Die Zeit - 22.08.2019

(Nora) #1

6 POLITIK 22. August 2019 DIE ZEIT No 35


W


ährend Indien vor weni-
gen tagen 73 Jahre un-
abhängigkeit von der
britischen Herrschaft fei-
erte, wuselten zerlumpte
Kinder durch den Ver-
kehr von Delhi. sie ver-
kauften übergroße Flaggen und souvenirs, auf
denen »Mera Bharat Mahan« stand, »Mein Indien
ist groß«. Ehrlich gesagt: Es fällt im Augenblick
schwer, diese gefühle zu teilen, denn es hat ganz
den Anschein, als habe unsere Regierung sämtliche
Hemmungen fahren lassen.
Vor Kurzem hat sie die Region Kaschmir in ein
gewaltiges gefangenenlager verwandelt. sieben
Millionen Kaschmirer wurden unter Hausarrest
gestellt, sie wurden vom Internet abgeschnitten, ihre
telefonleitungen wurden gekappt. selbst pro-indische
Politiker in Kaschmir wurden festgehalten. Dass im
Informationszeitalter eine Regierung dermaßen leicht
und über mehrere tage hinweg eine ganze Bevölke-
rung vom Rest der Welt isolieren kann, sagt etwas
Ernstes über die Zeiten, auf die wir zusteuern.
schon bevor für diese potenzielle Krisensitua tion
45.000 soldaten zusätzlich eingeflogen wurden, war
Kaschmir eines der am stärksten, wenn nicht das
am stärksten militarisierte gebiet der Welt. Über
eine halbe Million soldaten sind dort stationiert,
um dem entgegenzutreten, was, wie selbst die
Armee mittlerweile einräumt, nur eine Handvoll
»terroristen« ist.
In dem 30 Jahre währenden Konflikt in der Region
wurden geschätzte 70.000 Menschen getötet, Zivilis-
ten genauso wie Milizionäre und sicherheitskräfte.
tausende sind »verschwunden«, Zehntausende haben
die Folterkammern durchlaufen, die das tal wie ein
Netzwerk von kleinen Abu ghraibs überziehen. Hun-
derte teenager haben allein in den letzten Jahren ihr
Augenlicht durch die gummigeschosse verloren, die
für das sicherheits-Establishment inzwischen das
Mittel der Wahl darstellen, wenn es um die Kontrolle
von demonstrierenden Menschenmengen geht.
In seiner ersten Amtszeit als Indiens Premier-
minister hat Narendra Modi mit seinen Hardliner-
Methoden die gewalt in Kaschmir angefacht. seit
zwei Monaten läuft nun Modis zweite Amtszeit, und
sein Kabinett hat gerade ein brennendes streichholz
in ein Pulverfass geworfen.
Am 5. August verstieß die Regierung einseitig
gegen die grundbedingungen des Beitrittsabkom-
mens von 1947, mit dem sich der ehemalige Fürsten-
staat Jammu und Kaschmir Indien angeschlossen hat.
Indiens Innenminister stellte im Parlament den
Antrag, Artikel 370 der indischen Verfassung zu
streichen, jenen Artikel, der festlegt, welche rechtli-
chen Verpflichtungen das Beitrittsabkommen für
Indien mit sich bringt. Die Opposition fügte sich.
Am nächsten Abend hatten sowohl das Oberhaus wie
auch das unterhaus den »Jammu and Kashmir Re-
organization Act 2019« verabschiedet. Das gesetz
teilt den Bundesstaat in zwei teile und nimmt der
Region Jammu und Kaschmir ihren sonderstatus –
und damit das Recht auf eine eigene Verfassung und
eine eigene Flagge. Indiens Bürger können fortan in
ihrem neuen Herrschaftsbereich Land kaufen und
sich dort niederlassen. Indiens reichster Industrieller,


