Handelsblatt - 12.09.2019

(lily) #1
Ruth Berschens, Till Hoppe
Brüssel

D

ie Christdemokratin
Ursula von der Leyen
hat dem Sozialisten
Pierre Moscovici eine
große Freude gemacht


  • mit der Auswahl seines Nachfolgers.
    „Paolo Gentiloni ist ein guter
    Freund“, twitterte der scheidende
    EU-Wirtschaftskommissar. „Er wird
    die Ideen und Werte der sozialdemo-
    kratischen Familie hochhalten“, ju-
    belte Moscovici.
    Die Begeisterung wird nicht von al-
    len in Brüssel geteilt. Valdis Dom-
    brovskis, für die Euro-Zone zuständi-
    ger Kommissionsvize, lag mit Mosco-
    vici oft über Kreuz, wenn es um den
    Staatshaushalt Frankreichs oder Ita-
    liens ging. Nun bekommt es Dom-
    brovskis wieder mit einem Sozial -
    demokraten zu tun, und der stammt
    auch noch aus dem hochverschulde-
    ten Italien. Der auf Haushaltsdisziplin
    bedachte Dombrovskis muss be-
    fürchten, dass er ein Déjà-vu erlebt –
    nur schlimmer.
    Die alte und die neue Kommission
    haben eines gemeinsam: Konflikte
    sind programmiert. Unter Juncker wa-
    ren es nicht nur die beiden für die
    Euro-Zone zuständigen Kommissions-
    mitglieder, die aneinandergerieten.
    Hoch her ging es auch zwischen dem
    slowakischen Vize Maros Sefcovic und
    dem Spanier Miguel Arias Canete. Die
    beiden für Energiepolitik zuständigen
    Kommissionsmitglieder reden inzwi-
    schen gar nicht mehr miteinander.


So heftig wird es in von der Leyens
Team hoffentlich nicht zugehen.
Doch Sollbruchstellen sind auch hier
erkennbar. Interessenkonflikte zeich-
nen sich sowohl bei der Haushalts-
überwachung in der Euro-Zone als
auch in der Industriepolitik ab: So
kommt die Französin Sylvie Goulard
aus einem großen Land, das europäi-
sche Champions schaffen will. Eine
marktbeherrschende Stellung von
Konzernen darf die Dänin Margrethe
Vestager als oberste EU-Wettbewerbs-
hüterin aber nicht dulden. Beide Da-
men sind dafür zuständig, die Schlag-
kraft Europas auch in der Digitalisie-
rung voranzutreiben. Ob sie das
einvernehmlich schaffen, ist fraglich.

Vize ist oft der Verlierer
Jean-Claude Juncker, so wird in Brüs-
sel gemunkelt, habe seine Kommissa-
re mit voller Absicht gegeneinander in
Stellung gebracht. Das Ziel: die eigene
Position festigen. „Wenn sich zwei ge-
genseitig neutralisieren, entscheidet
am Ende der Chef “, meint ein Diplo-
mat.
Wer glaubt, dass Juncker in Streitfäl-
len eher seinen Stellvertretern half,
der irrt. In den fiskalpolitischen Ausei-
nandersetzungen stand Vize Dom-
brovskis oft als Verlierer da. Juncker
schlug sich meist auf die Seite von
Moscovici. So kam es, dass Italien die-
ses Jahr mit dem Segen der EU-Kom-
mission auf eine expansive Fiskalpoli-
tik umschwenken konnte – obwohl
das Land nach Griechenland den
zweithöchsten Schuldenberg in der
Euro-Zone angehäuft hat. Ein Strafver-

