»Die Menschen, die ich auf den E-Scoo-
tern sehe, haben ganz offensichtlich Spaß
daran«, sagt Lenz. Mehr als Spaß hätten
die Gefährte allerdings nicht zu bieten. Da-
bei waren sie von Verkehrsplanern jahre-
lang als das Fortbewegungsmittel für die
sogenannte letzte Meile propagiert wor-
den: den Weg zwischen Haustür und Bus-
haltestelle oder S-Bahn-Station.
Der E-Roller soll Leute motivieren, auf
öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen.
Deshalb darf er, anders als das Fahrrad,
zu Stoßzeiten in Bahnen mitgenommen
werden. Doch die sind im Berufsverkehr
rappelvoll, Roller würden nur stören.
Dass die Mikromobilität massenweise
Pendler aus ihren Autos locken könnte,
hält Lenz für einen gleichermaßen from-
men wie unerfüllbaren Wunsch. »Die Elek-
troroller stehen in den Innenstädten. Da
haben wir bereits einen relativ gut funk-
tionierenden öffentlichen Personennahver-
kehr mit vielen Haltestellen, und die Fahr-
radwege sind gar nicht mal so schlecht.«
Besser wäre es, wenn die Roller in den Au-
ßenbezirken aufgestellt würden, so Lenz.
Nur rentiere sich das für die Verleiher ver-
mutlich nicht, mangels Masse.
Das Verkehrsexperiment könnte schei-
tern. In den USA mag das anders sein, wo
es selbst in Metropolen nicht flächende-
ckend Busse und Bahnen gibt. In Deutsch-
land aber dürften E-Scooter ein Spielzeug
bleiben, sagt Lenz. Dass sie künftig auch
auf Busspuren fahren sollen, hält sie für ei-
nen Fehler. Busfahrer seien mit Lieferwagen,
Radlern und Autos schon genug geplagt.
Mikromobilität, das Zusammenspiel
von Kleinstfahrzeugen, ist eine Frage der
Organisation. Und daran mangelt es in
Deutschland gerade. Der E-Scooter macht
das Elend der Verkehrspolitik sichtbar: Es
gibt keine Strategie, noch nicht mal eine
Vision. Es spricht wenig dafür, dass eine
Verkehrswende politisch gewollt ist.
Trifft man hingegen Horace Dediu, hört
sich das alles anders an. Dediu ist Experte
für Mikromobilität – und ein Enthusiast.
Der Tech-Analyst stammt aus Rumänien
und lebt abwechselnd in Boston, San Fran-
cisco und Helsinki. Dediu bezeichnet E-
Scooter als »iPhone der Mobilität«, um
ihr disruptives Potenzial anzudeuten.
Die Ankunft der Elektroroller in Europa
in diesem Sommer hat er mit Vergnügen,
aber auch mit Geduld verfolgt. Helsinki, sagt
Dediu, sei noch auf dem Gipfel der Euphorie,
Städte wie Paris schon im Tal und Berlin ir-
gendwo dazwischen. Er beschwichtigt: »Die
E-Scooter sind doch gerade erst angekom-
men. Wir überschätzen gern die kurzfristige
Wirkung von Technologien und unterschät-
zen zugleich ihr langfristiges Potenzial.« E-
Scooter seien heute »das schlimmste Trans-
portmittel der Welt«, was die Sicherheit an-
gehe. Er selbst nutze sie nicht, »zu riskant«.
Zu beunruhigen scheint ihn das nicht. »Die
ersten Autos waren auch gefährlich, eben-
falls die ersten Züge und Flugzeuge.«
Dediu erwartet, dass die Räder der Elek-
troroller bald größer werden, dass ein drit-
tes oder gar ein viertes Rad dazukommt,
dass der Lenker massiver wird, dass den
Dingern Sättel wachsen. »Irgendwann wer-
den sie Fahrrädern zum Verwechseln ähn-
lich sein.« Aber warum dann nicht gleich
zum Rad greifen?
Das Fahrrad ist ein ausgereiftes Produkt
mit 200 Jahren Geschichte, und es hat in
den vergangenen zwei Jahrzehnten einen
enormen Fortschritt erlebt: Fahrräder ver-
fügen heute über erstklassige Lichtanlagen,
hydraulische Scheibenbremsen, die ersten
Exemplare sogar schon über ein Antiblo-
ckiersystem.
Bei den Versuchen der BASt diente ein
Fahrrad als Referenzfahrzeug. Es setzte
unübertroffen die Sicherheitsstandards:
Keines der getesteten E-Kleinstfahrzeuge
erreichte bei der Vollbremsung einen an-
nähernd guten Anhalteweg. Einige brems-
ten nicht einmal halb so gut.
Das Einzige, was den Fahrradfahrern
fehlt, ist Platz im Straßenraum. Nun kom-
men noch E-Roller hinzu. Burkhard Stork,
Bundesgeschäftsführer des Allgemeinen
Deutschen Fahrrad-Clubs sieht hier »ein
Riesenproblem«. Er fordert »nicht immer
neue Fahrspielzeuge, sondern breite, at-
traktive Radwege«. Denn auch das gehört
zur Wahrheit: 2018 verunglückten in
Deutschland 445 Radfahrer tödlich, so vie-
le wie seit zehn Jahren nicht mehr.
Wie eine Verkehrspolitik aussieht, die
Radfahrer ernst nimmt, zeigen Kopen -
hagen und Amsterdam, wo die Radwege
schon so breit sind, dass Rad und E-Scoo-
ter einander nicht in die Quere kommen.
Und die niederländische Stadt Utrecht, die
in der vergangenen Woche ein Parkhaus
für Fahrräder errichtet hat, das größte der
Welt, 12 500 von ihnen haben dort Platz,
mitten in der Stadt.
Zumindest eines muss man den E-Scoo-
tern hoch anrechnen: Sie haben wie we -
nige Fahrzeuge vor ihnen das Elend der
deutschen Verkehrspolitik offenbart. Ihren
Unwillen zur Reform. Ihre Weigerung, den
Verkehr als Ganzes zu denken.
Simon Hage, Alexander Kühn, Guido
Mingels, Emil Nefzger, Anton Rainer, Gerald
Traufetter, Christian Wüst, Helene Zuber
Mail: [email protected]
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