Mukesh Ambani von Reliance Industries, hat bereits
mehrere »Offerten« in Aussicht gestellt. Man mag
sich kaum vorstellen, was dies für die fragile umwelt
der Himalaya-Region von Ladakh und Kaschmir
bedeuten mag, für das Land der riesigen gletscher,
der Bergseen und von fünf großen Flüssen.
Dass der bisherige Bundesstaat Jammu und
Kaschmir als Rechtsgebilde aufgelöst wurde, bedeu-
tet auch die Aufhebung von Artikel 35A, der den
Einwohnern Rechte und Privilegien zugestand, die
sie zu Herren ihres eigenen territoriums machte. Man
muss es klar sagen: Dass Kaschmir jetzt »open for
business« ist, kann auch den Bau von siedlungen im
israelischen oder Bevölkerungsaustausch im tibeti-
schen stil bedeuten.
Als sich die Nachricht von diesem neuen gesetz
verbreitete, jubelten indische Nationalisten jeglicher
Couleur. Die Mainstreammedien machten größten-
teils tiefe Verbeugungen. Am lautesten dröhnte aller-
dings die tödliche stille, die von den patrouillierten,
abgeriegelten straßen Kaschmirs ausging und von den
geschätzt sieben Millionen eingesperrten und ernied-
rigten Menschen, die, mit stacheldraht umgeben und
von Drohnen bespitzelt, unter einem kompletten
Kommunikations-Blackout leben.
Kaschmir sei die unerledigte Aufgabe, die aus der
teilung von 1947 übrig geblieben sei, heißt es oft.
Damals zogen die Briten mit unfassbarer sorglosigkeit
eine grenze durch den subkontinent, in dem Ver-
such, ihn in ein »muslimisches« Pakistan und ein
»säkulares« Indien zu zerlegen – wobei Indien im
Laufe der Jahre das Recht, sich säkular zu nennen,
fast völlig eingebüßt hat. Jammu und Kaschmir lag
genau auf der Bruchlinie zwischen Indien und Pakistan.
Das territorium wurde schließlich zwischen den beiden
verfeindeten Ländern aufgeteilt, die seither bereits drei
Kriege um die Region geführt haben.
Die Wirren und Wendungen zusammenzufassen,
die den heutigen stand der Dinge herbeigeführt
haben, wäre ein verwegenes unterfangen. Auf der
indischen seite von Jammu und Kaschmir kam es nach
einer langen Vorgeschichte von Wahlmanipulationen
1987 zur entscheidenden Wende, als Neu-Delhi die
Wahlen in dem Bundesstaat eklatant fälschte. Bis 1989
wuchsen sich die bis dahin größtenteils gewaltlosen
Forderungen nach selbstbestimmung zu einem voll
entwickelten Befreiungskampf aus. Hunderttausende
Menschen strömten auf die straßen, unzählige wurden
in Massaker um Massaker niedergemäht.
schon bald drängten sich im Kaschmirtal Militan-
te, Kaschmirer von beiden seiten der grenze genauso
wie ausländische Kämpfer, die von Pakistan ausgebildet
und bewaffnet wurden. Die Bevölkerung Kaschmirs
nahm sie größtenteils mit offenen Armen auf.
Erstes Opfer des Aufstands waren die uralten
engen Beziehungen zwischen Kaschmirs Muslimen
und der winzigen hinduistischen Minderheit, die in
der Region als Pandits bezeichnet werden. Die
Kashmiri Pandit sangharsh samiti (KPss), eine
Organisation kaschmirischer Pandits, sagt, zu Beginn
der gewalt seien etwa 400 Pandits von militanten
Elementen angegriffen und getötet worden. Nach
schätzungen der Regierung verließen bis Ende 1990
etwa 25.000 Pandit-Familien das tal.
sie verloren ihr Zuhause, ihre Heimat und alles,
was sie besaßen. tausende folgten in den nächsten

Jahren – nahezu alle kaschmirischen Hindus. Im
weiteren Verlauf des Konflikts sind der KPss zufolge
neben Zehntausenden Muslimen auch 650 Pandits
getötet worden.
seitdem leben Pandits in großen Mengen in
elenden Flüchtlingslagern in der stadt Jammu. 30
Jahre sind inzwischen vergangen, aber eine indische
Regierung nach der anderen unternahm keinerlei
Anstrengung, ihnen zu einer Rückkehr in die Heimat
zu verhelfen. stattdessen zog es Neu-Delhi vor, die
geflüchteten in der schwebe zu lassen und ihre Wut
und ihre verständliche Verbitterung zu einem giftigen
gebräu zu vermengen, mit dem sich Indiens gefähr-
liches und extrem wirksames nationalistisches Nar-
rativ zum thema Kaschmir nähren lässt. Hier wurde
ein einzelner Aspekt einer enormen tragödie clever
und lärmend dafür benutzt, den restlichen Horror
zu verschleiern.
Das Inkrafttreten des Jammu and Kashmir Reor-
ganization Act 2019 hat die tragödie noch verschlim-
mert. Nicht nur das gesetz selbst, auch die Art und
Weise, wie es verabschiedet wurde, ist wahrhaft
schändlich. seinen Anfang nahm alles in der letzten
Juli-Woche, als Zehntausende zusätzliche soldaten
eilig nach Kaschmir verlegt wurden. Die Begründung
lautete, dass für die jährliche Pilgerreise von Hindus
zur Amarnath-Höhle in den Bergen Kaschmirs eine
von Pakistan ausgehende »terrorgefahr« bestehe.
Am 1. August meldeten einige indische Fernseh-
sender, an der Pilgerstrecke sei eine Landmine mit
Markierungen der pakistanischen Armee gefunden
worden. Am 2. August bat die Regierung sämtliche
Pilger (und sogar touristen, die sich kilometerweit
von der Pilgerstrecke aufhielten), das tal unverzüglich
zu verlassen. Es kam zu einer panikartigen Flucht.
Am 3. August waren die touristen und Pilger abge-
zogen, und die sicherheitskräfte hatten stellung im
tal bezogen.
Am 8. August, nach vier tagen Abriegelung, trat
Narendra Modi im Fernsehen auf und wandte sich