fahren hat die Kommission zwar ange-
droht, aber am Ende nicht eingeleitet.
Dombrovskis muss befürchten,
dass es auch in der neuen Kommissi-
on so weitergehen wird. Die reine
Lehre des Stabilitätspakts wird der
künftige Wirtschaftskommissar Genti-
loni erst recht nicht vertreten, zumal
er als Parteichef der italienischen So-
zialdemokraten anderen Zielen ver-
pflichtet ist. „Da drohen Interessen-
konflikte“, sagt Daniel Gros, Direktor
des Brüsseler Thinktanks Ceps.
Von der neuen Kommissionschefin
hat Dombrovskis womöglich genauso
wenig Hilfe zu erwarten wie zuvor von
Juncker. Von der Leyen hat Gentiloni
im sogenannten „Mission Letter“ ei-
nen klaren Auftrag erteilt: Bei der An-
wendung des Stabilitätspakts solle der
Italiener „die in den Regeln erlaubte
Flexibilität voll nutzen“. Das werde
helfen, „die Fiskalpolitik in der Euro-
Zone wachstumsfreundlicher zu ge-
stalten und die Investitionen anzukur-
beln“. Das klingt so, also ob von der
Leyen die Fiskalpolitik in der EU noch
mehr lockern will. Mit den Zielen des
Stabilitätspakts habe das „nichts mehr
zu tun“, kritisiert Ökonom Gros.
Ebenso wie Dombrovskis wird
auch Vestager in der neuen Kommis-
sion zum mächtigen Klub der drei Vi-
zes mit exekutiven Befugnissen gehö-
ren. Und auch sie wird es mit einer
Gegenspielerin zu tun bekommen.
„Vestager und Goulard werden sich
den einen oder anderen Kampf lie-
fern“, prophezeit der Forschungs -
direktor des European Policy Centre,
Janis Emmanouilidis.

Im Fokus steht die geplante Re-
form des EU-Wettbewerbsrechts.
Deutschland und Frankreich wür-
den gern die Fusionskontrolle lo-
ckern, um die Entstehung europäi-
scher Industriechampions zu er-
leichtern. Frankreichs Präsident
Emmanuel Macron setzt diesbezüg-
lich sicher Hoffnungen in seine Kom-
missarin: Goulard soll seine indus-
triepolitische Strategie in Brüssel
durchsetzen.

Konflikte einkalkuliert
Doch Vestager hält allenfalls maßvol-
le Änderungen an dem bestehenden
Rechtsrahmen für nötig. Es gebe in
der Diskussion auch andere Stimmen
als die aus Paris und Berlin, betont
sie: „Für Mitgliedstaaten mit einer
Mehrzahl von kleineren und mittle-
ren Unternehmen ist die Erhaltung
des Wettbewerbs sehr wichtig.“ Von
der Leyen hat den drohenden Kon-
flikt vermutlich einkalkuliert. Schließ-
lich hatte Bundeswirtschaftsminister
Peter Altmaier die Reform des Wett-
bewerbsrechts angestoßen – und zu
der Zeit saß von der Leyen auch im
Bundeskabinett.
Nun müsse sich zeigen, so Emma-
nouilidis, wie Vestager und Goulard
persönlich miteinander zurechtkom-
men. Als überzeugte Proeuropäerin
könne Goulard sicherlich auch die
kommissionseigene Sichtweise nach-
vollziehen. Denkbar sei, dass sich die
beiden am Ende gegenseitig neutrali-
sierten. „Dann wird es keine tief grei-
fende Reform des Wettbewerbsrechts
geben“, so Emmanouilidis.

EU-Kommission


Vize kontra Kommissar


Ursula von der Leyen hat – ebenso wie ihr Vorgänger – Konflikte in ihrem Kollegium
angelegt: In den Ressorts Wirtschaft und Industrie könnte es ordentlich krachen.

Valdis Dombrovskis (l.)
kontra
Paolo Gentiloni:
Strikte Haushaltsdisziplin oder
weitere Verschuldung?
Zwei gegensätzliche Konzepte.

Margrethe Vestager (l.)
kontra
Sylvie Goulard:
Die Dänin steht für freien Wett -
bewerb, die Französin macht sich
für nationale Champions stark.

Bloomberg (2), action press, AFP [M]


Margrethe
Vestager und
Sylvie
Goulard
werden sich
den einen
oder anderen
Kampf liefern.
Janis Emmanouilidis
European Policy Center

Europa


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(^12) DONNERSTAG, 12. SEPTEMBER 2019, NR. 176

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