Die Zeit - 12.09.2019

(singke) #1

I


n seinem Roman Elementarteilchen
(1998) zitiert Michel Houellebecq den
Feldherrn Napoleon, der kalt auf ein
mit Leichen übersätes Schlachtfeld
blickt und spricht: Pah, eine einzige Pariser
Nacht stellt das alles wieder her.
Dieses Pah! hat man aus den Romanen
Houellebecqs immer wie eine quäkende Fan-
fare herausgehört. Es gab noch den trübsin-
nigsten Passagen etwas Attackierendes: Die
Erde ist ein Schlachtfeld, aber die große Pari-
ser Nacht spendet Trost. Aus dem allgemeinen
Niedergang reißen uns die Spiele unserer Ge-
nitalien, die »das alles« wieder herstellen. In
der Erwartung, eines von beiden werde schon
auf ihn warten, das Leichenfeld oder die
Orgie, tappte der typische Houellebecq-Held
durchs Leben, und die Hoffnung, es werde
erst mal die Orgie kommen, hielt ihn aufrecht.
Florent -Claude Labrouste, der Icherzähler
seines jüngsten Romans Serotonin (2019),
macht sich allerdings keine Hoffnungen auf
ein Pah! mehr. Er ist seelisch wie körperlich am
Ende, das Antidepressivum, das ihn vorerst
rettet, nimmt ihm jede sexuelle Lust. Serotonin
ist ein Impotenz-Roman im existenziellen
Sinn. Man liest ihn im Bewusstsein, dass sein
Erzähler kurz vor dem Suizid steht.
Die Leserin und selbst der Leser haben aber
nicht allzu viel Mitleid mit ihm, denn Florent-
Claude manövrierte sich in sein Unglück
selbst hinein – indem er, wahres Glück und
echte Liebe ignorierend, nicht nach links und
rechts schaute, sondern sich immer nur von
seinem Gemächt durch die Welt zerren ließ
wie von einem rolligen Rüden. Jetzt zerrt
nichts mehr an ihm, und es fehlt ihm der
Lebenssinn. Das Letzte, was ihm noch bleibt,
ist sein Seelengeiz und ein wenig Reichtum,
den er möglichst nutzenfrei vergeuden möch-
te: »Die Vorstellung, mit Geld auf dem Kon-
to zu sterben, war mir unerträglich.«
An dieser Stelle kommt der Regisseur Falk
Richter ins Spiel, der am Hamburger Schau-
spielhaus die Geschichte von Florent -Claude
Labrouste auf die Bühne bringt. Er inszeniert
den Roman als Abgesang auf den »weißen
alten Mann«, der nicht nur Schuld hat an
seiner eigenen Lage, sondern überdies verant-
wortlich ist für den Zustand dieser – ach, wir
brechen hier ab. Dieser Welt, wollten wir sa-
gen, aber das weiß ja sowieso jeder, dass der
alte weiße Mann Schuld hat, und der alte
weiße Mann ahnt es selbst. Deshalb muss er
jetzt ins Theater und sich Serotonin ansehen,
damit ihm seine Ahnung bestätigt wird.
Das macht streckenweise sogar Spaß.
Florent-Claude ist am Schauspielhaus aus
seiner beschämenden Einsamkeit erlöst
worden – durch einen simplen und in diesen
Tagen gern angewendeten Theatertrick: durch
Vervielfältigung. Seine Rolle teilen sich vier
Schauspieler, die rauchend und in Bade-
mänteln die Bühne betreten – ein Rat Pack,
welches Houellebecqs Text mal im Wechsel,
mal chorisch zum Vortrag bringt.
Dem tief elenden, depressiven Grundton
des Romans rücken sie mit zuversichtlicher
Mokanz zu Leibe, gerade so, als stieße eine
Truppe von Entertainern ihre Angeberellen-
bogen einem lebensmüden Freund in die
Flanke: Nun hab dich mal nicht so!

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ISSN: 0044-2070

ZEIT-LESERSERVICE


Pah! Es lebe


das Prinzip


Orlando


Die neue Theatersaison gehört dem
Mann, der es schafft, sich in eine Frau
zu verwandeln VON PETER KÜMMEL