an das angeblich feiernde Indien und das eingeker-
kerte Kaschmir. Er klang wie ein verwandelter Mann.
Verschwunden waren seine übliche Aggressivität und
sein schriller, vorwurfsvoller ton. stattdessen sprach
er mit der sanftheit einer jungen Mutter. Es ist sein
bislang unheimlichster Avatar.
seine stimme zitterte, und seine Augen glänzten
mit unvergossenen tränen, während er die segnun-
gen aufzählte, die nun auf die Menschen des ehema-
ligen Bundesstaats Jammu und Kaschmir niedergehen
würden, nachdem sie ihre alte, korrupte Führung
losgeworden sind und direkt von Neu-Delhi regiert
würden. Er beschwor die Wunder der indischen
Moderne, als würde er einen Haufen feudaler Bauern
belehren, die gerade aus einer Zeitkapsel aufgetaucht
waren. Er sagte, dass künftig in dem grünen tal
wieder Bollywood-Filme gedreht werden würden.
Er erklärte nicht, warum die Kaschmirer einge-
sperrt und von sämtlichen Kommunikationskanälen
abgeschnitten werden mussten, während er seine
erhebende Rede hielt. Er erklärte nicht, warum die
Entscheidung, die ihnen angeblich so zugutekam,
ohne vorherige Rücksprache mit ihnen gefällt wurde.
Er sagte nicht, wie ein Volk, das unter militärischer
Besetzung lebt, in den genuss der großartigen gaben
der indischen Demokratie kommen würde. Er dachte
daran, vorab grüße für das wenige tage entfernte
Opferfest auszurichten, aber er versprach nicht, dass
der Quarantänezustand rechtzeitig für den Feiertag
aufgehoben werden würde. Wurde er auch nicht.
Am nächsten Morgen schwärmten die indischen
Zeitungen und mehrere liberale Kommentatoren,
darunter auch einige der schärfsten Kritiker des Pre-
miers, von seiner bewegenden Rede. Wie ein wahres
Kolonialvolk legen viele Inder, die extrem wachsam
sind, was Eingriffe in ihre eigenen Rechte und Frei-
heiten betrifft, völlig andere Maßstäbe an, wenn es
um Kaschmirer geht.
Irgendwann wird die Kommunikationsblockade
enden. Die gewalt, die dann aus Kaschmir dringen
wird, wird unvermeidlich auf Indien übergreifen. sie
wird genutzt werden. sie wird dazu dienen, die Feind-
seligkeit gegenüber Indiens Muslimen weiter anzu-
fachen. schon heute werden sie verteufelt, ghettoi-
siert, die wirtschaftliche Leiter hinabgestoßen und


  • mit furchteinflößender Regelmäßigkeit – gelyncht.
    Der staat wird die gelegenheit nutzen, sich auch
    andere vorzunehmen – Aktivisten, Anwälte, Künstler,
    studenten, Intellektuelle, Journalisten –, die mutig
    und offen protestiert haben.
    gefahr wird aus vielen Richtungen kommen. In-
    diens einflussreichste Organisation ist die rechtsextre-
    me hindu-nationalistische Organisation Rss (Rasht-
    riya swayamsevak sangh, »Nationale Frei wil li gen-
    orga ni sa tion«). Zu den über 600.000 Mitgliedern
    zählen Narendra Modi und viele seiner Minister. Der
    Rss verfügt über eine trainierte Miliz, inspiriert von
    Mussolinis schwarzhemden. Mit jedem neuen tag
    bekommt der Rss alle Institutionen des indischen
    staats fester in den griff. In Wahrheit hat er den
    Punkt erreicht, wo er mehr oder weniger der staat ist.
    Die traditionellen Feinde des Rss sind Muslime,
    Christen und Kommunisten. Intellektuelle und Aka-
    demiker gelten auch als große Bedrohung.
    Am 1. August wurde das ohnehin bereits drako-
    nische »gesetz zur Verhinderung gesetzeswidriger


