Neue Zürcher Zeitung - 08.09.2019

(John Hannent) #1

19


vomSihlquai


ILLUSTRATION: MELK THALMANN

ollt einewahre Mordserie auf: ZehnFrauen sindvom Zürcher Sihlquaiverschwunden – der oder dieTäter wurden nie gefasst.


2018 wurden
nur 47 von 50
Tötungsdelik-
ten geklärt.
Jedes Jahr
kommen
mehrereFälle
hinzu, die nicht
gelöst werden
können.

kaltwerden lassen – dann braucht es Spezial­
einheiten, die sich ausschliesslich darum
kümmern.» Dass sie geschaffen werden,
glaubt Niggli indes nicht.«Weil sie nicht gratis
zu haben sind;Gerechtigkeit und Strafverfol­
gungkosten etwas.»Zwar würde jeder sagen,
man sollte alteFälle klären – dochkeinerwol­
le dafür bezahlen.

Nach 30Jahren istein Mordverjährt
Es gibt noch einen anderenPunkt, in dem sich
dieSchweizvon fast allen europäischen Staa­
ten unterscheidet:Mordverjährt.Während in
den meisten umliegendenLändernTötungs­
delikte bis zumTode desTäters verfolgtwer­
denkönnen, kann in derSchweiz einMörder
nicht für seineTat bestraftwerden,wenn sie
mehr als 30Jahre zurückliegt.Bei vorsätz­
licherTötung beläuft sich dieFrist sogar nur
auf 15Jahre. Gleichzeitig läuft auch dieAufbe­
wahrungsfrist der Unterlagen ab: Die Akten
einesTötungsdeliktes,geklärt oder ungeklärt,

werden nach 30Jahrengelöscht. Nur bei be­
sonderenFällengehen sie ins Staatsarchiv.
DieAufhebung derVerjährungvon Tö­
tungsdeliktenwird all e paarJahrewiedervon
einemPolitiker auf dieAgendagesetzt, stets
ohne Erfolg.Der Bundesrat beruft sich «auf
dasRecht aufVergebung undVergessen und
auf die heilendeWirkung des Zeitablaufs».
Das Interesse des Staates an derRechtsver­
folgung erlösche mit demLaufe der Zeit, das
Vergeltungsbedürfnis nehme ab.
«Man muss sich sehr gut überlegen, ob man
eine Unverjährbarkeitwill», sagt auch Marcel
Niggli. «DerMensch, der als 20-Jährigertötet,
ist nicht mehr der gleicheMensch,wenn er 30
Jahre später derTat überführtwird.» Niggli
meint, dass dieVerjährung der schweizeri­
schenKultur entspricht – dass etwas, das sehr
langezurückliegt, auch einmalvorbei und
vergessen sein darf. «Mit der Unverjährbarkeit
würdenwir zudem einVersprechen abgeben,
daswir nicht haltenkönnen», sagt Niggli.

Am 17. September um20 Uhr
können Sie an einem Anlass im
Zürcher Kulturhaus Kosmos die
Autoren und die Protagonisten
von «Sihlquai» live erleben. Tickets
unternzz.ch/live

EineReportage zumHören über
ein wahresSchweizerVerbre­
chen: Das war dieIdee, die am
Anfang stand. DasFormat nennt
sichPodcast und steht fürAudio­
Sendungen, die man übers Inter­
net hören oder herunterladen
kann.
AufwendigePodcasts über
ungelösteVerbrechen sindvor
allem in Amerika und England
ein grosser Erfolg. DieJournalis­
tin und Krimiautorin Christine
Brand, derPodcast­Produzent
ThisWachter und derSound­
Designer SimonMeyer haben
in den letztenMonaten für die
«NZZ amSonntag» eineSerie
produziert, die an dieseVor­
bilder anlehnt. IhrPodcast mit
dem Titel «Sihlquai» ist ab sofort
zu hören auf:


  • nzz.as/sihlquai

  • Podcast-Plattformen
    DieWahl fiel auf denFall von
    Heidi K., die 2004 am ehemali­
    gen Drogenstrich am Zürcher
    Sihlquaiverschwand.Während
    derRecherche stieg derFahnder
    AlainLoretan ins Archiv, und es
    zeigte sich: Hier handelte es sich
    nicht um einen Einzelfall, son­
    dern um eineSerievon zehn
    Tötungsdelikten anProstituier­
    ten. DasBesondere an«Sihlquai»
    ist, dass sich die Kantonspolizei
    Zürich bereit erklärt hat mitzu­
    wirken. Sie hat dieHoffnung,
    dass sich neue Hinweise erge­
    ben, die helfen, denFall zu
    lösen.Für dieAudio­Aufnahmen
    fuhren diePodcast­Reporter mit
    AlainLoretan an den Ort, an dem
    dieFrauenverschwanden. Sie
    begleiteten den heute pensio­


