Die Zeit - 12.09.2019

(singke) #1

  1. September 2019 DIE ZEIT No 38


Zu einem Streit gehören immer zwei


Was bringt der


Grüne Knopf?


Sechs Jahre ist der einsturz des Fabrikkomple­
xes rana plaza in bangladesch her, bei dem
mehr als tausend menschen starben. Das durch
profitgier und Fahrlässigkeit verursachte Un­
glück war ein Wendepunkt. Seither wissen Ver­
braucher um die dunklen Seiten der modewelt
in einer globalisierten Wirtschaft.
Die Katastrophe hat auch die textilkonzerne
und die politik unter Druck gesetzt. Nun ha­
ben sie gehandelt. Kleidung, die unter einiger­
maßen menschenwürdigen bedingungen her­
stellt wurde, wird künftig ein Siegel tragen:
den »Grünen Knopf«. er soll bezeugen, dass
textilunternehmen ihren Näherinnen Über­
stunden bezahlen und dass sie keine giftigen
Chemikalien verwenden.
Auf die Verbraucher dürfte das Siegel eine
ähnliche Wirkung haben wie Stofftüten im
Supermarkt: endlich Konsum mit gutem Ge­
wissen! Doch das ist ein Irrglauben. Zum einen
ist das Siegel nicht mit echter nachhaltiger
mode zu verwechseln. Wirklich faire mode
bedeutet beispielsweise, dass die Arbeiterinnen
in den Fabriken und Färbereien einen Lohn er­
halten, von dem sie leben können. Der Grüne
Knopf hingegen garantiert nur den örtlichen
mindestlohn – das klingt wie ein feiner, ist aber
ein bedeutender Unterschied.
Würden die H&ms und Zaras dieser Welt
sich zu strengeren Standards verpflichten,
könnten sie ihr Geschäftsmodell vergessen.
Denn dieses modell besteht darin, immer mehr
immer billigere Klamotten zu verkaufen. In­
dem sie beinahe wöchentlich neue Kollektio­
nen in die Läden bringen, haben die mode­
ketten Kleidung zur Wegwerfware gemacht,
die in den Augen von Verbrauchern kaum ei­
nen Wert hat. Niemand braucht jedes Jahr
sechzig neue Kleidungsstücke. So viel kaufen
die Deutschen aber – und zwar nicht nur mo­
deopfer ohne moralischen Kompass, sondern
das macht im Durchschnitt jeder Deutsche.
Die textilproduktion gehört zu den dre­
ckigsten Industrien des planeten, sie ist eine
soziale und eine ökologische Katastrophe. Der
baumwollanbau für ein einziges t­Shirt ver­
schlingt bis zu 2000 Liter Wasser, polyester
landet als mikroplastik im meer. ein Siegel
macht die branche nicht sauber. besonders
dann nicht, wenn der Konsum weiter steigt
und steigt. Zwischen 2000 und 2015 hat sich
die weltweite textilproduktion mehr als ver­
doppelt.
Um diesen Irrsinn zu stoppen, hilft nur
eines: weniger zu kaufen. Ähnlich wie beim
Fleisch gilt: Noch besser als bio­Steak ist gar
kein Steak. Für die Verbraucher ist das eine
gute Nachricht. Sie müssen nicht rätseln, wie
gut oder schlecht ein Siegel ist. Sie haben selbst
die macht. ANN-KATHRIN NEZIK

LI E BE


Sie kann nicht verlieren, beschimpft Schiedsrichter und schockt die tennis­Snobs:


man muss Serena Williams einfach mögen VON PETER DAUSEND


Online mitdiskutieren: mehr Streit finden Sie unter zeit.de/streit, diese Woche zum thema »Warum ist die AfD im Osten so stark?«

(Folge 2) Zwei von vielen Butterkeksen in Berlin-Neukölln.
Fotografiert von Ariel Schlesinger

