwirth allerdings
seinen Job aufgeben
- man geriet in
Streit über die strate-
gische Ausrichtung.
Womöglich war
Jungwirth auch zu
esoterisch im Ver-
gleich zum Pragmati-
ker Diess. hm
16 HF2 (^) WIRTSCHAFT Mittwoch,18. September 2019, Nr. 216 DEFGH
Richard Baldwin ist Chefredakteur der Webseite „VoxEU.org“. Ökonomie müsse verständlich vermittelt werden, sagt er.
Er hatte dafür einen guten Lehrer: Sein Doktorvater war Nobelpreisträger Paul Krugman. FOTO: KIMMO RÄISÄNEN
Zuhause im Taobao-Dorf
Bis vor Kurzem noch galt in China: Wer etwas im
Leben erreichen möchte, muss in die Städte an
der Küste ziehen. Auf dem Land leben nur die
Armen und die Alten. Millionen Wanderarbeiter
machten sich auf den Weg. Das ändert sich
gerade fundamental – mit dem Internet.
CHINA VALLEY
Mehr als eine Million Bauern
werbeninzwischen für
ihre Produkte per Livestream
An dieser Stelle schreiben jeden Mittwoch Marc
Beise, Karoline Meta Beisel (Brüssel), Christoph
Giesen(Peking), Helmut Martin-Jung (München)
und Jürgen Schmieder (Los Angeles) im Wechsel.
MITTWOCHSPORTRÄT
Geht’s raus
Sägenmit Akku
Von VW zu Intel
PERSONALIEN
Künstliche Intelligenz
wirddas Arbeiten
komplett verändern