Die Zeit - 12.09.2019

(singke) #1

M


anchmal ist ein Film politischer,
als er von seiner Regisseurin oder
seinem Regisseur erdacht wurde.
Weil er etwas formuliert, was über
das Drehbuch hinausgeht, ja viel-
leicht nicht einmal darin angelegt ist. Das Politi-
sche kann einfach in dem liegen, was der Film
zeigt, liebt oder feiert. Zum Beispiel Hongkong im
Jahre 1967. In dem Animationsfilm No. 7 Cherry
Lane ist die Hafenstadt ein in Pastelltönen fluo-
reszierender Sehnsuchtsort, eine Chiffre für Pro-
jektionen und Phantasmen und zugleich Refugium
für die Selbstentwürfe ihrer Bewohnerinnen und
Bewohner.
Im Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig
wirkte der Film des Hongkong-Regisseurs Yonfan
(er gewann den Drehbuchpreis) wie ein fremdes,
verführerisches Parfüm. Oder wie ein exzentrischer
Gast zwischen einem amerikanischen Verstörungs-
film wie Todd Phillips’ Joker (ZEIT Nr. 37/19),
der den Goldenen Löwen gewann, und Roman
Polanskis Historienfilm J’accuse (Großer Preis der
Jury), der bewies, dass das klassische Erzählkino
noch längst nicht auserzählt ist.
No. 7 Cherry Lane lässt sich in einem Satz zu-
sammenfassen: Der attraktive Student Ziming ver-
liebt sich in seine Nachhilfeschülerin und deren
Mutter. Gleich zu Beginn wird klar, dass es um

mehr geht, nämlich um ein raffiniertes Spiel mit
einem männlichen Objekt der Begierde. Nach
einem Tennismatch, dessen Stimmung ein anderes
berühmtes Match zitiert (aus Michelangelo Anto-
nionis 1966 gedrehtem Film Blow up), sieht man
den Studenten mit einem Freund nackt unter der
Dusche. Die vom Wasserdampf umgebenen, im

klassischen reduzierten Animé-Stil gezeichneten
Körper verströmen Sexyness. Durch ein Loch in
der Wand werden die beiden jungen Männer von
einem Voyeur beobachtet. Ziming beginnt spiele-
risch seine Brust zu streicheln, sich als Objekt der
Begierde zu präsentieren. Während des gesamten
Films wird diese Figur oszillieren zwischen Ver-
führer und Verführtem.
Ein Großteil des Films spielt in der lichten,
luftigen Wohnung von Mrs. May und ihrer Toch-
ter. Mit der eleganten und introvertierten Mutter
verbindet Ziming eine Seelenverwandtschaft, die
Liebe zur Literatur und gemeinsame Kinobesuche,
bei denen die beiden französische Liebesfilme mit
Simone Signoret anschauen – später auch Reife-
prüfung. Sechs Jahre lang hat der 71-jährige Re-
gisseur Yonfan an diesem Film gearbeitet, dessen
Hintergründe wie chinesische Rollbilder wirken.
Detailreich bis zu einem sich im Wind bewe-
genden Haar. Rhythmisch bis in die Bewegung
der Katzen, die hier auch Teil einer erotischen
Fan tasie werden. Von faszinierender Räumlich-
keit, wenn die Straßen des alten Hongkong sich
über Hügel ringeln und den Blick freigeben auf
Bucht und Hafen.
Schon die mächtigen Wurzeln, die Fassaden,
Treppen und Trottoirs in Beschlag nehmen, zei-
gen, dass die Stadt dem Dschungel abgetrotzt

wurde. No. 7 Cherry Lane ist ein filmischer
Liebes brief an einen Ort, der hier aufs Sinnlichs-
te durch verschiedene kulturelle Einflüsse zu
existieren beginnt. In dieser Mischung und der
Feier ihrer Offenheit liegt die implizite politische
Sprengkraft des Films: Altchinesische Traditionen
und kantonesische Küche. Westliche Mode,
Pop- und Kinokultur, geschwungene Dächer,
Kolonialbauten und die architektonische Ele-
ganz der Zwanzigerjahre.
Yonfan, flamboyanter Regisseur und eine stets
mit Halstuch und Hut auftretende dandyhafte Er-
scheinung der internationalen Kinowelt, hat bis-
her 14 Filme gedreht. Was seinen Animationsfilm
einzigartig macht, ist die Konzentration auf die
Idee Hongkong – und eine dafür über Jahre hin-
weg akribisch entwickelte Visualität. Das macht
ihn zum Seelenverwandten eines anderen Regis-
seurs und – stillen – Exzentrikers: Seit Jahren dreht
der Schwede Roy Andersson seine Filme auf ähn-
lich obsessive Weise.
In seinem neuen Werk Über die Unendlichkeit
(Regiepreis) versammelt Andersson wieder lose
arrangierte Dramolette, statisch inszenierte All-
tagsszenen, Sketche, die manchmal mit lakoni-
scher Pointe enden. Die Ruhe der Szenen verleiht
ihnen etwas Existenzialistisches: Eine Frau trinkt
in einer Bar neben ihrem Begleiter genussvoll