100
ZEILEN
...

In der Wunderwelt der Zahlen führt die 25 ein
eher unspektakuläres Dasein. Sie ist nicht so
todsündig wie die 7, nicht so bibelfest wie die
12, nicht so glückbringend wie die 21 bei 17
und 4, nicht so gefürchtet wie die 13 am Freitag.
Die 25 ist eine brave Jubiläumszahl: silberne
Hochzeit, goldene ehrennadel, feuchter Hand­
schlag, zurück ins Hamsterrad, husch, husch.
ein einziges mal bisher erlangte die 25 grö­
ßere popularität – als die britische Sängerin
Adele eine CD aufnahm und sie nach ihrem
Alter benannte. Ansonsten wissen nur men­
schen mit dieser Zahl etwas anzufangen, die
sich für elliptische Galaxien am Südsternhim­
mel interessieren. Im Sternbild phönix heißt
eine von ihnen NGC 25, sie liegt schätzungs­
weise 419 millionen Lichtjahre von der milch­
straße entfernt. Übelmeinende behaupten, das
entspreche ungefähr der Distanz, die Serena
Williams von ihrem größten traum trennt.
Dem traum von der 25.

In der First­Class­Globetrotter­Welt des
profitennis führt Serena Williams ein überaus
spektakuläres Dasein. mit Kraft, Willen und
einer eisernen Vorhand hat sie alle davonge­
fegt, die ihr in Schlagdistanz gegenübertraten.
Williams ist neben Steffi Graf und margaret
Court die einzige Spielerin, die zweimal alle
vier Grand­Slam­turniere (melbourne, paris,
Wimbledon, New York) hintereinander ge­
wonnen hat. bei Olympischen Spielen heimste
sie vier Goldmedaillen ein; fünfmal beendete
sie die Saison auf platz eins der Weltrangliste;
sechsmal wurde sie als Spielerin des Jahres
ausgezeichnet. mit bisher 90 millionen US­
Dollar hat sie mehr preisgelder eingestrichen
als jede andere Spielerin. black power im bun­
ten Dress. Oder im Catsuit.
Williams kommt auf 23 Grand­Slam­titel,
einen mehr als Steffi Graf – und einen weniger
als die Australierin margaret Court. Sie ist 37
Jahre alt und seit zwei Jahren mutter. Nach

ihrer babypause kündigte sie an, Court als
Grand­Slam­rekordhalterin ablösen zu wol­
len: Seitdem jagt sie die 25.
Viermal stand sie zuletzt in einem Grand­
Slam­Finale. Viermal verlor sie. Ihre reakti­
on? Weiter, immer weiter! Auf ins nächste
match gegen den unbarmherzigsten Gegner,
auf den man in seiner Karriere treffen kann:
die Zeit. Nicht unterkriegen lassen vom
nächsten rückschlag, nicht aufgeben nach ei­
nem weiteren Scheitern. Im Januar wartet
melbourne, die nächste Gelegenheit, der 25
auf die Wurzel zu rücken. Williams wird dann
38 Jahre alt sein. Die Frau, von der sie gerade
in New York bei den US­Open geschlagen
wurde, ist 19.
Der Held oder die Heldin muss scheitern,
muss fallen, damit er oder sie zum menschen
wird, damit man ihn oder sie mögen kann. So
will es das Klischee. Grundvoraussetzung da­
für, dass es mit dem mögen gelingt, ist, dass

der Held oder die Heldin Demut zeigt. Wil­
liams hat es nicht so mit Demut. Sie hat es
eher mit ehrgeiz, sie hat es eher mit Aggres­
sionen. Und gerade das macht sie so be­
wundernswert.
Als ihr der Schiedsrichter im Finale der US­
Open im vergangenen Jahr einen punkt abzog,
weil sie zuerst gegen eine entscheidung protes­
tiert, dann ihren Schläger zertrümmert und
den referee als »Dieb« beschimpft hatte, nahm
Williams das nicht klaglos hin, sie begehrte
auf. Gegen die Ungerechtigkeit dieser ent­
scheidung und gegen den Sexismus im tennis
im Allgemeinen. männer belegen Schiedsrich­
ter zuweilen mit ganz anderen Schimpfwör­
tern – und nichts passiert.
In Williams’ Weigerung, sich zu fügen, in
ihrem Drang, auch nach der vierten Nieder­
lage im vierten Finale weiterzumachen, steckt
viel mehr als die mischung aus ehrgeiz und
trotz: Sie wehrt sich gegen die rolle, die der

