Der Tagesspiegel - 07.09.2019

(John Hannent) #1

Es sind schaurige Stätten, die Sowjets
nach ihrem Abzug der Streitkräfte in
Deutschland hinterlassen haben. In Rui-
nen künden riesige Wandgemälde von
Heldentaten des „Großen Vaterländi-
schen Krieges“. So bezeichnete man in
Russland den Kampf der Sowjetunion ge-
gen Hitlerdeutschland 1941–1945. Die
Sowjets sind weg, Einbauten wie Sanitär-
installationen häufig auch. Geblieben
sind Relikte einer untergegangen Welt.
Zahlreiche Orte auf dem Gebiet der
ehemaligen DDR erinnern noch heute an
die Zeit der sowjetischen Besatzung. Ste-
fan Büttner, Martin Kaule und Arno
Specht haben einige dieser Orte besucht
und ihre Beobachtungen für ihr soeben
im Jaron Verlag (Berlin) erschienenes
Buch zusammengetragen – pünktlich
zum Jubiläum. Am 31. August 1994 war
der Abzug der Westgruppe der vormals
sowjetischen Truppen (WGT) vollzogen.
Daswarvor 25 Jahren: Rund 340000 An-
gehörigeder WGT verließen mitihren Fa-
milien und ihrer gesamten Ausrüstung
das Gebiet der ehemaligen DDR. Zurück
blieben Geisterstätten: Kasernen, Trup-
penübungsplätze, Flugplätze und sons-


tige Einrichtungen waren plötzlich ohne
Funktion. Einige Hinterlassenschaften
wurden unterdessen einer zivilen Nut-
zungzugeführt, wiezum Beispieldas ehe-
malige Heeresbekleidungsamt Bernau
aus den Zeiten des Nationalsozialismus.
Hier befand sich nach dem Kriegsende
ein Nachschub- und Versorgungsdepot
der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte
in Deutschland (GSSD). Die Nordland
GmbH aus Hannover baut nun Wohnun-
genein. Dochum derartige Transformati-
onsprozesse geht es in dem neuen Buch
nicht.
DieAutorengingendenSpurenderehe-
maligenBesatzernachundführendenLe-
ser unter anderem zum Hauptquartier in
Wünsdorf, dem Kernwaffenlager in Gro-
ßenhain und dem riesigen Truppen-
übungsplatz bei Magdeburg. Entstanden
ist ein reich bebildertes Geschichtsbuch
über 14 ehemalige Militärstandorte. Es
sind Erinnerungen an eine keineswegs
gute alte Zeit. Reinhart Bünger


— Stefan Büttner,
Martin Kaule, Arno
Specht:Geisterstät-
ten der Sowjets. Ver-
gessene Orte im Os-
ten Deutschlands.Ja-
ron Verlag 2019 Bro-
schur, 96 Seiten, 80 far-
bige Fotos, Format:
16,5x24 cm, 12,95 Euro

G


iarre – eine Kleinstadt am Fuße
des Ätna auf Sizilien mit rund
28000 Einwohnern. Hier gibt es
ein Theater, ein Schwimmbad, einen
Sportplatz, einen Park, einen Marktplatz,
ein Multi-Funktionszentrum. Alles ange-
fangen, nichts zu Ende gebaut. Seit mehr
als zehn Jahren beschäftigen sich die Mit-
glieder der Künstlergruppe Alterazioni
Video mit nicht fertig gestellten öffentli-
chen Gebäuden in Italien. Giarre ernann-
ten sie zur Hauptstadt des Unvollendeten


  • nirgendwo anders fanden sie bezogen
    auf die Größe der Stadt so viele moderne
    Ruinen. Insgesamt ist die Künstler-
    gruppe auf rund 750 Bauruinen in Italien
    gestoßen, die vor allem in den 70er und
    80er Jahren im Auftrag des Staates, der
    Regionen, der Provinzen oder der Ge-
    meinden entstanden. Schwimmbäder,
    Parkhäuser, Brücken, Sportzentren,
    Bahnstationen, Krankenhäuser.
    Das Italienische Kulturinstitut in Ham-
    burgpräsentiert jetzterstmals in Deutsch-
    landin einerAusstellung rund 20großfor-
    matige Fotoaufnahmen sowie ein Video
    von Alterazioni Video unter dem Titel
    „Incompiuto“, zu Deutsch: Unvollendet.
    Da ist mitten in einer grünen Land-
    schaft ein grauer Betonklotz zu sehen, in
    der Mitte ein Loch, das für die Tür vorge-
    sehen war. Der massige Bau erinnert an
    einen Hochbunker, das schräge Dach
    könnteauch auf einemoderne Kirche hin-
    deuten, die hier mal geplant war. Wer nä-
    her an das Bild herantritt, liest in kleiner
    Schrift „Planetarium, Lucca“. Im Begleit-
    band zur Ausstellung gibt es einige wei-