Champagner. Eine andere Frau wartet am Bahn-
steig auf ihren Geliebten, der schließlich doch
noch kommt. Eine geschlagene Armee schleppt
sich durch eine Winterlandschaft. Ein vom Glau-
ben verlassener Priester trinkt in einem Zug eine
halbe Flasche Messwein und geht schleifenden
Schrittes in die Kirche. Verbunden werden diese
Szenen durch ein stets weißlich gehaltenes Am-
biente, bühnenhafte Tableaus, die sich in der Un-
endlichkeit verlieren. Worauf läuft die theater-
hafte Präzision dieses Kinos hinaus? Auf nichts.
Oder auf alles. Anderssons Filme erzählen von der
condition humaine als comédie humaine. Und viel-
leicht ist auch das schon eine übergestülpte Idee.
In manchen Momenten wirken die ausgebliche-
nen Welten von Über die Endlichkeit wie ein
metaphysischer Raum – egal ob Himmel oder
Hölle –, in dem die Figuren das tun, was sie schon
immer getan haben: trinken, Kriege führen, lie-
ben, grübeln. Was Roy Andersson in der Tiefe des
Realbildes in szeniert, gelingt Yonfan in der zwei-
dimensionalen Tiefe der Animation: den eigenen
Blick auf das Leben in eine Ästhetik zu verwan-
deln. Und in eigensinnige Schönheit.
Was wäre die Festival- und Kinowelt ohne diese
visionären Verrückten?

A http://www.zeit.de/audio

Der verliebte Held in Yonfans Film
blickt auf Hongkong

In Venedig verzaubern Yonfans Animationsfilm »No. 7 Cherry Lane« und Roy Anderssons eigensinnige Ästhetik den Blick VON KATJA NICODEMUS


Wo Bilder Sexyness verströmen


N


iemand mochte seine Bilder,
niemand wollte sie drucken,
kein Magazin, kein Buchver-
lag. Denn was war das für
Zeug, was wollte dieser Foto-
graf? Warum machte er Bilder
von Tanksäulen, menschen-
verlassen vor kargem Horizont? Weshalb fotogra-
fierte er die Pinkelbecken einer Herrentoilette? Wes-
halb drei anonyme Kreuze am Straßenrand, die an
einen Unfall im Nirgendwo erinnern? All das passte
so gar nicht zu dem, was die Nation doch sein woll-
te. Die Fotos durchkreuzten Amerikas Selbstbild.
Robert Frank schaute auf das Land, in das er
1947 gekommen war, und es schaute sehr fremd
zurück, wenn es denn überhaupt schaute. Viele
Menschen auf seinen Bildern blicken still vor sich
hin, oft ernst und ein wenig ratlos, als
würden sie gerade auf etwas warten
und wüssten nicht mehr, worauf. Ver-
einsamt in ihrer Emsigkeit, verloren im
Gewühl der Menge. Erschöpft auch
dann, wenn sie unbedingt glücklich
sein wollen.
Heute gelten diese Bilder als Ver-
mächtnis, und es sagt sich jetzt so ein-
fach, Robert Frank sei eine Legende
gewesen. Er war es natürlich, einer der
wichtigsten Fotografen des 20. Jahr-
hunderts, der mit seiner lakonischen
Art, seiner Kunst des Ungekünstelten
ganze Generationen beeinflusst hat.
Man übersieht aber leicht, dass Frank lange jenen
Menschen ähnelte, die er wie im Vorbeigehen fo-
tografierte und die immer ein wenig weltverlassen
wirken. Manche verschwinden sogar hinter den
Dingen, hinter einer Holztreppe zum Beispiel, die
einen alten Mann mit seinem Stock halb verdeckt,
oder hinter der geöffneten Tür eines Rekrutie-
rungsbüros, sodass man von dem zuständigen Sol-
daten nur die Schuhe sieht, die er gerade auf sei-
nem Schreibtisch abgelegt hat.
Frank mochte keine Posen, er wollte niemanden
herausstellen. Er nahm die Menschen nicht wichtiger,
als sie sich selbst nahmen; unwichtiger aber auch
nicht. Jedenfalls interessierte ihn weniger das Schick-
sal der Einzelnen als das, was man Gesellschaft nennt.
Er wollte das Innere des Landes einfangen, dafür war
er mit seiner Leica losgezogen.
Mitte der Fünfzigerjahre setzte er sich in einen
dieser riesigen Straßenkreuzer von Ford, die mehr
einer Wohnung als einem Auto gleichen, und fuhr
von New York aus hinein ins Unbekannte, zwei
Jahre lang durch Orte und Landstriche, die kaum
jemals einen Fotografen gesehen hatten. Nichts
war ihm zu unbedeutend, nichts zu abwegig, am
liebsten hätte er noch den hintersten Winkel fest-
gehalten, nein, nicht festgehalten, er wollte ja die
Welt nicht fesseln, nicht einfrieren, er wollte sie in
ihrer Vorläufigkeit zeigen, ziemlich grobkörnig,
manchmal unscharf, die Leiber angeschnitten, der
Horizont verkantet. Beim Anblick dieser Bilder
könnte man meinen, nicht nur Robert Frank, son-