Aktivitäten« so ausgeweitet, dass als »terroristisch«
künftig nicht nur Organisationen, sondern auch
einzelne Personen gelten können. Der Zusatz erlaubt
es der Regierung, jede beliebige Person ohne rechts-
staatliches Verfahren als terroristen einzustufen.
Welche Art Leute nun ins Visier rücken, wurde
deutlich, als unser unheimlicher Innenminister Amit
shah im Parlament erklärte: »Es sind nicht Waffen,
die den terrorismus verursachen, die Wurzel des
terrorismus ist vielmehr die Pro pa gan da, die zu seiner
Verbreitung betrieben wird ... und ich glaube nicht,
dass ein Mitglied des Parlaments ein Problem damit
hätte, wenn alle solchen Individuen zu terroristen
erklärt würden.«
Mehrere von uns fühlten, wie uns seine kalten
Augen direkt ansahen. Zu wissen, dass er in seinem
Heimatstaat gujarat als Hauptangeklagter in einer
Reihe von Mordfällen im gefängnis gesessen hat,
machte die sache nicht besser. Richter Brijgopal
Harkishen Loya starb während des Verfahrens gegen
shah auf rätselhafte Weise, sein Nachfolger sprach
shah sehr rasch frei. Von alledem ermutigt, haben in
Hunderten indischen Nachrichtensendern ultra-
rechte Fernsehmoderatoren begonnen, offen Dissi-
denten anzuprangern, wilde Vorwürfe zu erheben
und ihre Verhaftung – oder schlimmeres – zu fordern.
»Vom Fernsehen gelyncht« dürfte sich zu einem
neuen politischen Phänomen in Indien entwickeln.
Während die Welt zusieht, wird in aller Eile die
Architektur des indischen Faschismus errichtet.
Ich hatte für den 28. Juli einen Flug nach Kasch-
mir gebucht, wo ich Freunde besuchen wollte. schon
damals kursierten gerüchte, dass Probleme bevor-
stünden und truppen eingeflogen würden. Ich war
hin- und hergerissen, ob ich fahren sollte. Ein Freund
und ich saßen bei mir zu Hause und unterhielten uns
darüber. Er ist ein leitender Arzt in einem staatlichen
Krankenhaus und hat sein Leben dem Dienst am
gemeinwohl gewidmet, nebenbei ist er Muslim. Wir
sprachen über das neue Phänomen, dass Mobs Leute
einkreisen, besonders Muslime, und sie zwingen, »Jai
Shri Ram!« (»sieg Lord Ram!«, eine religiöse Hindu-
Parole) zu rufen. Wenn Kaschmir von sicherheits-
kräften besetzt ist, ist Indien vom Mob besetzt.
Der Freund sagte, er habe auch darüber nachge-
dacht, denn er fahre häufig auf der Autobahn aus
Delhi heraus zu seiner Familie, die einige stunden
entfernt lebt. »Ich könnte ohne Weiteres angehalten
werden«, sagte er. »Dann musst du es rufen«, sagte
ich. »Du musst überleben.« – »Das werde ich nicht«,
sagte er, »denn sie werden mich so oder so töten. Das
haben sie auch mit tabrez Ansari getan« – einem
jungen Muslim, der im Juni gelyncht wurde.
solche gespräche führen wir in Indien, während
wir darauf warten, dass Kaschmir sprechen wird. und
sprechen wird es ganz sicher.

Aus dem Englischen von Matthias Schulz

© 2019 the New York times Company

Ein Mädchen auf einer Hügelkuppe am Rand von Srinagar, der wichtigsten Stadt in Kaschmir

Paradies unter Hausarrest


Indiens bekannteste schriftstellerin ARUNDHATI ROY über das unrecht, das Kaschmir zugefügt wird – und über das


böse Omen, das diese Politik für Demokratie und Liberalität in ihrem Land bedeutet


Arundhati Roy wurde mit
ihrem Roman »Der gott der
kleinen Dinge« berühmt.
Zuletzt erschien »Das Ministerium
des äußersten glücks«

Tibet

PA K ISTA N

INDIEN

Jammu
und
Kaschmir

Ladakh

von Pakistan
kontrolliert, von
Indien beansprucht
von Indien kontrolliert, bisheriger Bundesstaat
Jammu und Kaschmir (J&K), neuerdings
zwei »Union Territories« (J&K und Ladakh)

Region Kaschmir

keine
definierte
Grenze

Nördliche
Territorien

Srinagar
Islama-
bad

von Indien
beansprucht,
von China
verwaltet

ZEIT-GRAFIK

100 km

von China
beansprucht

CHINA

Konfliktregion Kaschmir


»Kontrolllinie«, faktische
Grenze zwischen Indien
und Pakistan

Jammu
und
Kaschmir

Ladakh

keine
definierte
Grenze

Nördliche
Territorien

Fotos: Mukhtar Khan/AP/dpa (o.); David Levenson/Getty Images (Ausschnitt, u.)
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