SERGEY PONOMAREV / NYT / REDUX / LAIF
Eben das ist es, was eine Verschwö-
rungstheorie gefährlich macht: Sie entkop-
pelt ihre Anhänger von der Realität. Be-
freit vom Eigensinn der Fakten, können
sie glauben und tun, was sie wollen – je
nach den Launen ihres Gefühlshaushalts.
Die Wirklichkeit, flüstert ihnen die
Theorie zu, sei oft nur eine Erfindung der
Gegenseite.
Das Interesse der Wissenschaft am Ver-
schwörungsdenken hat in den vergange-
nen Jahren stark zugenommen. Zahlreiche
Studien gehen etwa der Frage nach, wel-
cher Menschenschlag dafür anfällig ist.
Ausgeprägte Merkmale kamen dabei aber
nur wenige zutage: Eine gewisse Schwäche
im analytischen Denken gehört dazu, auch
ein Hang zu höherem Schwurbel.
Letzteres wies der kanadische Psycho-
loge Gordon Pennycook nach. Er legte sei-
nen Probanden Sätze ohne jeden Sinn vor
(»Wir sind inmitten einer Hochfrequenz-
blüte der Verbundenheit, die uns Zugang
zur Quantensuppe selbst geben wird«).
Und siehe da: Viele Verschwörungsgläubi-
ge finden solche geblähte Rede – Penny-
cook nennt es »pseudoprofunden Bull-
shit« – durchaus bedeutsam.
Der Mainzer Psychologe Roland Imhoff
stieß, nicht unpassend, auf ein deutliches
Bedürfnis nach Einzigartigkeit. »Diese
Menschen finden Theorien attraktiver,
wenn nur eine Minderheit sie vertritt«,
sagt er. »Offenbar ist es ihnen auch wichtig,
sich mit einer Aura von exklusivem Wissen
zu umgeben.«
Imhoff ergründet das Milieu schon län-
ger. Im vergangenen Jahr kam er mit sei-
ner Kollegin Pia Lamberty einer Eigenart
auf die Spur, die so auffällig hervortrat wie
keine andere: »Wer an Verschwörungen
glaubt«, sagt der Forscher, »hängt in aller
Regel auch der Alternativmedizin an.«
Dahinter steckt wohl die
Angst, selbst der eigene Kör-
per sei dem Übergriff finsterer
Mächte ausgeliefert – allen vo-
ran der Pharmaindustrie. Aus
früheren Studien weiß Imhoff,
dass sie »als besonders mäch-
tig wahrgenommen wird«.
Die Leute trauen den Kon-
zernen eine sagenhafte Ma -
nipulationsmacht zu. »Big
Pharma« halte die Menschen
gezielt krank, sagen sie, um
ihnen lebenslang teure Pillen andrehen zu
können. Diese Überzeugung kann sich
politisch in alle Richtungen radikalisieren:
Es fängt etwa an mit halbwegs rationaler
Skepsis gegenüber dem Impfen, dann regt
sich ein Widerwille gegen staatliches »Be-
vormunden« aller Art – und am Ende
steht das Vollbild Verschwörungsangst:
Die »Elite«, die Juden oder das »satani-
sche System« wollen uns krank machen.
Die Berliner Aktivistin Giulia Silberber-
ger beobachtet, wie sich die Szene gerade
verändert; ihre kleine Organisation »Der
goldene Aluhut« zeichnet jedes Jahr be-
sonders verhageltes Verschwörungsden-
ken aus. Zurzeit sei die »germanische Heil-
kunde« groß im Kommen, sagt sie.
Diese Lehre geht auf den vor zwei Jah-
ren verstorbenen Arzt Ryke Geerd Hamer
zurück. Hamer lehnte den Einsatz von
Chemotherapien gegen den Krebs ab. Da
würden den Patienten heim-
lich Chips mit Giftkammern
eingepflanzt, behauptete er –
ein Komplott zionistischer
Onkologen.
Hamers wirre Heilkunde
war früher kein großes Thema
im Netz. »Aber heute haben
diese Leute eine geschlossene
Gruppe bei Facebook mit
über 10 000 Mitgliedern«, sagt
Silberberger. Einige Heilkund-
ler traf sie auch schon in den
Onlineselbsthilfegruppen von Kranken
beim Missionseinsatz.
Dass das Milieu sich zunehmend politi-
siert, ist für die Aktivistin unverkennbar.
Das Impfen zum Beispiel steht inzwischen
im Verdacht, es solle die Menschen in le-
bende Antennen verwandeln, die sich je-
derzeit orten lassen: »Angeblich werden
uns dafür winzige Nanokapseln mit Funk-
chips unter die Haut gespritzt.«
Die harte Rechte findet in diesen
Kreisen ein interessiertes Publikum. »Es
DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019 103
* Theorie:Einwanderer werden gezielt ins Land geholt, sie
sollen die angestammte Bevölkerung nach und nach ersetzen.
Unser Volk soll
ausgetauscht werden!*
75 %
der Menschen, die
an Verschwörungs-
theorien glauben,
misstrauen
der Demokratie.
Quelle: Mitte-Studie,
Friedrich-Ebert-Stiftung,
Befragung von September 2018
bis Februar 2019