Samstag, 7. September 2019 FEUILLETON 41
Flugstunde der Tomaten am Schauspielhaus
Die neuen Intendanten eröffnen ihre erste Zürcher Theatersaison mit einer Palastrevolution im Foyer und einem Feuerwerk
DANIELE MUSCIONICO
Was zurzeit in Zürichs heiligsterVorhalle
vor sich geht, ist ausserordentlich. Denn
es wird zureden geben.Laut zureden,
gehässig zu geifern,Kopfschütteln und
Schulterzucken, man sieht eskommen.
Und wer weiss:Vielleicht fliegen in Zu-
kunft im neuenFoyer des Schauspielhau-
ses sogarTomaten.Mit saftigen Protesten
jedenfalls ist zurechnen.
DieFlugstunde derTomaten wird am
Donnerstagabend erwartet. In fünfTa-
gen nämlich eröffnen Nicolas Stemann,
Benjamin von Blomberg und ihrTeam
am Pfauen die erste Spielzeit. Und wer
dannimFoyersteht, sich nicht mehr
willkommen fühlt und dieAugen reibt –
wo ist diekeusch-kuscheligerote Tapete,
mit der AnnaViebrock den Zuschauer-
raum in den Eingang vorverlegte, wo
bleibt der Spannteppich? –, befindet sich
wahrscheinlich in guter Gesellschaft. In
der Gesellschaft der vielen nämlich. Der
vielen Mäkler.
Wäre diese Zeitung derVerbraucher-
schutz, sie müsste hier warnen: Liebes
Publikum, liebe vertrauensvolle Abon-
nentinnen, liebe verlässlicheFreunde
derKunst, bitte seien Sie gewappnet.
Halten Sie IhremTheater dieTreue,
auch wenn Sie es diese Spielzeit nicht
wiederzuerkennen glauben.
DasTram fährtdurchsTheater
In derVerschwiegenheit der Sommer-
pause nämlich fand imFoyer des Pfauen
einePalastrevolution statt. DerRaum-
künstler Alexander Giesche, eines der
acht Mitglieder aus dem neuen künst-
lerischenTeam, und die Bühnenbildne-
rin NadiaFistarol haben dem Eingangs-
bereich eineVerjüngungskur verpasst.
Alles muss raus, schien die Devise, Raus-
verkauf! Und auch dasTheater selber
scheint durchraumgestalterische Kniffs
- Spiegelflächen, Flügeltüren aus Glas –
seinen Standortgewechselt zu haben.Es
stehtnun nicht mehr ander Rämistrasse.
Jetzt befindet es sich sozusagen auf der
Strasse, draussen, mitten im Stadtleben.
Durch die riesige Spiegelfläche der
Rückwandrollt der Stadtverkehr.
Das Stadttheater will einTheater in
der Stadt sein.Wenn imFoyer abends
das neue LED-Deckenlichtangeht, so
verspricht Giesche, soll dieKunst alsWi-
derschein bis auf die Strasse strahlen:bald
pulsierend, dann flackernd,getragen, ge-
hetzt – jeden Abend in einer anderen
Lichtstimmung. Selbst dieTheaterpausen
können in Zukunft lichttechnisch insze-
nier t werden.Das neue Schauspielhaus
will atmosphärisch einTechno-Schuppen
sein genauso wie ein Musentempel, wenn
einmal Goethe hier absteigt.
Ja, der neue Empfangsbereich der
Kunst ist eine helle, transparente, eine
öffentlich einladende und gastliche
Sache geworden.Das muss man sa-
ge n. Glückwunsch! Doch vorbei ist’s
mit dem Altbekannten. Mit der Gemüt-
lichkeit gefederter Schritte auf schall-
dämmendem Hochflor, und aus ist es
mit dem Schwelgen imrotgoldenen
Boudoir.Wer hier eintritt, landet hart.
(Abgesehen von den Sitzgelegenheiten,
die sich in erfreulicher Zahl vermehrt
haben.Auch kleineTischchen, aufRol-
len, haben bald Premiere.) Ab die-
ser SpielzeitregierenStahl, Beton und
offenliegende – vom neuen Art-Direc-
tor Laurenz Brunner kreierte – neon-
gelb gestrichene Kabelkanäle.