tere Informationen zu dem Bauwerk in
der Toskana: Baubeginn 2005, Größe fast
6000 Kubikmeter, Kosten 1,5 Millionen
Euro. Die Künstler haben eine Skala von
Eins bis Zehn entwickelt, um zu kenn-
zeichnen, wie weit der Bau fortgeschrit-
ten war. In Lucca – Stufe Drei – war das
Planetarium danach noch im Anfangssta-
dium.
In San Giovani Gemini auf Sizilien ste-
hen zwei Dutzend Pfeiler in einer grünen
Landschaft, aus denen Eisenstangen in
den Himmel ragen. Sie sollten als Stützen
für den Bau eines Altersheimes dienen –
dasnie gebaut wurde. Aus demBetonfun-
dament haben sich Grasbüschel den Weg
gebahnt. In Penne in der Region Pescara
habendie Künstler diehohen Außenmau-
ern eines geplanten Gebäudes abgelich-
tet. Im Inneren wurde mit den Arbeiten
noch nicht angefangen, hier wächst Gras.
Eigentlich sollte an diesem Ort 1985 ein
Gefängnis entstehen – ob nach den be-
reits investierten 1,4 Millionen Euro das
Geld dafür ausgegangen oder die Zahl

der Straftäter plötzlich rapide zurückge-
gangen ist, bleibt offen. Im Hafen von La-
mezia Terme in Kalabrien ragt eine 700
Meter lange Seebrücke ins Meer hinein –
die man aber nicht betreten kann, weil es
keinen Aufgang zur Brücke gibt und zwi-
schendurch auch Brückenteile fehlen. Sie
wurde 1971 erbaut, als Landungsbrücke
fürein Chemiewerk,dessen Baugar nicht
erst begonnen wurde.
In Neapel haben die Künstler eine Brü-
cke abgelichtet, die 1985 eigentlich zwei
Straßen in einem Wohnviertel miteinan-
der verbinden sollte. Dazu kam es nicht –
Probleme bei der Enteignung der Grund-
stückseigentümer führten zu einem Bau-
stopp und dazu, dass die Brücke ohne
Straßenanschluss blieb.Meistbleibendie
Hintergründe für die Nichtvollendung
auch nach der Lektüre des Katalogs im
Dunkeln.

Die Fotos sind fast immer menschen-
leer, der Blick wird auf die nutzlos errich-
teten Bauwerke gerichtet,die sichdie Na-
tur langsam zurückerobert. Man kann die
Bilder aus verschiedenen Blickwinkeln
betrachten. Als Anklage gegen die Ver-
schwendung von Steuergeldern und die
sinnlose Vergeudung von Arbeitskraft –
für die 700 dokumentierten Ruinen wur-
den fast 7,4 Milliarden Euro ausgegeben,
zusammen wurde an ihnen 98 Jahre gear-
beitet. Als Kritik an der Verschandelung
von schönen Landschaften – rund 2200
Hektar wurden dafür verbaut. Als Bre-
chen eines Tabus – über Jahrzehnte hatte
sich niemand um diese Bauten geküm-
mert. Auffällig ist ihre Häufung im wirt-
schaftlich schwächeren Süditalien. So
müssen diese Bauwerke auch als Mahn-
male des Wirkens der sizilianischen Ma-
fia und kalabrischen 'Ndrangheta, deren
wichtigste Standbeine in der Baustoffin-
dustrie zu finden sind.
Die Künstler sprechen von einem eige-
nen italienischen Baustil und erkennen
die Ruinen als „künstlerisch-kulturelles
Erbe an“, das ebenso wertvoll wie andere
historische Sehenswürdigkeiten sei. Da-
hinter steckt nicht nur Ironie: In Giarre
organisierte die Künstlergruppe im halb-
fertigen Polo-Stadion mit den viel zu stei-
len Zuschauertribünen ein umjubeltes
Turnier mit Reitern auf Steckenpferden.
Die Bewohner kamen in schicker Abend-
garderobe und staunten über ein Bau-
werk, das sie vorher nie betreten hatten.
Das Ziel: Den Menschen die Hoheit über
den öffentlichen Raum zurückgeben, der
seit langem verwaist ist.
Salvatore Settis spricht nicht nur we-
gen der vielen nicht vollendeten öffentli-
chen Bauwerke von einem eigenen italie-
nischen Baustil. Der Archäologe und
Kunsthistoriker sieht in seiner Heimatre-
gion Kalabrien eine Vielzahl von Privat-
häusern, die innen mit Marmor ausgelegt
sind, deren Fassade aber nicht verkleidet
wurde, so dasssie vonaußen wieRohbau-
ten wirken. „Ging es darum Geld zu spa-
ren? Oder wurde entschieden, dass die
Verkleidung überflüssig ist und dass es
nicht wirklich etwas ausmacht, wenn et-
was vergessen wird“, fragt Settis im Be-