dern auch das Land sei auf Reisen und habe es viel
zu eilig, um sich Zeit für ein klassisch komponier-
tes, ein ewig eindrückliches Bild zu nehmen.
Am Ende waren 687 Kleinbildfilme belichtet,
fast 28.000 Aufnahmen, von denen Frank die al-
lermeisten aussortierte. Nur 83 blieben übrig, eine
kleine, feine, triste Geschichte der Vereinigten
Staaten, als Buch arrangiert: Die Amerikaner.
Nur konnte sich, wie gesagt, kein Verlag dafür er-
wärmen. Man fand die Bilder freudlos, ja gehässig.
Die Tristesse des Alltäglichen, die einen da ansieht,
sollte dieser Robert Frank, eingewandert aus der
Schweiz, mal schön für sich behalten. Und so erschien
das Fotobuch zunächst in Frankreich, und der Foto-
graf verlegte sich nur wenig später aufs Filmemachen.
Ein wenig enttäuscht war er schon von diesem
Land, das stets die eigene Offenheit fürs Neue pries
und deshalb ihm, dem Neu-Seher, genau
richtig schien. Geboren 1924 in Zürich,
hatte er seine Laufbahn recht klassisch
und neu sachlich begonnen, als bestens
ausgebildeter Fotograf, der viel herum-
reiste, auch nach Südamerika, dann in
New York zunächst bei Glitzermagazinen
sein Geld verdiente und schließlich be-
schloss, das amerikanische Prinzip sehr
ernst zu nehmen: Er suchte sein Glück in
der Unverwechselbarkeit.
Im Kopf waren ihm die Bilder großer
Kollegen, von Walker Evans, André Ker-
tész, auch von Brassaï, doch wollte er
unbedingt seinen eigenen Stil finden:
»Etwas, wo die Leute sagen können: Das ist ein Foto
von Robert Frank«, wie er später in einem seiner
seltenen Interviews erzählte. Erstaunlicherweise fand
er die Einzigartigkeit ausgerechnet im Durchschnitt-
lichen, die eigene Besonderheit im Unscheinbaren.
Seine Stärke war der Blick für die Schwachen, für all
jene, die ungesehen waren, bis Robert Frank kam –
nicht um sie vorzuführen, sondern um aller Welt ein
anderes, ein gern verdrängtes Amerika zu zeigen, mal
schwarz, mal arm, mal alt, mal alles zugleich.
Auch in seinen 30 Filmen hat Frank viel gewagt,
ist manchmal sehr persönlich geworden, mit ru-
ckelnden Bildern aus seinem Familienleben und Ein-
blicken in die Psychiatrie. Ein Film über die Rolling
Stones 1972 geriet derart drastisch, dass die Band ihn
nicht freigeben wollte. Auch weitere Fotobücher soll-
te Frank später herausbringen, über Paris oder Peru.
Keines aber blieb so im Gedächtnis wie seine Ame-
ricans, diese große Reportage, für die er 1959, unter-
stützt von Beat-Poeten wie Allen Ginsberg und Jack
Kerouac, doch noch einen amerikanischen Verleger
fand und die später in vielen Museen gefeiert wurde.
Heute gilt sie als zentrales Dokument jener Nach-
kriegszeit, in der die Nation nicht wusste, wohin mit
sich. Sein Leben lang blieb Robert Frank diesem Land
der Abgehängten tief verbunden. Am 9. September
ist er gestorben, mit 94 Jahren.

Im Fotohaus c/o Berlin ist eine große
Robert-Frank-Ausstellung zu sehen,
vom 13. September bis zum 30. November

Wie Robert Frank, einer der größten Fotografen des 20. Jahrhunderts,


unser Bild Amerikas bis heute prägt VON HANNO RAUTERBERG


Nichts war ihm


zu unscheinbar


Robert Frank,
9.11.1924 bis
9.9.2019

NACHRUF

Ein Foto, das Robert Frank besonders mochte: »San Francisco«, 1955

Foto: Robert Frank aus »The Amaricans«, Courtesy Sammlung Fotostiftung Schweiz, Winterthur; Tina Ruisinger/Visum; Abb.: Far Sun Film Company Limited 2019



  1. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 38 FEUILLETON 61

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