REZENSIONEN
Chemie oder auch darüber, in welche
Männer ihre Freundin verknallt ist.
Das mögen manche Leser(innen) fehl
am Platz finden, doch ist zu beden
ken, dass die Autorin erfolgreiche
Youtuberin ist und ein Großteil ihres
Publikums aus Mädchen im Teen
ager alter besteht. Ihr Wissenschafts
kanal »maiLab« hat inzwischen fast
350 000 überwiegend junge Abon
nent(inn)en, und das ist eine Zielgrup
pe, die sich eben unter anderem dafür
interessiert, dass Mais Freundin
Christine die übertriebene Angst ihres
Freundes vor Fluoriden doof findet,
wie man Ärger auf dem Universitäts
Campus vermeidet oder wie lange es
dauert, ein Youtubevideo zu drehen.
Oft wirkt es reichlich übertrieben,
wenn die Autorin von ihrer Begeiste
rung für Chemie schwärmt. Hier hat
vielleicht eine gewisse amerikanische
Theatralik in Harvard abgefärbt, wo
NguyenKim promoviert hat, oder
auch die plakative Manieriertheit, die
bei Youtuber(inne)n typisch ist. Wer
jedoch über die geschwätzigen Teile
hinwegsehen kann, findet ein unter
haltsames Chemiebuch vor, das am
Ende sogar die Geheimnisse eines
perfekten französischen Schokoladen
kuchens verrät. Natürlich mit allen
chemischen Details, darunter der
Strukturformel des Schokoladenbe
standteils Theobromin.
Das Buch gibt es zudem als sechs
stündiges Hörbuch, vorgelesen von
der Autorin. Mit seinen plaudernden
Passagen und der Mischung aus
Faktischem und Anekdotischem er
weist es sich als unterhaltsam und
eignet sich etwa für längere Bahn
oder Autofahrten.
Die Rezensentin Katja Engel ist promovierte
Ingenieurin der Werkstoffwissenschaften
und Wissenschaftsjournalistin.
MORALPHILOSOPHIE
ANLASS
ZU ZUVERSICHT?
Wissenschaft und Technik ent-
wickeln sich ständig weiter.
Machen wir auch in moralischer
Hinsicht Fortschritte?
Da der normale Alltag keine Nach
richt wert ist, dominieren in den
Medien die sensationellen Ausnahmen
wie Krieg und Verbrechen, Gewalt und
amoralische Extravaganzen. Daraus
entsteht der Eindruck, überall nähmen
die Untaten zu und es herrsche ein
allgemeiner sittlicher Verfall. Anhand
von Fakten tritt der Philosoph Michael
Shermer den Gegenbeweis an.
Seine Grundthese: Seit 500 Jahren,
als mit der europäischen Aufklärung
der Siegeszug von Wissenschaft und
Technik die Welt zu erfassen begann,
hat die Menschheit auch in morali
scher Hinsicht enorme Fortschritte
gemacht. Dank der Zivilisierung blei
ben Kooperation und Altruismus nicht
mehr auf die Familie, den Klan, den
Stamm oder die Ethnie beschränkt,
sondern prägen ganze Nationen und
Staatenbünde. Tribale Konflikte sind
nicht mehr die Regel, Alltagsprobleme
werden fast immer friedlich – notfalls
vor Gericht – bereinigt. Gewaltverbre
chen, Mord und Totschlag werden
tendenziell seltener.
Darin sieht der Autor den Beweis,
dass die Menschheit in moralischer
Hinsicht immer »besser« wird. Zum
Beleg führt er diverse Fakten ins Feld;
viele sind überzeugend, nicht alle
unumstritten. So beruft er sich auf das
Buch »Gewalt: Eine neue Geschichte
der Menschheit« des amerikanischen
Evolutionspsychologen Steven Pinker.
Dieser behauptet einen generellen
Rückgang der Gewalt während der
Menschheitsgeschichte, ausgehend
von enorm hoch eingeschätzten Tö
tungsraten in archaischen Jägerund
SammlerKulturen gegenüber einer
vermeintlich wenig kriegerischen
Gegenwart. Doch die archäolo gischen
Funde lassen im Hinblick etwa auf die
Steinzeit auch viel weniger gewaltsame
Deutungen zu, und in der Gegenwart
herrscht zwar zwischen den Industrie
ländern prekärer Friede, doch in ärme
ren Weltregionen toben zahl reiche
blutige Konflikte.
Zumindest für den zivili satorischen
Fortschritt der Neuzeit in den Industrie
ländern kann Shermer positive Indizien
anführen. Doch was ist mit den techni
schen Massenmorden im 20. Jahrhun
dert? Bei deren Einschätzung wirkt
wohl Shermers amerikanische Prägung
mit: Die USA haben in den Weltkriegen
keine Verwüstung des eigenen Lands
erdulden müssen, sondern ausschließ
lich auf fremdem Boden die aggressi
ven Mächte Deutschland und Japan
niedergerungen – wenngleich unter
erheblichen Verlusten.
Überhaupt wirkt der Autor sehr
»amerikanisch«. In seiner Jugend hing
er einer evangelikalen Sekte an und
vertrat radikal libertäre Positionen,
lehnte also jede Einmischung des Staats
ins Wirtschaftsleben ab. Heute gibt er
die Zeitschrift »Skeptic« heraus und
argumentiert in seiner Kolumne für die
Zeitschrift »Scientific American« aufklä
rerisch und antireligiös. Ein Kapitel im
seinem Buch trägt den Titel »Warum
Religion keine Quelle der Moral ist«.
In den USA gilt Shermer damit wohl
als typischer »Liberal«, womit dort
jemand gemeint ist, den wir hier zu
Lande als eher links einstufen würden.
Sein Buch liefert interessante Fakten
zum Wandel moralischer Einstellungen
und zur Rolle der Gewalt in der Moder
ne. Zu der verlässlich edierten und gut
lesbar übersetzten deutschen Ausgabe
ist nur kritisch anzumerken, dass meh
rere der in den Anmerkungen angege
benen Links nicht mehr funktionieren.
Der Rezensent Michael Springer ist Physiker
und Mitarbeiter von »Spektrum der Wissen
schaft«.
Michael Shermer
DER MORA
LISCHE FORT
SCHRITT
Wie die Wissen-
schaft uns zu
besseren
Menschen macht
Alibri, Aschaffen-
burg 2019
565 S., € 29,–
Die Geheimnisse
eines Schokoladen
kuchens – natürlich
mit chemischen
Details