D


er Panzer war zu viel. Als nach einer
Reihe von Provokationen auch
noch ein Kampfwagen auf die Büh-
ne rollte, platzte dem Publikum der
Kragen. Es kam zu wüsten Tumul-
ten, an der Deutschen Oper Berlin drohte der
Spielabbruch. Der Premierenadel hatte Verdis Die
Macht des Schicksals erwartet – stattdessen sah er
»Scheiße«, »Affentheater«, »Gotteslästerung«.
Das war nicht am vergangenen Sonntag, das war
im Jahr 1982, als Hans Neuenfels mit seiner Verdi-
Inszenierung einen Aufstand der Wutbürger auslöste.
Doch die Geschichte wiederholt sich, jedenfalls an
der Deutschen Oper Berlin: Giuseppe Verdis Macht
des Schicksals ist ihr Schicksal. Diesmal traf es Frank
Castorf, der für alles Mögliche, nur nicht für kul-
turkulinarischen Lieferservice bekannt ist. Castorf
besaß die Frechheit, kurze gesprochene Textpassagen
einzubauen und – auch das noch – einen indigenen
Geist auftreten zu lassen, eine Dragqueen in Gold-
glitzer, gleichsam den tanzenden Schatten der kolo-
nialen Vergangenheit. Dies löste den ersten Unmut
aus, doch als der famose Tänzer Ronnie Maciel auch
noch Heiner Müller zitierte, war kein Halten mehr.
Es kam zu Wutausschüttungen im Publikum (»Mu-
sik!«), und Castorfs Absicht, den Schluss von Mala-
partes Roman Haut in Szene zu setzen, drohte im
Geschrei unterzugehen. Minutenlang standen die
Künstler hilflos auf der Bühne und wurden sinnfrei
beschimpft; die Empörten verlangten »Rücksicht aufs
Publikum« und bewiesen, dass auch sozial gut inte-
grierte Kulturträger problemlos in der Lage sind, eine
pegidaähnliche Pöbelbereitschaft zu entsichern. Den
Geduldigen blieb nur parodistische Gegenwehr. »Wir
wollen unseren Kaiser Wilhelm wiederhaben!«
Was war der Grund für den Skandal? Dass Cas-
torf, wie seinerzeit Neuenfels, die Oper im spanischen
Bürgerkrieg beginnen und sie mit der Befreiung

Italiens enden lässt? Dass der Klerikalfaschist Franco
vorkommt und die Handlung wahlweise in Maschi-
nengewehrnestern, blutverschmierten Feldlazaretten
oder in Sanitätsfahrzeugen der US-Army spielt? Be-
stand das Ärgernis darin, dass Castorfs Videoüber-
tragungen vom Gesang ablenken? Dass er das Pub-
likum mit dem Mönch Las Casas behelligt, der die
satanische Mordlust der spanischen Eroberer geißelt,
das Aufschlitzen von Frauen und Kindern? Dass er
einen Widergänger der Opfer hinzuerfindet, der sich
in einer grandios erschütternden Szene ans Kreuz
hängt, als wolle er fragen, wo Gott war, als Christen
die Indios abschlachteten?
All das kann es nicht gewesen sein. Verstörend war
Castorfs subversive Werktreue, mit der er Die Macht
des Schicksals beim Wort nahm. Eigentlich ist Verdis
Oper als katholisierende Klamotte verrufen, als ra-
send unlogisches Rührstück, dessen Grundstoff aus
der Hexenküche der spanischen Romantik stammt
und dem protestantischen Moralismus das Wasser
abgraben soll. Entsprechend unbeliebt ist die religiö-
se Grundfigur bei Regisseuren. Sie ziehen es vor, sie
brav kritisch wegzusingen oder die Oper – wie etwa
Martin Kušej in seiner Münchner Inszenierung – als
Tatbeweis für den Gotteswahn auf die Bühne zu
bringen. Religion? Nur Heulen und Beten.
Für solchen Säkularpopulismus hat Castorf nichts
übrig. Er spachtelt das theologische Ärgernis nicht
zu, er meißelt es auf, denn nur so wird aus Verdis
Nummernrevue ein Kampf der Welten. Am Anfang
stehen die beiden Liebenden, Leonora (María José
Siri) und der humanistische Rebell Alvaro (Russell
Thomas), selbst Nachfahre eines Inka-Königs. Beide
glauben an die Macht der Vorsehung, sie glauben
daran, dass der Himmel sie füreinander bestimmt hat.
Ihren Bürgen nennen sie Gott, für ihre Zukunft
wünschen sie Freiheit, Frieden und Glück. Ihnen
gegenüber steht das Establishment, darin zählt nicht

die Macht des Glaubens, sondern die Macht der
Macht; nicht die Vorsehung, sondern der Zufall. Bei
Verdi ist Leonoras Vater (Stephen Bronk) ein Rassist,
bei Castorfs ein Falangist; als das Liebespaar fliehen
will, fällt zufällig ein Schuss, der Vater stirbt, und
Bruder Carlo (Markus Brück) jagt die Flüchtenden
durch halb Europa. Dieses Europa ist bei Castorf zwar
älter geworden, doch immer noch wälzt sich der Kon-
tinent ziellos durch die Geschichte. Die Menschen
sind unter die Wölfe gefallen, die Christen glauben
nicht mehr ans Heil, sie glauben an Mythen, an Ras-
se, Rache und starke Führer. »Es lebe der Krieg«, singt
Preziosilla (Agunda Kulaeva), die Scharfmacherin.
In dieser verkommenen Welt herrscht der Teu-
fel des Zufalls, er ist die Gestalt des Schicksals in
der Moderne. Alles könnte auch anders sein, nur
bei Leonora und Alvaro nicht: Keiner widerruft,
keiner verlangt nach Rache. Mehr Trost gibt es bei
Castorf nicht, abgesehen natürlich vom Gesang.
María José Siri singt nicht nur die Pace-Arie groß-
artig, und Russell Thomas unendlich warme Stim-
me klingt wie die Güte selbst. Überhaupt wurde
bis in die Nebenrollen eindrucksvoll gesungen,
wobei Orchester (Jordi Bernàcer) und Chöre (Jere-
my Bines) den Wutaufstand geahnt zu haben
schienen, derart entschlossen, nachgerade pathe-
tisch selbstsicher traten sie auf.
Castorfs Schlusseinfall war so routiniert skandalös
wie immer. Er wollte wissen, wofür all die Menschen
gestorben sind, und zitierte aus Malapartes Roman
Haut, einer Fibel des kulturellen Antiamerikanismus:
Amerika hat Europa vom Faschismus befreit und ihm
zugleich eine neue Religion hinterlassen, den Kapi-
talismus. Die Weltzeit ist nun Geldzeit, und über
Verdis Kloster bleckt ein neuer Himmel. Es ist der
Himmel über dem Times Square in New York.