EinKrimin alfall


zumHören


Mordserie in Zürich


nierten StaatsanwaltJaroslav
Jokl zu jenerScheune, bei der
ein Opfertot aufgefunden
wurde. Sie besuchten den Krimi­
nalanalyst Hans­PeterMeister
und liessen sichvon derSozial­
arbeiterin UrsulaKocherzeigen,
wodie Sexarbeiterinnen heute
anschaffen.
Schwieriger war es, Angehö­
rige der Opfer zu finden, die
bereit waren, über das Erlebte zu
erzählen. Die heute erwachse­
nen Kinder des Opfers Irene H.
wollten nicht mehr über das
Geschehenereden, auch ein
Interview mit einem Brudervon
Heidi K. kam nicht zustande.
Umso eindrücklicher waren
schliesslich dieAufnahmen mit
Marco Hauenstein, der über
seine Suche nach seinerMutter
berichtet, dieverschwand, als er
dreiJahre alt war.
16 StundenGesprächsaufnah­
men kamen zusammen, die
Transkripte füllten143 Seiten.
Daraus produzierte dasTeam
fünfFolgen à 15 bis 20 Minuten,
die mitKommentaren und
komponiertenMusiksequenzen
gestaltetwurden.(fur.)

«Denn dieWahrscheinlichkeit, nach 20 oder
25 Jahren einDelikt strafrechtlich nachweisen
zukönnen, ist wahnsinnig klein.»
Doch nicht immer arbeitet die Zeitgegen
die Ermittler. Manchmal kann sie auch helfen;
wenn Zeugen, diegeschwiegen haben, plötz­
lichredenwollen oderkönnen,weil sichviel­
leicht in ihrerBeziehung etwasgeändert hat
oder ihnen nicht klar war, dass sie etwas
Wichtigeswissen.Sohat letzteWoche einBei­
trag über einen ungeklärtenMordfall aus dem
Kanton Schwyzin der TV-Sendung «Akten­
zeichen XY» zu mehr als zwei DutzendMel­
dungen geführt – 15Jahre nach derTat.
Auch die Entwicklung der Kriminalistik
eröffnet denFahndern manchmal plötzlich
neueWege. In Zürichwurden 2007 alteFälle
neu auf DNA-Spuren untersucht,von denen
man in den achtzigerJahren noch nicht ein­
mal ahnte, dass es sie gibt.Auch der jüngste
Entscheidvon Bundesrätin KarinKeller­Sut­
ter, dasskünftig bei schweren Verbrechen die

DNA breiter analysiertwerden darf, dürfte in
Bezug auf einige alteFälle interessant sein.
Demnachkönnten aus einer DNA-Spur nicht
nur dasGeschlecht, sondern auch äussere
Merkmalewie Haar­ undAugenfarbe, die
regionaleHerkunft und das Alter herausge­
lesenwerden.
In derMordserie um dieverschwundenen
Drogenprostituierten, die in derAudiorepor­
tage«Sihlquai» neu aufgerolltwird, sind zwei
derTötungsdelikte bereitsverjährt. EinFall ist
geklärt. In siebenFällenkönnte derTäter noch
immer überführtwerden. «Es wäre schön,
wennwir aufgrund derReportage den einen
oder den anderenFall mit Hilfevon neuen
Hinweisen aus derBevölkerungvielleicht
doch noch klärenkönnten», sagt derFahnder
AlainLoretan.Falls sich jemand meldet, der
etwasweiss, undfalls sich neue Ansätze erge­
ben, dannwürden die Akten derFällewieder
geöffnet.Denn jeder ungeklärteMordist ein
Verbrechen, das niemals endet.

In deeen


Nationalrat


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David ZuberbühlerAR


Liste (^4) bisher
HansjörgBrunnerTG
bisher Liste^5
Diana GutjahrTG
bisher Liste^2
Marcel FringerSH
Liste 2
Andreas ZülligGR

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