ein Passant lebensgefährlich verletzt wurde,
und die chaotischen Zustände in der Stadt.
Auch in Paris, wo sie seit einem Jahr erlaubt
sind, haben sie sich zur Plage entwickelt.
Bürgermeisterin Anne Hidalgo hat ihren
Gebrauch radikal eingeschränkt.
In der spanischen Hauptstadt Madrid
gibt es an Touristenmagneten kaum mehr
ein Durchkommen, vor lauter geparkten
oder wegrollenden E-Scootern. 100 000
davon sollen im ganzen Land unterwegs
sein. Voriges Jahr haben sie in 44 Orten
203 Fußgänger umgefahren, waren in
273 Verkehrsunfälle verwickelt, fünf Men-
schen kamen ums Leben.
An einer Straßenkreuzung im schwedi-
schen Helsingborg steht Albin Hermans-
son und deutet auf ein zerknittertes Foto,
das an einer Ampel klebt: »Das ist er, das
ist Jonathan.«
Vor rund drei Monaten wurde Albins
Bruder, 26 Jahre alt, an dieser Kreuzung
von einem Auto erfasst. Es war gegen zehn
Uhr abends, wenig später war Jonathan
tot. Er war auf einem E-Scooter der schwe-
dischen Marke Voi unterwegs gewesen,
ohne Helm. Jonathan Hermansson wurde
zum Symbol, er war der erste Scooter-Tote
Europas. Helsingborg tauchte in Artikeln
über die Gefahren neuer Mobilität auf,
neben London und Paris.
Albin Hermansson spricht leise, Ant-
worten beginnt er manchmal mit einem
Seufzen. Sein Vater hat ihn zum Sprecher
der Familie erkoren. »Ich bin der Einzige,
der im Moment dazu fähig ist«, sagt Her-
mansson. Der Tod ihres ältesten Sohnes
habe die Eltern »gebrochen«. Die Familie
hat es sich zur Mission gemacht, vor
E-Scootern zu warnen. Sie fordert härtere
Gesetze und Regulierungen, etwa Helm-
pflicht und Geschwindigkeitsbegrenzun-
gen, vor allem jedoch bessere Bremsen.
»Wenn Voi richtig arbeiten würde«, sagt Al -
bin, »wäre mein Bruder noch am Leben.«
Die Polizei schloss die Ermittlungen
ohne Ergebnis ab, die Schuldfrage konnte
mangels Zeugen nicht abschließend geklärt
werden. Aber es gibt eine Theorie: Zur Un-
fallkreuzung führt eine abschüssige Straße,
ein Scooter kann darauf problemlos 30 km/h
erreichen. Selbst wenn Jonathan eine rote
Ampel gesehen hätte – die Voi-Bremsen
hätten ihn wohl nicht rechtzeitig zum
Stehen gebracht. Das Unternehmen wider-
spricht dieser Darstellung, man nehme
Sicherheit sehr ernst und führe an den Rol-
lern täglich strenge Qualitätskontrollen
durch. Nur eine von 15 353 Fahrten, hat
Voi errechnet, ende in einem Unfall.
In Helsingborg operiert der Anbieter
mit älteren Modellen als in Deutschland,
viele von ihnen sind in einem beklagens-
werten Zustand. Es gibt Scooter, deren
Gasknopf klemmt, sodass sie von sich aus
beschleunigen, bei anderen steckt der
Bremsknopf fest.
Nach Jonathan Hermanssons Tod for-
derten schwedische Amtsträger ein Verbot
von E-Scootern, die Polizei warnte, Voi
versprach mehr Sicherheit. Einige Wochen
später kamen neue Roller in die Stadt. Das
Modell war unverändert.
Etwa eine Woche nach dem Unfall
schrieb Albin Hermansson eine E-Mail an
Voi. Man sammle Spenden für eine Trauer -
feier, vielleicht habe das Unternehmen
Lust, sich zu beteiligen. Eine Sprecherin
antwortete mit Beileidswünschen und dem
Versprechen, sich bald wieder bei der Fa-
milie zu melden.
Ein einziges Mal noch lasen die Her-
manssons von dem Unternehmen: auf dem
Kontoauszug von Jonathans Kreditkarte.
34 schwedische Kronen, rund 3,17 Euro,
wurden dort abgebucht, am Tag nach
Jonathans Tod.
Deutschland ist von Todesfällen bislang
verschont geblieben. Was die E-Scooter
alles angerichtet haben, wird erst noch er-
fasst. Die Bundesregierung finanziert mit
einer Million Euro eine Studie zweier
Gruppen von Wissenschaftlern, in Dres-
den und Hannover. Unfallforscher und Me-
diziner sollen gemeinsam erheben, welche
Verletzungen durch die Roller auftreten,
wie sie entstehen – und wie sie gegebe-
nenfalls zu verhindern sind.
Was es bereits gibt, sind erste Signale
aus den Notaufnahmen. Man könnte auch
sagen: Hilfeschreie.
Christian Kühne, Chefarzt am Chirur-
gisch-Traumatologischen Zentrum der
Hamburger Asklepios Klinik St. Georg,
ruft auf dem Computer ein Röntgenbild
auf. Es zeigt den Ellbogen eines Mannes,
der im Juli bei ihm eingeliefert wurde. Die
Elle gebrochen, die Bänder kaputt, das Ge-
lenk muss aufwendig rekonstruiert werden,
mit Schrauben und einer Metallplatte.
Seit Juni wurden bei ihm 30 Patienten
eingeliefert, die einen Unfall erlitten hat-
ten, in den ein E-Scooter verwickelt war.
Mit Knochenbrüchen, Prellungen oder
Schädel-Hirn-Trauma. Sechs von ihnen
mussten operiert werden. Drei waren nicht
mit anderen Verkehrsteilnehmern kolli-
diert, sondern einfach ausgerutscht. Kühne
sagt, er höre er von Patienten häufig Sätze
wie: »Ich hätte nie gedacht, dass die Din-
ger so schwer zu lenken sind.«
Die Asklepios-Kliniken sind dabei, ein
Register aufzubauen. Dazu sollen die E-
Scooter-Patienten einen Fragebogen aus-
DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019 63
DOMINIK ASBACH / DER SPIEGEL
TÜV-Prüfer Peuker
Neue Teststrecke in China
JULIEN MATTIA / LE PICTORIUM / STUDIO X
E-Scooter auf einem Brunnen in Paris: Nicht mehr als ein Touristenjux?