A http://www.zeit.deeaudio

Wo war Gott, als Christen die Indios abschlachteten? Frank Castorf inszeniert


Verdis »Die Macht des Schicksals« in Berlin und erntet Wut VON THOMAS ASSHEUER


In der Hölle des Zufalls


Rache und kein Ende: Don Alvaro (Russell Thomas) mit seinem Freundfeind Don Carlo di Vargas (Markus Brück, rechts)

So wirkt es nun, als werde Houellebecqs Text nicht
nur gesprochen, sondern als werde seinem zaghaften
Romanhelden von überlegenen Gestalten über den
Mund gefahren. Hinter der Aggression der Spieler
verbirgt sich die des Regisseurs: Florent- Claude wird
als der Inbegriff des falschen Lebens vorgeführt. Er
gerät in eine Konstellation, wie wir sie aus Peter Hand-
kes Publikumsbeschimpfung kennen. Vier Männer
(Jan-Peter Kampwirth, Carlo Ljubek, Tilman Strauß
und Samuel Weiss) strolchen über die Bühne wie eine
Kleinhorde, die irgendwen auf dem Kieker hat. Man
kann sich als Zuschauer wahlweise entlarvt oder aber
auf der richtigen Seite stehend fühlen – es macht
keinen großen Unterschied. Aufgeführt wird, mit
hohem Aufwand an Feuer und Videoprojektionen,
ein szenisch entfaltetes Hörbuch. Serotonin ist ein
bunter Abend über die völlige Verzweiflung eines
Mannes, mit dem man nichts gemein haben möchte


  • am Ende nicht einmal die Pillen, die er schluckt.
    Was hülfe ihm, dem armen Florent-Claude, in
    seiner Not? Vielleicht dies: der Wechsel des Ge-
    schlechts. An der Berliner Schaubühne zeigt uns
    die Regisseurin Katie Mitchell, wie das zu machen
    ist. Sie inszeniert Virginia Woolfs Orlando (1928),
    den Roman über einen englischen Edelmann, der
    über die Jahrhunderte kaum altert und sich den-
    noch sehr verwandelt – indem er nämlich eines
    Nachts zur Frau wird.
    Katie Mitchell arrangiert die Geschichte nach den
    Regeln ihrer immer wieder spektakulären Methode:
    indem sie nämlich so tut, als sei das Theater auf der
    Bühne nur Rohspiel für einen zu inszenierenden
    Film. Die Schauspieler werden umwimmelt von Ka-
    meraleuten und Mikrofonträgern, und den Boden
    bedecken Markierungskreuze, die zeigen, wo gleich
    die Kamera zu stehen hat. Der tiefere Sinn dieser
    Regieart besteht hier darin, das menschliche Selbst-
    bild – und auch sein Geschlecht – als ein Produkt der
    Manipulation, Retusche, Fälschung, Montage, Nach-
    bearbeitung, Einrede, Imitation zu entlarven. Die


befreiende Botschaft des ganzen Abends lautet: Man
kann womöglich aus sich machen, was man will.
Als Orlando sich in eine Frau verwandelt, sieht
man ihnesie, gespielt von Jenny König, wie sie sich
im Spiegel nackt entdeckt – und offenbar begehrt:
als sei sie kurz davor, mit einem triumphalen Pah! in
den Spiegel zu springen und sich selbst zu küssen.
Dieser Orlando hat einen Ausweg gefunden, der ihn
davor bewahrt, ein alter weißer Mann zu werden (in
Woolfs Roman wird Frau Orlando Hunderte Jahre
alt, ohne dass man ihr dieses Alter ansähe).
Die Orlando-Methode könnte diese Theaterspiel-
zeit bestimmen: Am Berliner Ensemble wurde gera-
de Brechts Baal von einer Frau (Stefanie Reinsperger)
gespielt, und am Staatstheater Hannover wird in
Kürze einer der perfidesten, an der Liebe der Frauen
aasig uninteressierten weißen Männer der Dramen-
literatur, Anton Tschechows Platonow, schwer ver-
wandelt, als Weib, sein Unwesen treiben: Er heißt
jetzt Platonowa. Es wird offenbar Zeit, den Ausdruck
#MeToo ganz neu zu verstehen.

Foto: Thomas Aurin


60 FEUILLETON 12. SEPTEMBER 2019 DIE ZEIT No 38


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Filmkritiken

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