gleitband und fügt hinzu: „Liegt es ein-
fach an unserer Unfähigkeit, etwas zu
Ende zu bringen? Ist unser Wunsch, sie
so zu lassen wie sie sind, ein positiver
Ausdruck für eine neue Form von Kreati-
vität? Oder ist es eher ein Ausdruck von
Faulheit und fehlender Voraussicht?“
Gelegentlich dürfte schlicht Schlampe-
rei die Ursache für die „Unvollende-
ten“ sein – manche Prozesse über Re-
gressansprüche gegen Baufirmen ziehen
sich so lange hin, bis es sie gar nicht mehr
gibt. Allerorten stehen im Süden schad-
hafte Hangbefestigungen, sind mit teu-
ren EU-Geldern errichtete Recycling-
plätze zu finden, vor denen ausgediente
„Weiße Ware“ steht, weil die Anlagen ab-
geschlossen sind und das Personal nicht
zur Arbeit erscheint: Die Löhne landen –
kaum nachvollziehbar – in irgendwel-
chen Privatkassen.
Ineiner Art Tagebuch haben dieKünst-
ler von Alterazioni Video ihre Erlebnisse
beschrieben, die sie beim Besuch derRui-
nen hatten. In Accadia in Apulien treffen
sie den Bürgermeister, der sie durch ein

unvollendetes Gefängnis führt. Er ver-
traut ihnen an, dass er hier künftig die
Disco SingSingerrichtenwill. DieKünst-
ler umarmen ihn. „Es ist das erste Mal,
dass ein lokaler Verantwortlicher vor uns
steht, dessen Blick über die allgemeine
Entrüstung und Scham hinausgeht.“
Nicht in Selbstmitleid über planerische
Unfähigkeit und fehlendes Geld für die
Vollendung öffentlicher Bauwerkeversin-
ken, sondern sich etwas Neues ausden-
ken – eine Haltung, die die Künstler mit
ihrem ungewöhnlichen Projekt beför-
dern möchten. Dass sie dabei nach der
langen Zeit des Verschweigens zuneh-
mend Gehör finden – „Incompiuto“ war
Teil der Kunstausstellung Manifesta 12
in Palermo, das Transportministerium
hat mittlerweile ein eigenes Verzeichnis
der unfertigen öffentlichen Bauten ins
Netz gestellt – ist ermutigend.
Mitarbeit: Reinhart Bünger

— Zu sehen bis zum 20. September im Ita-
lienischen Kulturinstitut Hamburg, Han-
sastr. 6, mo-fr 9-13 sowie mo-do 14-16 Uhr.

Der Bau der Talbrücke zwischen Mussomeli und Caltanissettaauf Sizilien wurde 1989 begonnen und gleich im Anfangsstadium aufgegeben. Warum nur? Foto: Alterazioni Video

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Geisterstätten


der


Sowjets


In Neapel führt diese Straße seit 1985 über ein kleines Tal ins Nichts.Zum Baustopp
kam es im Zuge der gescheiterten Enteignung der betroffenen Grundstückseigentümer.
Foto: Alterazioni video_CAM059_Viadotto San Giacomo dei Capri_Vomero_Napoli

Die Unvollendeten


Moderne Ruinen aus


den letzten 50 Jahren –


eine Ausstellung zeigt


nicht zu Ende gebaute


öffentliche Gebäude


aus Italien


EFBUCHTIPP


In diesem Bunker bei Ribnitz-Damgarten
konnten Atombomben gelagert werden. Mit
Sicherheit? Foto: Jaron Verlag, Berlin / Martin Kaule


Von Joachim Göres

250 unfertige Bauten


stehen allein in Sizilien


ARCHÄOLOGISCHE FUNDSTÜCKE AUS DER GEGENWARTRelikte und Ruinen


Foto: Jaron Verlag

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