Der Stern - 12.09.2019

(Sean Pound) #1
FOTOS: CHRISTIAN BÖCK/SCHAPOWALOW; SARA URBAINCZYK; FRANK EXSS/PICTURE ALLIANCE

auch im Inselinnern, wo man herrlich Rad
fahren kann, durch schmucke Dörfer mit
uralten Kirchen und Reetdachhäusern,
vorbei an Wiesen und Feldern.
Und weil Föhr so nah liegt: Von Ham-
burg brauchen wir zwei Stunden mit dem
Auto nach Dagebüll, eine weitere Stunde
mit der Fähre nach Wyk, schon sind wir da.
Die Erholung beginnt bereits mit der
Überfahrt. Langsam gleitet die Fähre durch
die flache Nordsee. Anfangs markieren
Zweige, die an Reisigbesen erinnern, die
Fahrrinne. „Papa, sind da Hexen ins Was-
ser gefallen?“, fragt Henry. Die Idee gefällt
mir. „Vielleicht“, antworte ich. Wer kann das
schon so genau sagen. Bei Ebbe läuft die
Fähre manchmal auf Grund. Dann wartet
man eben ein paar Stunden, bis das Wasser
tief genug ist, um weiterzufahren.
Auch das Leben auf Föhr ist herrlich ver-
langsamt, reduziert, überschaubar. Bereits
meine Eltern wussten das zu schätzen,
in den 70er Jahren sind sie mit meinem
Bruder und mir nach Föhr gereist, um
Momente für die Ewigkeit zu sammeln.
Strand, Meer, Watt, mehr braucht man
bis heute nicht, um glücklich zu sein. Wenn
wir mal den Strandkorb verlassen, fahren
wir mit unseren Leihrädern über die Insel.
Halten auf dem Ziegenhof Matzen, wo wir
Käse kaufen und Tiere streicheln. Beobach-
ten, wie Propellermaschinen auf dem klei-
nen Flugplatz bei Wyk starten. Besuchen
eines der vielen Feuerwehrfeste in den
Dörfern. Kaufen ein in Nieblum: Brötchen
bei Bäcker Hansen, Fisch bei Käpt’n Nolte
oder Fleisch bei Monika Kopp. Das alles
fühlt sich gut an. Weil es gut ist.
Endlich haben wir Zeit füreinander.
Auch Henry genießt es, aus seinem Alltag
auszubrechen und den ganzen Tag drau-
ßen zu spielen: am Strand, im Watt, auf

dem Spielplatz am Dorfteich von Nieblum.
Der 600-Einwohner-Ort gilt als einer der
schönsten Norddeutschlands. Viele der
alten Friesenhäuser gehörten einst See-
fahrern, die auf Walfangschiffen ein Vermö-
gen verdienten – eine harte, gefährliche
Arbeit. Die Grabsteine auf dem Friedhof
von St. Johannis geben davon Zeugnis.
Bei aller Idylle hat Föhr mit Problemen
zu kämpfen, die man von anderen Nordsee-
inseln kennt. Mehr als 210 000 Übernach-
tungsgäste kommen jährlich hierher, die
meisten im Sommer, dann wird es voll in
den Dörfern. Wohl nur noch jedes zweite
Haus gehört einem Insulaner, viele Gebäude
werden als Ferienunterkunft vermietet. Das
macht den Wohnraum auf der Insel teuer.
Und im Winter stehen zahlreiche Häuser
leer. Kalte Betten, nennen das Touristiker.
Doch es gibt sie noch, die Einheimischen,
die als Handwerker, Bäcker, Bauern, Fischer
arbeiten. Die Föhrer halten zusammen und
tun viel dafür, dass das Gemeinschafts-
leben funktioniert. Sie engagieren sich in
Vereinen wie der Freiwilligen Feuerwehr,
treffen sich zum Ringreiten, auf Heimat-
abenden oder beim Biikebrennen, dem
Volksfest mit Strandfeuer am 21. Februar.

Expedition ins Watt


Auf Föhr lebt man mit den Traditionen –
und den Gezeiten. Bei Ebbe weicht das Was-
ser kilometerweit zurück und gibt den Mee-
resboden frei. Dann weitet sich die Fläche
von Föhr, und man kann bis zur Nachbar-
insel Amrum laufen. Durch Wasserbecken
und Priele, über nassen, wellenförmigen
Sand: „Matschepampe“, wie Henry es nennt.
Und die will er jetzt erkunden, so wie je-
den Tag bei Ebbe, mit Hannah, Sara und
mir. „Du nimmst Schaufel und Eimer, ich
den Kescher“, sagt Hannah. „Okay“, antwor-
tet Henry. Ich erkenne meinen Sohn nicht
wieder. Wenn ich ihm etwas sage, täuscht
er meist akute Taubheit vor. Bei der Sechs-
jährigen gehorcht er aufs Wort.
Im Watt zu gehen fühlt sich an wie Tau-
chen ohne Wasser: Wir laufen dort, wo sonst
Fische, Kegelrobben, Seehunde schwimmen.
Wie aufregend! Hunderte Pflanzen- und
Tierarten leben im schleswig-holsteini-
schen Wattenmeer, das seit 2009 Unesco-
Weltnaturerbe ist. Manche Tiere sind
Henry nicht geheuer. Wenn seine Angst vor
Krebsen zu groß wird, bleibt er stehen und
möchte getragen werden. „Die zwicken
mich in den Fuß“, sagt er. Meinem Einwand,
dass Krebse das niemals tun würden, weil
er auf sie wie ein Riese wirke, widerspricht
Henry vehement: „Doch! Immer!“ Nichts
kann ihn von seiner Meinung abbringen.
Deswegen mag Henry nur tote Krebse.

Zwischenstopp: die Eisdiele „Cappuccino“
in Nieblum (o.). Strandfreunde: Familie
Vossen aus Meerbusch und Familie
Herbst aus Hamburg (M.). Friesendom:
Die Kirche St. Johannis wurde im


  1. Jahr hundert erbaut (u.)


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REISE

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