Genau das ist der Punkt:Das neue
Schauspielhaus will die neue Offenheit
und Offenlegung. DieVerjüngungskur
des Raums soll auch eineWahrheitskur
desRaums sein. Befreit von der mehr
oder weniger kunstvollenTünche aus der
Zeit derVorgänger und derVorgängerin,
steht durch die Interventionen ein neu-
geborener, auf seine Substanzreduzier-
ter Raum da.Aus einem Ort der Illusion
soll einRaum der Desillusionierung wer-
den. Alles nurTheater, Spiel mitRollen,
Spiel mit Möglichkeiten,sagen dieWände
denMenschen, die sich hier versammeln.
Die baulichen Massnahmen sind
nichts anderes als ein Bild für die Ab-
sicht der neuen Intendanten. Sie sind
deren erste künstlerische Setzung. Ste-
manns und von Blombergs Theater hat
dieAbsicht,Möglichkeitsräume zu schaf-
fen und in der Ästhetik des 21.Jahrhun-
derts Menschen von heute zu erreichen.
Manche mögensich neu eingeladen füh-
len, andere nicht mehr willkommen, das
ist wohl wahr und nicht zu ändern.
Umbauaussenundinnen
Wir werden natürlich nicht alle Geheim-
nisselüften, die im neuenFoyer zu ent-
decken sein werden.Ihnen auf die Spur zu
kommen, soll der halbe Spass einesThea-
terabends sein. Doch auf zwei, drei Dinge
ist desVerständnisses halber derFinger zu
legen. GetreueTheatergänger, wer findet
zuerst die kleinen, wunderhübschen Glo-
cken an denWändenrechtsund links der
Garderobe?Sie sind Teil des historischen
Klingelsystems, um denVorstellungs-
beginn und dasPausenende anzukündi-
gen. JüngerenDatums hingegen ist die
Schrift,die man beimAusgang desFoyers
über der neuen,raumgreifenden und men-
schenfreundlichen Flügeltüre liest. Unter
altenFarbschichten fand sich, tatsächlich,
eine prähistorische Inschrift. Sie stammt
aus der Zeit von ChristophMarthaler und
lautet: «Bitte verlassen Sie dasTheaterso,
wie sie es anzutreffen wünschen.»
Man weiss natürlich nicht, was genau
damit gemeint war. Ob Marthaler den
Kunstort mit einem stillen Örtchen ver-
glich,so wie MarcelDuchamp, der ein Uri-
nal ins Museum hängte? Still wird es am
stillen ÖrtchenTheater in Zürich aller-
dings kaum.Wer wie Stemann und von
Blomberg einen derart lautenAuftakt
kann,hält imÄrmelweitere Knaller bereit.
Eröffnungsfestival 11. bis 15.September.
Eine kleine Archäologie im Theater: Über demAusgang wurde ein Spruch aus der Zeit von Christoph Marthalers Intendanz hervorgeholt. KARIN HOFER / NZZ
LUCERNE FESTIVAL
Sicherheitskontrollen wie am Flughafen
Mit dem Besuch des Israel Philharmonic Orchestra sind besondere Vorkehrungen verbunden. Dennoch leuchten m usikal ische Sternstunden auf
THOMAS SCHACHER
«Macht» heisst bekanntlich das Motto
des diesjährigen Sommerfestivals in
Luzern.Dass die Leitidee bisweilen
auch in Zusammenhängen aufscheint,
die von derFestivalleitung nicht geplant
waren, zeigte sich beim Gastspiel des
Is rael Philharmonic Orchestra. Musik
im Dienste der staatlichen Macht – so
könnte man das Ereignis vom letzten
Montag zusammenfassen.
Das Konzert wurde nämlich vom
israelischenAussenminister Israel Katz
und von Bundesrat Ignazio Cassis be-
su cht. Und zwar im Anschluss an ein
Treffen der beiden Minister und ihrer
Del egationen, bei dem der 70.Jahres-
tag derAufnahme diplomatischer Be-
ziehungen zwischen den beidenLän-
dern gefeiert wurde. Willkommener An-
lass für den Konzertbesuch war die Ab-
schiedstournee von Zubin Mehta, der
seit 1977 Chefdirigent des Israel Philhar-
monic ist und dieses Amt EndeJahr nie-
derlegt. Dem Risikocharakter des An-
lasses entsprechend mussten dieKon-
zertbesucher im KKL rigorose Sicher-
heitskontrollen wie auf Flughäfen über
sich ergehen lassen.