edle tennissport Frauen – und insbesondere
schwarzen Frauen – zubilligt: die der Dank­
baren. Danke, dass wir heute so viel Geld
verdienen können wie die männer! Danke,
dass wir ähnlich viel Sendezeit im Fernsehen
bekommen!
Im erfolg der Serena Williams feiert die
liberale Gesellschaft sich selbst: Schaut her,
wie toll fortschrittlich wir doch geworden
sind, dass eine schwarze Frau heute dermaßen
erfolgreich sein kann. Dafür erwartet sie aber,
dass die schwarze Frau stets so freundlich da­
herkommt wie der ewig nette roger Federer
und so brav wie Angelique Kerber. Dafür,
dass Serena Williams dieser erwartung ganz
selbstbewusst nicht entsprechen mag, muss
man sie mögen.
Und natürlich dafür, dass sie weiter die 25
triumphe jagt. Wenn sie dereinst den Schläger
zur Seite legt, wird sie sich eins nie vorwerfen
müssen: nicht alles gegeben zu haben.

STREIT 11


STREITFRAGE

Das blut des dreijährigen momme war noch
nicht trocken, als nach dem fürchterlichen
Verkehrsunfall in berlin die Deutsche Um­
welthilfe, ein vermeintlich gemeinnütziger
Abmahnverein, das entsetzen nutzte, um für
die eigene Sache zu lobbyieren.
Ohne großes mitgefühl für die vier toten
wurde der Kulturkampf gegen das Auto­
mobil mit einem regelrechten Feindbild­
Klimax geführt, schließlich war der Unfall­
wagen ja nicht nur ein SUV, sondern auch
noch ein porsche. Für die Aktivisten, die
auch schon mal den grünen ministerpräsi­
denten Winfried Kretschmann in beugehaft
nehmen wollten, ein Glücksfall. So setzte die
Umwelthilfe den ton, dem taz-redakteure
und Grünen­politiker gerne folgten.
Die Kaputtheit unserer Gesellschaft hat
auch mit der Unfähigkeit zu trauern zu
tun. Jedes Unglück wird umgehend im Sin­
ne der eigenen Weltanschauung verarbeitet.
Was vom twitter­Nutzer @gemuellert bit­
terböse präzise zusammengefasst wurde:
»rechte: Hoffentlich war ein Flüchtling
schuld. Linke: Hoffentlich war ein Nazi
schuld. Grüne: Hoffentlich war es ein
SUV.« Was wäre gewesen, wenn es der Fah­
rer eines Kleinwagens mit migrationshin­
tergrund oder ein tesla­Halter gewesen
wäre? Die polizei ermittelt noch. Stand
Dienstag wird eine medizinische Ursache
beim Fahrer angenommen.
Die Vorverurteilung des Fahrers findet
durch jene milieus statt, die sonst alle so
eifrig moralisch belehren. Der Zorn über
ein Leben, das nicht ihres ist, bricht in einer
Art empörungstreibjagd heraus. Der grüne
Kreuzberger baustadtrat Florian Schmidt
geißelte die Autokultur des »Ich, Ich, Ich«.
Andere finden es »ekelhaft«, dass überhaupt
Autos mit 680 pS produziert werden. es
geht diesen Leuten nicht um die wichtige,
richtige Verkehrswende: es geht ihnen da­
rum, anderen zu sagen, wie sie zu leben
haben. Und da kamen – bittererweise – die
vier toten gerade recht.

IRGENDWANN IST AUCH MAL GUT!


Ulf Poschardt ist
Chefredakteur
der Welt-Gruppe.
An dieser Stelle
schreibt er im
Wechsel mit Anja
Reschke, der
Moderatorin der
ARD-Sendung
»Panorama«

Peter Dausend
ist politischer
Korrespondent
im Hauptstadt-
büro der ZEIT

WER DAS HASST... HASST AUCH...

VERTWITTERT

SUVs haben in unseren Städten nichts zu suchen! 4
tote, darunter ein Kleinkind, sind die bilanz eines
schrecklichen raser­Unfalls mit einem porsche­SUV
in berlin. Und wenn es nach den Autokon zernen
geht, soll mehr als jeder zweite Neuwagen ein SUV
werden. Wir kämpfen dagegen an!
getwittert am 30. Aug. 2019 um 19:

@Umwelthilfe

Das ging aber daneben!
Unser Kolumnist Ulf poschardt
über seinen twitter­tiefpunkt
der Woche

Wenig. Das textil­Label hilft eher
dem Gewissen als dem planeten

Kl. Fotos: Getty Images (o.); Urban Zintel für DZ (u.); Getty Images [M]; Illustration: Leon Edler für DZ

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