Auf einem Parkplatz des CREATE
Tower steht Kian Wee Chen zwischen
Stellwänden auf einem Boden aus Pro
filblech. Wasser, gekühlt auf fünf Grad
Celsius, von einer Pumpe bewegt und
gleichbleibend temperiert, fließt durch
dünne Schläuche, die in Schlaufen die
Wände überziehen. Und es erscheintwie
ein Zaubertrick, wenn die Haut beim
Betreten des Gestells plötzlich eine an
genehme Kühle spürt.
"Die Lufttemperatur hier drinnen ist
die gleiche wie draußen", erklärt Doktor
Chen. "Aber das kühle Wasser nimmt
die Körperstrahlung auf und leitet sie
ab." 72 Prozent der Energiekosten für
Klimaanlagen und Ventilatoren könn
ten so eingespart werden. "Das einzige
Problem sind die Leute", sorgt sich der
Forscher. "Sie sind es nicht gewohnt,
auf diese Art abgekühlt zu werden."
Doch Singapurs legendäre Effizienz
wird auch mit diesem Problem fertig
werden. Effizienz ist ja Singapurs Tu
gend Nummer eins: Wie in einem Flug
hafen darf es nichts Überflüssiges ge
ben, keinen Sand im Getriebe, keinen
toten Winkel.
Eine Effizienz, die längst auch das
Miteinander der Menschen optimiert:
"Wenige Nationen können sozialen Zu
sammenhalt so herstellen wie Singapur",
106
rühmt Koh Buck Song, Experte für na
tion branding und langjähriger Berater
der Singapurer Regierung, in seinem
Buch "Marke Singapur". Und wenn er
dann von "Konformität" spricht, ist das
durchaus als Lob gemeint.
Noch immer gilt Singapur Kritikern
wegen seiner verordneten Harmonie
als "fine city"-finewie "fein", doch vor
allem wie "Geldstrafe". Weil der Staat
Kaugummis ebenso unter Strafe stellte
wie öffentlich sichtbares nacktes Her
umlaufen in der eigenen Wohnung.
Weil er das Magazin "Cosmopolitan"
verbannte und die Serie "Sex and the
City", den Film "Clockwork Orange"
oder den Folksong "Puff the Magie Dra
gon", nach Ansicht der Zensoren eine
heimliche Kiffer-Hymne. Weil er noch
1984 dem japanischen New-Age-Musi
ker Kitaro wegen zu langer Haare die
Einreise verbot.
Doch für Singapurs Führer ist das
nicht Intoleranz, sondern soziale Inge
nieurskunst. "Wir wären nicht hier",
sagte Staatsgründer Lee 1987 , "wir hät
ten keine wirtschaftlichen Fortschritte
gemacht, wenn wir uns nicht auch in
sehr persönliche Belange eingemischt
hätten -wer dein Nachbar ist, wie du
lebst, der Lärm, den du machst, wie du
spuckst, welche Sprache du benutzt.
AUTOMATISCHE
ABFERTIGUNG
Nadine, ein
humanoider
Roboter,
arbeitet als
Rezeptionistin.
Mensch und
Maschine teilen
ihren Alltag: ln
Hotels bringen
die mechani
schen Ge
schöpfe Snacks,
in Kliniken
massieren sie
dank sanfter
Messfühler
Wir entscheiden, was richtig ist. Egal,
was die Leute denken."
Zwar ist Kaugummi seit 2004 wieder
im Handel -wenn auch nur "zu thera
peutischen Zwecken" in Apotheken.
Doch noch immer steht Singapur im
Pressefreiheits-Ranking von "Reporter
ohne Grenzen" unter 180 Ländern auf
Platz 151. Werden unliebsame Websites
lahmgelegt, hier ein kritischer Perfor
mance-Künstler verhaftet, dort ein An
walt für ein Gedicht gegen die Todes
strafe vor Gericht gezerrt. Noch immer
gibt es für schwulen Sex
bis zu zwei Jahre Gefäng
nis, für die Überziehung
der Aufenthaltserlaubnis
Prügel mit dem Rattan
stock und für Drogenhan
del den Strick. Dafür ist
Singapur stolz auf seine
niedrige Kriminalitätsrate.
ENN DAS LAND funktio
niert. Es funktioniert wie
eines dieser selbstfahren
den Autos, bei deren Durch
setzung Singapur natürlich ebenfalls
weit vorn liegt: Es bringt dich zuverläs
sig von A nach B -doch bitte versuch
nicht, ihm ins Steuer zu greifen.
Und "solange das Land funktioniert",
seufzt die 24-jährige Studentin im Hong
Lim Park, "interessieren die Leute sich
nicht für Menschenrechte."
Deshalb sind es auch nur ein gutes
Dutzend singapurische Bürger, zusam
mengetrommelt über Facebook und
Whatsapp, die sich mit ihr abends um
halb acht auf der Wiese im Park ver
sammeln- zur Mahnwache für den Ma
laysier Prabu Pathmanatham, der im
Morgengrauen wegen Drogenhandels
gehängt werden soll.
Im Jahr 2000 hat die Regierung das
winzige Grün zur "Speakers' Corner"
erklärt, zum landesweit einzigen Reser
vat der freien Rede -ein Fremdkörper,
so wie die Raucher-Lounge im Flugha
fen. Auch diese Freiheit hat natürlich
Grenzen: Nur Singapurer Bürger dür
fen sie wahrnehmen. Und jede Aktion
muss vorher bei der Parkverwaltung
beantragt werden -mit ungewisser
Ausichtauf Erfolg.
GEO 09 2019