Heikle Augenblicke
Wenn der 83Jahre alte Dirigent das
Podest mit einem Stock in der Hand be-
tritt, bangt man einige Momente, ob das
wirklich gutkommen würde. Kaum sitzt
Mehta jedoch auf seinem Stuhl, ist er
fast wieder derjenige, als den man ihn
aus früheren Zeitenkennt. Nach einem
Einspielstück mit dem Concertino für
Streicher von ÖdönPártos erscheint
mit Franz Schuberts dritter Sinfonie die
erste Bewährungsprobe. Mehtas Deu-
tungkommt behäbig undreichlich alt-
backen daher.Der Maestroscheintden
Anschluss an die aufgefrischten Schu-
bert-Interpretationen der heutigen Zeit
verpasst zu haben.
Hector Berlioz’ «Symphonie fan-
tastique», das Hauptstück des Abends,
bringt dann doch noch eine positive
Überraschung. Mehta, der die Sinfonie
unter anderem mit dem London Phil-
harmonic Orchestra eingespielt hat,
dirigiert auswendig undrealisiert die
Anlage der einzelnen Sätze mit siche-
rer Hand.Allerdings zeigt er sich dabei
mehr als Generalist denn als Gestalter
der Einzelheiten. Und das erweist sich
bei diesemWerk, das gewissermassen
eine klingende Instrumentationslehre
darstellt, eben nicht nur alsVorteil. Die
besteWirkung entfacht Mehta beim
Schlusssatz, dem Hexensabbat, wo er
es versteht, das Orchester in der klang-
lichenZuspitzung aus derReserve zu lo-
cken – schade, dass das nicht schon vor-
her passiertist.
Das erste der beidenKonzerte der
Wiener Philharmoniker, das dann vier
Tage später über die Bühne des KKL
ging, hatte mit demMotto «Macht»
kaum etwas am Hut. Der Abend mit
Werken von ErichWolfgangKorngold
und Antonín Dvorák bildete nämlich
Bestandteil einesTourneeprogramms,
das unverändert auch an den Londoner
Proms und am österreichischen Grafe-
negg-Festival gegeben wurde. Die Be-
merkung der LF-Dramaturgin Susanne
Stähr im Programmheft, dassKorngold
«schon früh zum Opfer von Macht- und
Ränkespielen» geworden sei, wirkt an-
gesichts dessen leicht bemüht.
Treffend süffig
KorngoldsViolinkonzert,entstanden
im amerikanischen Exil und1947 von
Jascha Heifetz uraufgeführt, verbin-
detkonzertante Elemente mit unver-
blümten Zitaten ausFilmmusiken des
Komponisten. Am Lucerne Festival
ist es bisher noch nie erklungen, und
es war der Geiger Leonidas Kavakos,
der «Artiste étoile» dieses Sommers,
dem die Ehre der Erstaufführung zu-
fiel. In der Presse wird Kavakos gerne
als introvertiert bezeichnet. Aber wer
di ese Interpretation gehört hat, muss
sein Urteilrevidieren. Sie ist nicht ganz
so sentimental wie dieReferenzein-
spielung von Heifetz, doch Kavakos
trifft den süffigen Charakter der Musik
ausgezeichnet.
DieWiener Philharmoniker haben
bekanntlich – als einziges der weltbesten
Orchester – keinen Chefdirigenten.
Aberder Kolumbianer Andrés Orozco-
Estrada, der in der Spielzeit 2020/21 den
Chefdirigentenposten bei denWiener
Symphonikern übernimmt, ist auch bei
den Philharmonikernkein unbeschrie-
benes Blatt. Man bemerkt schon bei der
Eröffnung mit Dvoráks sinfonischer
Dichtung «Die Mittagshexe», dass zwi-
schen dem Orchester und dem Dirigen-
ten viel Sympathie undVertrauen herr-
schen. Mit seinem für einen Dirigen-
ten jugendlichen Alter von 41Jahren,
seinem südamerikanischen Tempera-
ment und seinerKommunikationsgabe
vermittelt Orozco-Estrada zu gleichen
Teilen Leidenschaft und Sinnlichkeit.
DieWiener ihrerseits mobilisieren alle
ihre Qualitäten, und bei aller Drama-
tik herrscht eineWärme, die man wie-
derum nur als wienerisch bezeichnen
kann.Wahrlich eine Sternstunde!